Zwei sind schon eine verschworene Gemeinschaft

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Vorgeschichte:
Unsichtbare Blinde



Ein Forschungsraum des Ministeriums für Staatsicherheit, Berlin, 17.10.1989

„Könnten Sie vielleischt ein kleineres Messcher nehmen, Mademoiselle?“, fragte Malkuth vorsichtig, während er furchtsam auf die Laubsäge starrte, die Magistra Wunder in der Hand hielt.

Malkuth war relativ groß und männlich, soweit sich das beurteilen ließ, bei einer menschengroßen Marionette, die sich selbstständig bewegen und mit ihrem recht naturnahen Mund sprechen konnte. Warum er das konnte, galt es für Wunder herauszufinden. Krone plante, mit dem Wissen und dem Können von Magister Feder, laufende Minen zu bauen, die sich Selbstmordattentätern gleich auf ihre Feinde stürzten. Natürlich kam die Idee von Krone und Wunder widerstrebte es. Nicht nur weil es eine Waffe war, sondern auch da ihr Opfer sich sehr lebhaft gebärdete.
Damit die Holzpuppe hier nicht abhauen konnte, war sie mit Riemen an einen Operationstisch in einem mit mehreren Edelstahlschränken und -tischen eingerichteten Operationssaal gefesselt. Ihre Hände waren zudem fixiert, weil sie ein ziemlich nerviges Talent hatte. Standard und gut. Sie wollte sich nicht verletzen.

Sie atmete tief ein. „Du bestehst doch aus Holz?“
„Äh… Oui, Mademoiselle.“
„Von normalen Bäumen?“
„Durschaus möglisch…“
„Und Bäume haben keine Nerven. Das heißt, du solltest nichts spüren wenn ich einen Streifen von dir absäge.“
„Eine tolle Theorie, aber ich fürschte, Sie werden sich auf großes Geschrei einstellen müsschen. Können Sie nicht eine Radiographie machen?“
„Haben wir schon, hat Krone nicht befriedigt. Darum möchten sie jetzt herausfinden, aus welchem Holz du geschnitzt bist.“
„Oh, der war gut!“

Die Nerven lagen bei beiden frei, das hier war nur Geplänkel zweier Personen, die sich nicht wohl fühlten. Wunder wollte gerade resigniert das Messer ansetzen, ließ das Werkzeug dann aber nachdenklich sinken.

„Dafür, dass ich dir gleich ziemliche Schmerzen zufügen werde, bist du aber ziemlich fidel.“ Und noch zwei, vielleicht fünf Minuten rausgeschunden.
„Mademoiselle, es gibt Schlimmeres, als von einer wunderschönen Frau für das größere Wohl abgesägt zu werden. Aber mussch das wirklich sein?“

Sie beugte sich kurz vor, um scheinbar dem Bestechungsvorschlag zu lauschen: „Ich schaue, dass ich es möglichst schnell mache. Die Alternative wäre von Krone höchstpersönlich seziert zu werden. Ich möchte möglichst vielen Menschen helfen. Auch Dir, nur lassen mich die Jungs hier nicht. Spätestens seit der Sache mit den Mangos und der blauen Schokolade. Es ist extrem hässlich, aber bevor ich mich wegen Befehlsverweigerung in irgendein Loch wegsperren lasse, nehme ich lieber dir etwas Holz ab.“
„Oh, Nein. ich könnte ihnen ’elfen, Leuten zu ’elfen“, bot Malkuth an.
„Ich kenne den Verein, von dem du stammst. Dein Zellguss Karneliana Kollektiv.“, Wunder machte kurz eine Pause, um sich von dem Zungenbrecher zu erholen, „Glaub mir, wir haben hier einige Sachen verwahrt, die besser nicht frei rumlaufen sollten.“
Malkuth schwieg kurz. „Nicht alle sind so ‚kampflustig‘“
„Genug der schönen Schmeicheleien. Für das Volk, gegen den Klassenfeind!“, sprach Wunder deutlich Richtung Mikrophon und etwas leiser, „Selbst wenn ich wollte, es wäre mein Tod. Ich hoffe mein Theater überzeugt sie, weil ich jetzt wirklich etwas machen muss.“
Malkuth schloss die Augen. „Au Revoir, schöne Welt.“

Die Tür zum Labor wurde gewaltsam geöffnet. Drei Trolle, so nannte Wunder die gewöhnlichen Sicherheitskräfte von Abteilung XXV, traten ein. Die Art, wie sie eintraten, machte Wunder Sorgen.

