Mit dem Strom

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Die Lebenden sind nicht dazu gemacht sich den Tod vorzustellen. Man kann ihn nicht beschreiben, nur erleben. Das hatte auch er erfahren müssen. Was er war, was er tat, in welchem Zustand er war, das konnte einem Lebenden nicht erklärt werden.

Wer er war? Das ging irgendwann verloren. Es war auch niemand bei ihm den es hätte interessieren können. Hier war nicht mehr wichtig was oder wer man zu Lebzeiten gewesen war.

Oder zumindest war das seine Meinung gewesen. Denn seine Erinnerungen kamen Stück für Stück zurück.

Er war jemand gewesen der immer mit dem Strom geschwommen war, der sich von der Strömung hatte tragen lassen. Er war unter dem Namen Wolfgang Eisen in der DDR geboren und aufgewachsen, hatte die Schule besucht und sein Abitur gemacht. Er hatte nie besonders herausgestanden, weder im guten, noch im schlechten Sinne.

Dann war er vom Strom zum ersten Mal in einen Seitenarm des Flusses gespült worden. Man erkannte, dass er ein großes Talent für Magie besaß und lud ihn zur magischen Universität in Leipzig ein. Es war wesentlich mundaner gewesen als er es sich vorgestellt hatte. Er hatte seine Zeit in Hörsälen zugebracht, Vorträgen mit variierendem Interesse gelauscht, Zeit mit seinen Kommilitonen verbracht, in der Bibliothek gebüffelt und Prüfungen abgelegt. Das einzige was die Magierakademie von normalen Unis unterschieden hatte war der Stoff der gelehrt wurde, aber auch hier war wie bei den normalen Akademien mancher interessanter, mancher langweiliger. Er war vor allem von der ätherische Information fasziniert gewesen, gewissermaßen das aus dem sich das Bewusstsein und der Verstand aller lebenden Wesen zusammensetzte und aus dem sich die Seele aller Dinge aufbaute. Zu seinem Glück trug ihn der Strom in eine von ihm gewollte Richtung und er wurde irgendwann ein Großmeister auf dem Gebiet. Die Strömung hatte außerdem seine zukünftige Frau auf ihn zu getrieben. Es schien, als ob er auf dem Weg auf dem er sich befand sein Glück gefunden hatte.

Dann wurde er plötzlich in andere Gewässer gespült. Einer seiner Kollegen überredete ihn, eine ihm bis dahin unbekannte Einrichtung zu besuchen an der auch die Magie erforscht wurde. Er stellte zu spät fest, dass die Einrichtung Stasi gehörte.

Eine der Abteilungen, Abteilung XXV, machte ihm ein Angebot dass er nicht ablehnen konnte. Entweder er würde für sie arbeiten oder er würde als Spion ins Gefängnis gehen, da er nun den Standort und das Innenleben einer der Einrichtungen des Ministeriums für Staatssicherheit kannte. Außerdem drohte man ihm an, seine Frau als Mitwisserin nach Hoheneck zu verfrachten. Das war ein Schicksal, das er ihr auf jeden Fall ersparen wollte. Und so ließ er sich erneut vom Strom tragen, willigte ein und erhielt den Titel Magister Eisen.

Seine Moral wurde auf eine harte Probe gestellt, denn man zwang ihn zu erforschen wie man mit Toten sprach. Mit Leuten die er eigentlich hatte in Ruhe lassen wollen. Immerhin verbot die Akademie derartige Praktiken. Zu seinem Grauen war er erfolgreicher gewesen als es sich die Abteilung zu erhoffen gewagt hatte, wenn auch nur mit kürzlich Verstorbenen. Er hatte einen Weg gefunden, ihre Seelen einzufangen bevor sie sich verflüchtigten und konnte ihre Informationen auslesen. Er war fähig gewesen ihr ganzes Leben vor sich auszubreiten und niederschreiben. Er hatte sich deswegen selbst verabscheut. Ein Ekel der sich immer tiefer in ihn hineingefressen und ihm sein Gewicht genommen hatte, damit ihn die Strömung noch leichter mit sich reißen konnte. Das Einzige was ihn davor bewahrt hatte sich einfach den Fluten zu ergeben und zu ertrinken war seine Frau gewesen. Dank ihr hatte er die Kraft den Wahnsinn zu durchstehen in den er hineingezogen worden war.