„Die Herren wünschen?“, fragte Wunder, während sie langsam zum Operationstisch zurückwich.
„Magistra Wunder, sie haben nicht auf Offizier Maders Memo reagiert“, erklärte der Mittlere.

Er und der Rest seiner Spießgesellen kamen langsam näher. Wie Wölfe, die ein Schaf einkreisten.
„Oh… War das heute? Ich habe mich vollkommen verzettelt“, entschuldigte sich Wunder möglichst unschuldig. Sie hatte sich zu sehr auf die Probeentnahme konzentriert. „Entschuldigung dafür, wenn sie mich kurz meinen kleinen Freund hier zurück in seine Puppenkiste stecken lassen…“
„Das wird nicht nötig sein.“

Der Mittlere sprang vor, presste Magistra Wunder die Hand auf den Mund und bog ihr den rechten Arm auf den Rücken. Der Rechte packte ihren linken Arm, während der Linke einen injektorähnlichen Apparat hervorzog.
Eine Memoria-Nadel, wie sie erkannte. Diese Geräte, auch kurz MeNa oder Vergissmich genannt, waren dazu da Personen Erinnerungen zu löschen oder auch wieder zurückzugeben. Alles, was es brauchte, war ein Stich in den Hals.

Das Schaf saß in der Falle. Bis die Wölfe plötzlich merkten, dass sie einen Löwenkopf und einen Drachenschwanz hatte.

Der Mann, der ihr den Mund zu presste, ließ plötzlich los und begann auf den anderen einzuprügeln, der Wunders anderen Arm festhielt. Wunder selbst nahm den mit der Memoria-Nadel ins Visier und murmelte „Consistere“. Der Mann musste plötzlich feststellen, dass er seine Füße nicht mehr vom Boden bekam. Und er stellte fest, dass Wunder hinter ihrem Rücken die Fixierung der linken Hand des Holzmannes gelöst hatte. Dieser bewegte nun seine Finger wie ein Marionettenspieler und kontrollierte dadurch den Körper desjenigen Wachmanns, der auf seinen Kollegen einschlug. Wunder gesellte sich mit einigen Betäubungsspritzen zu der Prügelei und spritzte die beiden Kontrahenten ohnmächtig. Der dritte wurde daraufhin von Malkuth übernommen und war so freundlich, sich selbst zu spritzen.

„Sind Sie sischer, dass Sie mir vertrauen wollen, Mademoiselle?“, fragte Malkuth verwundert. Sie antwortete nicht. Stattdessen machte sie Anstalten ihm die Hand offenbar auf seine Brust legen, zögerte einen Moment, bevor sie es doch tat. Sie murmelte eine kurze Beschwörung. Malkuth war viel zu verdutzt um etwas dagegen zu unternehmen. Als sie ihre Hand entfernte, leuchtete auf Malkuths Brust ein kleines Symbol ähnlich einem Rosenbusch.

„Qu’est ce que?“, fragte er verwirrt auf französisch.
Das“, erläuterte die Abteilungsforscherin, während sie seine Riemen löste, „ist eine kleine Vorkehrung. Mir ist noch bewusst, dass ich dich in die Lage gebracht habe. Dieses kleine Siegel sorgt dafür, daß du dich nicht mehr als zehn Meter von mir entfernen kannst und meine Lebensenergie ist daran gebunden, also halt mich schön lebendig“, sie lächelte entschuldigend.
„Oh, aber… “ Doch er wurde unterbrochen.
„Hier, zieh die Klamotten von diesem Mann da an. Eine wandelnde Schaufensterpuppe fällt ohne Zweifel auf.“ Sie deutete auf einen der Männer. Sie schnappte ihre Umhängetasche, mit all ihren wichtigsten Utensilien und rannte dann zur Tür um sich umzusehen. Der Lärm musste von jemandem gehört worden sein. Erstaunlicherweise war alles ruhig. Offenbar waren mehr Leute bei der Versammlung als gedacht.

„Ehm, Mademoiselle, was geht 'ier vor?“, fragte ein neueingekleideter Malkuth, „Sind das nischt Ihre Collègues?„
„Nicht mehr seit sie den Raum betreten haben. Normalerweise bewegen sie sich anders, wenn man einen Termin versäumt… Irgendwer will mir ans Leder… oder wenigstens an mein Gedächtnis. Ich habe so eine Ahnung, was hier vorgeht. Und ich werde den Teufel tun, mich jetzt zu fügen!“, Wunders Stimme war nicht laut, was aber umso mehr ihren Zorn zum Ausdruck brachte. Die beiden klappten ihre Krägen hoch.
„Was geht denn vor?“
„Wir machen dicht.“

Es war seit Monaten gerüchtweise vermutet worden, dass man plante, Abteilung XXV zu schließen. Geldprobleme und plötzliche ethische Bedenken, hieß es. Wer zwischen den Zeilen las, merkte, dass da nur paar Leute mit Namen ihre Weste bleichen wollten. Wenn dabei mehrere Leute verschwanden, war ihnen das fast schon Recht. Magistra Wunder wollte eh nie groß mitspielen, auch wenn sie hier eine Menge gelernt hatte. Nun schien sich ihr endlich die Gelegenheit zu bieten, auszusteigen und ihre Kenntnisse so anzuwenden, wie sie es für richtig hielt. Und Malkuth nahm sie auch gleich mit. Allerdings würde Offizier Mader sie nicht so einfach aussteigen lassen, darum galt es zuerst, sich einen Vorteil zu verschaffen. Und dieser Vorteil befand sich im Lager für auftragsdienliche, übernatürliche Objekte, das sich im ersten Kellergeschoss befand. Es ließ sich ziemlich einfach erreichen, da Malkuth die Sicherheitsbeamten, die schließlich doch auf den Lärm reagierten, gegeneinander ausspielen konnte.

Das Lager war von allen Seiten von einem halben Meter Stahl umgeben, der obendrein noch so verhext war, dass Eindringlinge das magische Äquivalent einer Atombombe gebraucht hätten, um ein Loch hineinzutreiben, ganz davon zu schweigen, dass sich der Stahl von einer konventionellen Atombombe überhaupt nicht beeindrucken ließ. Trotz dieser Panzerung, hatte man innen eine zusätzliche Sicherung angebracht, aber darum kümmerte sie sich später. Wunder allerdings hatte für die ersten Wall einen besonderen Schlüssel aus Holz. Malkuth brauchte kurz um den Schließmechanismus zu erfassen, aber dann begannen die Schlösser, sich nach und nach auf die offene Stellung zu verschieben. Die Tür schwang auf und Wunder machte einen Schritt vorwärts um hineinzutreten.

„ATTENTION!“ Malkuth riss sie zurück, bevor die Mine hinter der Tür hochging und schirmte sie von der Explosion ab.
„Mist, und da nehme ich extra einen Lichtzünder!“, ertönte es hinter ihnen. Als sie sich umdrehte, konnte sie ein gequältes Stöhnen nicht unterdrücken. Diese rotblonde Busfahrerfrisur hätte sie überall erkannt.
„Hätte nicht gedacht, dass Sie in Begleitung kommen“, merkte Agent O verzückt an.

Man nehme ein fieses Frettchen, einen verschlagenen Mafioso, einen glatten Aal und einen feinen britischen Gentleman. Die Mischung aus diesen Komponenten ergab zwar nicht Agent O, aber etwas, was einem annährend den Eindruck von ihm vermittelte. Er war ein Spion und Saboteur der Abteilung XXV. Einer der Besten und Schlimmsten. Agent O trug ein braunes Sakko über einer alte Weste und gleichfarbige Laufschuhe. Und hielt eine Pistole in der Hand. Ihr Lauf war auf Wunder ausgerichtet.