Dann erkrankte sie an einer Lungenentzündung. Er hatte viele Krankenhäuser und Doktoren aufgesucht in der Hoffnung das sie ihr helfen würden, aber es war aussichtslos gewesen. Sie alle gaben ihr nur noch wenig Zeit. An die Magier hatte er sich nicht wenden wollen, aus Angst sie damit auch in das Netz der Abteilung XXV zu locken. Darum entschied er sich, das Problem anders anzugehen. Einmal in seinem Leben gegen den Strom zu schwimmen. Er legte Abteilungsoffizier Mader einen Projektvorschlag zu einer künstlichen Intelligenz vor. Er bekam das Projekt genehmigt, doch was er der Abteilung verschwiegen hatte war, dass er die Seele seiner Frau in die Maschine einsetzten würde. Das konnte er bereits tun bevor sie starb, denn Seelen sind Information, und Information kann man beliebig oft vervielfältigen.

Wenn er jetzt im Nachhinein so darüber nachdachte, war sein Vorhaben so oder so zum Scheitern verurteilt gewesen. Damals war er geblendet vom bevorstehenden Verlust und dachte er könnte sie so wirklich retten. In Wahrheit hatte er aber nur eine Sicherheitskopie erzeugt. Und die war nicht mal perfekt gewesen. Aber was ignorierte man nicht alles in der Verzweiflung. Athena, so hatte die Schöpfung geheißen, war nicht mehr als ein Oberkörper mit mechanischen Armen gewesen. Er hatte ihr in seinem Wahn Silikonüberzüge besorgt um sie menschlicher wirken zu lassen, einmal für Mader, aber vor allem für sich selbst. Er merkte nicht wie fehlgeleitet er gewesen war, wohin ihn der Strom in seinem Versuch gegen ihn anzukämpfen getragen hatte. Selbst als Athena unvorhergesehen begann große Teile ihrer eigen Seele zu kopieren und diese in Maschinen einzusetzen, bemerkte er nicht dass etwas fürchterlich falsch lief, sondern bezeichnete die Geschöpfe als seine und Athenas Kinder, den ultimative Triumph seiner "Wiedererweckung".

Natürlich war ihm Mader auf die Schliche gekommen. Er hatte vorgegeben Experimente durchzuführen und keine Ergebnisse geliefert, das geht nicht unbegrenzt lange gut. Die Abteilung entzog ihm das Projekt und übergab es ausgerechnet dem größten Irren den sie besaß. Magister Krone war weithin als verrücktes Arschloch bekannt gewesen und seine Schöpfung an diesen Mistkerl zu verlieren hatte für ihn die ultimative Katastrophe dargestellt. Wäre er zu der Zeit nur etwas weniger emotional gewesen, dann würde er wahrscheinlich noch leben. Aber er hatte das dümmste gemacht was man in seiner Situation tun kann. Er brach in das Labor ein um Athena zu stehlen, zu einem Zeitpunkt als Magister Krone gerade Teile ihrer Seele löschte. Der Mann mochte nicht mehr alle Tassen im Schrank gehabt haben, aber er war trotzdem ein Magiergroßmeister gewesen, einer mit mehr Kampferfahrung als sein Gegner. Der Magier ging zwar durch einen Überraschungsangriff zu Boden, aber die Freude währte nur kurz, denn der Magister erholte sich schnell wieder. Was danach kam kann man sich wie eine Sandburg vorstellen auf die ein Tsunami zurollt.