„O, sollten Sie nicht bei der Versammlung sein?“
„Gegenfrage: Warum sind Sie dann hier?“
„Konterfrage: Warum sind Sie hier?“
Agent O kam langsam näher. Er spielte für sein Leben gerne, solange ein Nervenkitzel vorhanden war.
„Nun, ich bin hier, weil ich mich noch fix eindecken wollte, bevor ich mich rar mache. Aber dann dachte ich mir: ‚Was, wenn jemand kommt, der dich eventuell verpfeifen könnte?’“
Wunder machte ein komisches Gesicht. „Ich hatte nicht vor Sie zu verpfeifen?“
O zog als Antwort nur eine Augenbraue hoch.
„Ja, ich mag sie nicht besonders…“, gab sie dann doch zu.
Dann drehte sie sich leicht zum schwerfällig wieder auf die Beine kommenden Malkuth.
„Kannst du mir mal kurz helfen?“, zischte sie mit möglichst so, dass O es nicht mitbekam.
„Ich will dich mal sehen, wie du mit Schrapnellen im Rücken zauberst, Hexe“, presste Malkuth etwas giftiger als nötig hervor.
„Autsch! Das tat weh“, feixte der Agent, „Aber ich muss zugeben, ich bin sogar froh, dass er ihren netten Hintern gerettet hat. Ich brauche eventuell jemanden, der zaubern kann. Ich kaufe ihnen eh diese ‚naive und höfliche Persona’ nicht an. Ich kenne Leute wie Sie, weil ich selber einer bin. Sie tun nur so, damit Sie hintenrum Ihr Ding drehen. Schauen Sie: Die Stasi wird uns überall finden, verlassen sie sich drauf. Aber wenn wir uns zusammentun…“
„Nein!“, entfuhr es Wunder ungewollt.
Os Miene verfinsterte sich augenblicklich. Er mochte es überhaupt nicht, wenn etwas nicht so lief wie er wollte. „Ihnen ist schon bewusst, dass ich derjenige bin mit der Waffe“, er unterstich die Aussage durch ein Schwenken mit dieser.
„Ich habe nie eine gebraucht und ich werde auch nie eine benötigen“, und mit diesen Worten griff sie in ihre Umhängetasche und holte das erste hervor, was sie darin zu fassen bekam.
„Einen Granatapfel“, spottete O, „Lassen Sie das, ich muss sonst lachen. Sagen Sie mir lieber, wie Sie S die Flucht ermöglicht haben?“
„Nicht nur schätzen Sie mich falsch ein, sondern unterschätzen mich.“ Wunder warf die exotische Frucht nach dem Agenten und brüllte im gleichen Augenblick „Attonare!“

Durch den Druck explodierte es und die naturgegebenen Schrapnellen rissen Agent O von den Füßen. Er krachte mit dem Kopf gegen die Wand und blieb liegen.
Wunder hatte Malkuth schon längst in das Innere des Lagers gezerrt. Wunder, dies mal schlauer, beschwor mit ‚Clipeus’ ein Schutzschild, bevor sie die Türe hinter ihnen ins Schloss zog. „Bleib hinter mir, wir müssen noch eine Hürde überwinden.“ Malkuth widersetzte sich nicht.

Nach ein paar Schritten hörten die beiden, das gurgelnde Hecheln von einer speziellen Wache der Abteilung. Malkuth lugte kurz zwischen zwei Regalen und sah etwas Haariges und schwerfälliges vorbeistapfen. Als es außer Sichtweite war, wagte er Wunder anzusprechen: „Was ist das?“
„Das Ergebnis, wenn Magister Käfig betrunken ist und Zugang zu exotischen Tieren erhält. Wir haben es Ammut getauft und Krone hatte es wegen seiner Pflegeleichtigkeit es als Wachhund eingesetzt.“
„Ammut? Wie das ägyptische Seelenfresser-Monster?!?“
„Unsere Ammut frisst nur Fleisch (Was nicht unbedingt besser ist) und sie ist eigentlich sehr zutraulich. Aber ich habe keine Ahnung, warum es hier ist, normalerweise–“

Vor ihnen kam ein Kopf um die Ecke, lang und platt. Die Schnauze röchelte feucht und schmatzte, während sich der Rest nachzog. Wunder und Malkuth blieben ganz still.

Wie schon der Name andeutete, war Ammuts Kopf einem Reptil nicht unähnlich, der in einen dicken, kurzen Hals überging. Der massige Rumpf wurde von relativ langen Beinen getragen, die kaum vom Boden kamen. Über die ganze Oberseite des Körpers wuchs ein borstiger Flaum. Insgesamt wirkte es, als hätte jemand versucht, aus einem Krokodil einen Wachhund zu züchten, dabei auf Ästhetik pfeifend. Ammut blinzelte die beiden Eindringlinge an, bevor es gähnend auf sie zu kam.

„Bitte sag mir nischt, dass du mit Pflegeleichtigkeit meinst, dass man es selten füttern mussch“, flehte Malkuth. Wunder war so gnädig und beantwortete es nicht. Ammut atmete schniefend die Luft ein.
„Turba, Lux Saltatio!“, rief Wunder schnellst möglich. Ammut hielt inne, offenbar fasziniert vom Glühwürmchenschwarm. Wunder fing schnell an, aus einem Sichtwinkel des Monsters zum anderen zu springen. Ammuts Kopf wackelte mechanisch mit, beim Versuch den Fokus aufrecht zu halten. Plötzlich hörte sie auf und fiel laut schnarchend um. Malkuth war viel zu verwirrt, um zu begreifen was gerade passiert war. Wunder packte eine seiner Hände und zog ihn mit. „Komm jetzt, sie schläft nur kurz.“

Nachdem sie alles in die Umhänge und den Rucksack gepackt hatten, führte Wunder sie zu einer Tür, die zum Untergeschoss ging. Diesmal war Malkuth zügiger. „Man kann eure Wasche so leicht austricksen? Und du sagest dosch, sie sei zutraulich.“
„Sie… Käfig hat es erschaffen“, kam die kaum aussagende Antwort, „Und man muss erst drauf kommen, dass ihr schnell schwindelig ist.“
„Isch will einfach nur raus.“
„Dann hilf mir. Ich weiss nicht, ob ich Annemaire überreden kann, uns nicht gleich wie ein Schweizer Käse aussehen zu lassen.“
„Nosch ein Monster… ?“



Eine Datscha, in einem Wald südlich von Berlin, 17.10.1989

Es gibt Momente im Leben, besonders nach Abenden, wo ziemlich viel Alkohol vorhanden war, in denen sich Menschen folgende Fragen stellen:
„Wer bin ich? Wo bin ich?“ eventuell gefolgt von „Wo sind meine Klamotten?“ sowie „Wer ist das da neben mir?“ und in ganz besonderen Fällen auch: „Was macht das lila Schaf hier?“.

Die Frau auf dem Bett stellte sich im Moment nur die ersten beiden Fragen, da der Rest für sie keine Rolle spielte. Mit ihr befand sich niemand hier und Ihre Kleidung bestand aus einem langen und dreckigen beigen Kleid, schwarzen Schnürschuhen und einem blauen Schal um ihren Kopf. Ein Schaf konnte sie auch nirgendwo entdecken.

Zum Wo: Sie befand sich scheinbar in einem kleinen Haus im Grünen, wenn sie dem Ausblick aus den Fenstern trauen konnte. Ihre räumliche Ausrichtung war horizontal, ein Umstand, den sie sofort berichtigte, bevor sie über die letzte Frage in ihrem Kopf nachbrütete.
Wer war sie? Ihr Hirn fühlte sich an wie Teig, allerdings gelang es einem metaphorischen Bäcker schließlich, dem Ganzen eine aussagekräftige Form zu geben.

Ein Name viel ihr ein: Regula. Kein Nachname, nur Regula.
Sie war eine junge Frau; 25-jährige und freiberufliche ‚Wundertäterin’. Soweit, so gut.
Aber der Bäcker von eben meldete plötzlich, dass er nicht genug Material für die vergangenen zwei Jahre ihres Lebens hatte. Woher wusste sie aber, dass es zwei Jahre waren? War das bei Gedächtnisverlust normal, dass man genau wusste, wie viel man vergessen hatte?
Von einem Klingeln an ihrer Haustür bis jetzt war jedenfalls alles blank. Apropos Klingeln, es klopfte ziemlich energisch an die Haustür. Regula verschob das Rätsel um ihre Gedächtnislücke auf später und lief zur Tür. Sie öffnete.
Sie schlug die Tür wieder zu, versiegelte sie mit einem kurzen Zauberspruch, warf einen Tisch um und hechtete dahinter. Anschließend begann sie etwas herunterzubeten. Etwas in einer alten Sprache, das hoffentlich anderen Leuten unmöglich machten, das Gebäude zu betreten. Zu den oben angesprochenen Fragen gesellte sich auch die Folgende: 'Warum zielt da jemand mit einer Waffe auf mich?!?' Wer der Jemand, oder besser die Jemands mit den vielen angelegten Waffen waren, konnte sie sich denken. Der Hauptverdächtige war die Stasi, war nur eine Frage der Zeit gewesen bis die herausfanden, was sie konnte, aber die leise Hoffnung, dass sie unentdeckt bliebe, hatte sie davon abgehalten aus der DDR auszureisen.