Er starb nach einem relativ kurzen Duell mit Krone. Schädelbruch. Er war nicht mal sicher ob der Magister es mit Absicht gemacht oder ob er schlicht angenommen hatte dass er ihm mehr magischen Widerstand bieten würde. Jedenfalls war er nun tot, das war alles was für ihn jetzt wichtig war. Athenas Schicksal war ihm egal. War vermutlich bei der Auseinandersetzung zu Bruch gegangen. Hatte keinen Einfluss mehr auf ihn. Der Strom hatte das Meer erreicht.

Es heißt zwar im Tod werden alle wieder vereint, aber er merkte jetzt, dass das völliger Blödsinn zu sein schien. Er hatte niemanden getroffen, nicht mal seine Frau. Er hatte nur sich, sich und seine Erinnerungen. Es war ein unerträgliches Gefühl, zu wissen dass es aus diesem Zustand kein Entkommen gab, dass niemals jemand kommen würde. er wusste nicht wie lange er in diesem stummen Grauen feststeckte bevor ihm plötzlich ein Gedanke kam. Warum hatte er sich plötzlich wieder erinnert? Es gab gar keinen Grund dafür. Er begann darüber zu grübeln. Warum hatte er alles vergessen, nur um sich jetzt-
Moment, warum hatte er das Gefühl als würde er sich nach oben bewegen? Irgendwas lief hier falsch, irgendwas war-


Er sog heftig die Luft ein. Verwirrung machte sich in ihm breit. Er fühlte Kälte, er fühlte Stein an seinem Rücken, er roch Moder, er sah eine graue Betondecke die vom Schein mehrerer Kerzen erhellt wurde. Diese Eindrücke ließen nur einen Schluss zu.

Er lebte … wieder.

Er versuchte sich daran zu erinnern ob irgendwas im Jenseits passiert war was dieses Ereignis ausgelöst hatte, aber seine Erinnerungen an den Tod verschwanden im Nu aus seinem nun wieder lebendigen Kopf.
Zurück blieb zwar die Gewissheit, dass er allein gewesen war, ansonsten war es aber als ob man ihm gerade erst den Schädel gebrochen hätte.

Apropos Schädel. Er fuhr sich hektisch mit seltsam steifen Händen über den Kopf. Das brachte ihm zwei Erkenntnisse ein. Erstens, sein Kopf war heil und ganz, zweitens, es war immer noch sein Kopf, was die Möglichkeit einer Reinkarnation ausschloss.

"Bewegen Sie sich lieber noch nicht zu schnell, Ihre Rigor Mortis ist noch nicht ganz abgeklungen", sagte plötzlich eine Stimme außerhalb seines Sichtfelds.

Um ihren Ursprung auszumachen hob er den Kopf und gewann zwei weitere Erkenntnisse. Erstens, er lag in einem Magiezirkel, auf den an strategischen Stellen verschiedene Kerzen aufgestellt waren, zweitens, in Richtung seiner Füße war gerade ein Mann dabei aus einer knienden Haltung aufzustehen.

"Hoffentlich kriegt Blitz bald diesen Computer auf die Reihe", murmelte er dabei.

Der Mann trat anschließend in den Kreis und bot seine Hand an um beim Aufstehen zu helfen. Sein Angebot wurde angenommen.

"Sind Sie Wolfgang Eisen?", fragte der Mann und zwang ihn dabei ihm fest in die Augen zu sehen.

Es waren Augen denen man ansah, dass sie Dinge gesehen hatten, die ein Mensch lieber nicht erblicken sollte und dieser Umstand war es, der seine Antwort förmlich erzwang.

"J-Ja, das bin ich … Und wer sind Sie?"

Seine Stimme war schwach und kaum zu hören, als hätte er sie eine lange Zeit nicht benutzt. Der Mann sah etwas betroffen aus.

"Wie unhöflich von mir. Das tut mir leid. Sie können mich Herr Rass nennen."

"Und … was wollen Sie von mir?"

"Ich habe ein Job-Angebot für Sie."

Er runzelte die Stirn, ein Prozess der sich sehr merkwürdig anfühlte wenn man gerade noch tot gewesen war. Es kam immerhin nicht allzu häufig vor, dass man für ein Bewerbungsgespräch wiederbelebt wurde. Moment-

"Sie- Sie haben mich zurückgeholt!", platzte es aus ihm heraus.