Die Frage war nun, waren die nur wegen ihrer Fähigkeiten hier, oder hatte sie in den letzten zwei Jahren irgendwas ausgefressen? Was auch immer es war, hoffentlich beinhaltete es keine Schafe. Es muss etwas gelaufen sein, wenn mir ein Schutzzauber so flott über die Lippe mag.

„MAGISTRA WUNDER!“, bellte es von draußen, „Kommen Sie sofort raus und ergeben sie sich!“
In dem Bewusstsein der jungen Frau regte sich was. Sie war mit Wunder gemeint.
„Äh… Wollen Sie nicht erstmal versuchen reinzukommen?“, fragte Regula.
„Sie hatten genug Zeit um dieses Haus in eine Todesfalle zu verwandeln, wir denken gar nicht dran. Kommen Sie raus!“
„Kann ich nicht wahrscheinlich hierbleiben und Sie kommen wieder, wenn Sie sich beruhigt haben?“

Es war merkwürdig, da stand die Stasi vor ihrer Tür und war offenbar drauf und dran sie ins Frauengefängnis Hoheneck zu stecken, aber sie fühlte sich nicht als wäre sie in Gefahr. Etwas in ihr wollte den Herren aufmachen, während sich etwas andere in ihr mehr als sträubte.
„Wunder, passen Sie auf: Wir können das auf die einfache Art oder auf die schwere Art machen. Meine Geduld neigt sich langsam in die Richtung, die mir besser gefällt.“
„Was wäre die schwere Art?“
„Die schwere Art wäre, dass Sie sich zusammenreißen und hier rauskommen.“
Regula runzelte die Stirn.
„Was wäre denn die leichte?“
„Für uns wäre das, die Bude anzuzünden, zu warten und Sie kommen raus. Oder wir warten, ohne dass Sie rauskommen. Wir sollen Sie zwar lebend gefangen nehmen, aber wir sind nicht perfekt. Und ich habe langsam die Faxen dicke. Meine Männer hier übrigens auch. Also, was wählen Sie?“
Regula sah es zwar nicht, aber sie konnte regelrecht fühlen wie draußen mehrere Köpfe grimmig zustimmten. Nun gut, sie hatte die Wahl zwischen Hoheneck und Verbrennungstod und wenn sie ehrlich war…
„Ich ergebe mich.“

Was auch immer der Grund für ihre Ergreifung war, er hatte offensichtlich die Aussendung von zehn Stasi-Agenten gerechtfertigt. Ihre Handgelenke zierten ab dem Verlassen des Haus ein Paar Handschellen und nun trat einer der Männer auf sie zu, in der Hand eine Apparatur. Sie hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Injektor, der mit mehreren Reglern aus Metall versehen wurde.

„Noch was, das sie loswerden wollen, bevor ich Sie bereinige? Vielleicht wo S ist oder Wo ihr Kollektiv-Kollege ist?“, fragte der Mann. „Später haben Sie keine Gelegenheit mehr, also nutzen Sie es.“
Mirabilis starrte ihn verständnislos an. Ihr Gegenüber schien das fehlzudeuten, denn er sagte: „Jetzt schauen Sie mich nicht so an, Sie hätten sich eine Menge Ärger ersparen können, hätten Sie sich sofort gefügt. Ihnen sollte klar gewesen sein, dass wir früher oder später jeden kriegen.“
In Regula meldete sich eine Stimme. Sie wies daraufhin, dass der Mann entweder log, oder keine Ahnung von der gegenwärtigen Situation hatte. Aber sie hatte keine Ahnung, woher diese Gewissheit kam. Sie fühlte sich, als hätte sie trotzdem gewonnen.
„Ich werde die Siegerin dieser Geschichte sein“, sagte sie mit einem Lächeln.
Tiefer reinreiten konnte sie sich kaum noch.
„Hahaha…Witzbold“, murmelte der Injektornmann und setzte das Gerät an ihren Hals. Erstaunlicherweise spürte sie keinen Schmerz. Es war, als wäre die Nadel gar nicht da. Er füllte sich mit einer merkwürdigen, grauen Substanz, die keine bestimmte Form und nicht mal einen Aggregatszustand zu haben schien. Schließlich nickte der Agent und zog die Nadel weg.
Regula sank ohnmächtig zu Boden.