"Ja, das habe ich", bestätigte Herr Rass trocken. "War übrigens gar nicht so einfach sie zu finden, Abteilung XXV wusste wie man Dinge versteckt."

Versteckt? Er sah sich kurz um. Tastsächlich befanden sie sich in einem Leichenkeller der Abteilung. Er wusste das so genau, da er sie immer hatte aufsuchen müssen um mit den Toten zu reden. Er merkte dass er vom eigentlichen Problem abdriftete.

"Aber … aber das ist doch verboten! Sie dürfen die Toten nicht wiedererwecken!"

Herr Rass zog eine Augenbraue hoch.

"Sind Sie wirklich der Richtige um mir darüber Vorhaltungen zu machen? Und wenn Ihnen Ihre Wiedererweckung nicht gefällt, kann ich Ihren Originalzustand sofort wiederherstellen. Mit traditionellen Methoden."

Er wurde blass. Wieder zurück in die Einsamkeit? Nicht wenn er es verhindern konnte.

"Gut, scheint als ob Sie das verstehen. Nun zurück zum eigentlichen Thema,", sagte sein Wiedererwecker. "Herr Eisen, ich habe Sie nicht aus reiner Nächstenliebe zurückgeholt, ich möchte mir gerne Ihre Expertise zunutze machen."

"Meine Expertise? Ich weiß nicht was Sie wollen mein Herr, wenn es um Reanimationen geht sind Sie definitiv-"

"Doch nicht zur Nekromantie. Sie hatten bei diesem Athena-Projekt einen interessanten Ansatz, aber der ist viel zu kompliziert. Ich möchte mich Ihres Sachverstands zu Seelen, zu ätherischer Information bedienen."

"Warum? Was haben Sie vor?"

Und Herr Rass begann ihm von seinem haarsträubenden Plan zu erzählen. Er spürte wie er wieder vom Strom gepackt wurde, wie er ihn mit sich riss. Er wusste, dass Herr Rass ihn wieder töten, ihn zurück in die schreckliche Einsamkeit schicken würde, sollte er sein Angebot ausschlagen.

"Natürlich", beendete Herr Rass seine Ausführungen "Werden Sie dafür auch gerecht entlohnt."

"Entlohnt?", fragte er skeptisch.

Er fragte sich wie dieses Monster ihn angemessen entlohnen könnte. Selbst wenn der Plan aufging, er würde immer mit der unerträglichen Schuld leben, so wie er es auch während seiner Zeit in der Abteilung XXV getan hatte.

Was Herr Rass aber als Nächstes sagte drehte seine Meinung von ihm und seinem seinem Plan um hundertachtzig Grad und machte aus der erdrückenden Verzweiflung die er gerade noch gefühlt hatte die Hoffnung eines Wahnsinnigen.

"Ihrer Frau geht es sicher ähnlich wie Ihnen noch vor ein paar Minuten. Wenn wir unser Ziel erreicht haben, verspreche ich Ihnen dass ich alles tuen werde um auch sie so zurückzuholen wie ich es bei Ihnen getan habe."

Sie fühlte genau dasselbe wie er noch vor Kurzem. Ihm schauderte bei dem Gedanken sie vollkommen allein im Jenseits zu wissen. Er musste sie dort herausholen, koste es was es wolle. Nicht als so eine Frankensteinkopie wie Athena, sondern als echter Mensch mit Originalseele. Und wenn dieser Mann für seine Dienste bereit war ihm zu helfen …

Mit dem Wort "Abgemacht", überließ er sich dem Strom.

Herr Rass klatschte in die Hände.

"Wunderbar. Damit heiße ich Sie als Akolyth beim Vierten Reich willkommen. Hm … Sie werden einen Decknamen brauchen, schwebt Ihnen da irgendwas vor?"

Er überlegte und kam ziemlich schnell zu einem Ergebnis.

"Ja, ich glaube ich habe da was."

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