Eine Gefängniszelle, Berlin, 18.10.1989

Regula erwachte erneut und wieder stellte sie sich die gleichen Fragen. Ihrer Identität wurde sie sich ziemlich schnell bewusst, auch wenn sie sich nur noch an ein Klingeln an ihrer Haustür erinnern konnte. Dann kam eine ganze Weile lang Nichts und nun lag sie in einer Gefängniszelle.
Hinzugesellte sich dieses Mal die Frage 'Wer ist das da neben mir, der so verschlagen aussieht?'.
Neben ihr saß ein älterer Herr, dessen blondes Haar an vielen Stellen weiß gewichen war. Er war der Besitzer eines Gewerkschafterbartes und dem faltigen Gesicht eines Mannes, von dem man getrost ein Auto hätte kaufen können. Aber ihr gefielen überhaupt nicht dessen Augen. Es heißt doch immer so schön, dass die Augen die Fenster zur Seele seien. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Mann nicht den Unterschied zwischen einen Hund ärgern und den Hund an einem Gullydeckel festbinden und mit einem Ural überfahren kannte. Ohne dass sie wusste wieso zuckte das Wort 'Krone' durch ihren Kopf.
„Guten Tag“, sagte der Mann. „Ich bin Holger Schmidt. Volkspolizei. Wir haben sie bewusstlos in Heiligensee aufgefunden.“
„Gut…“ entgegnete Regula verwirrt. „Haben sie mich die ganze Zeit beim Schlafen beobachtet?“, sie wollte eigedlich die Antwort nicht hören.
„Quatsch!“, entgegnete Herr Schmidt ärgerlich, „Ich hab sie geweckt, als ich die Zelle aufgeschlossen habe. Jedenfalls muss ich ihre Personalien aufnehmen und sie bitten, mir zu schildern, was passiert ist.“

Es folgte eine durchgehende Befragung, bei der sich herausstellte, das Regula zwei Jahre ihres Lebens vollständig vergessen hatte. Schließlich bedankt sich Herr Schmidt und ließ sie allein. Er versprach, alles zu tun um ihre verlorenen Erinnerungen zurückzuholen. Gegeben dem was die Augen gesagt hatten, zweifelte sie schwer daran.

Sie sollte Recht behalten. Sie blieb mehrere Monate lang in Schutzhaft, bevor sie im März 1990 plötzlich ohne Grund freigelassen wurde. Erstaunt hörte sie davon, dass die Stasi aufgelöst worden war und es dämmerte ihr, dass eventuell diese hinter ihrem Gedächtnisverlust gesteckt hatte. Aber sie wische den Gedanken beiseite. Sie war nich der Mensch, der an ‚solches Zeug’ glaubte.

Mit genug Fragen für eine ganze Saison Quizsendungen zu füllen, kehrte sie zu dem zurück, was sie als zu Zuhause in Erinnerung hatte. Allerdings erkannte sie schnell an den Beschriftungen der Klingeln, dass sie scheinbar zwischendurch umgezogen war.

Dann merkte sie, wie sie sich plötzlich versteifte. Ohne es zu wollen drehte sie sich zur Straße. Gemütlich fuhr ein Trabant in klassischem DDR-Eitergelb vor. Während sie, ebenfalls entgegen ihrer Absicht, auf den Wagen zuschritt, merkte sie entsetzt, dass niemand am Steuer saß. Auf dem Beifahrersitz saß allerdings ein Mann. Jedenfalls nahm Regula das an, das es ein Mann war, denn er war von oben bis unten mit Kleidungsstücken verhüllt und trug eine billige Papptheatermaske, die sein Gesicht bedeckte. Regula stieg auf der Fahrerseite ein und dabei sah sie wie eben dieser Mann die Finger seiner rechten Hand wie ein Marionettenspieler bewegte. Neben ihr schlug die Tür zu und ohne dass Regula irgendwas tat, setzte sich der Trabant in Bewegung.

„Was wollen Sie von mir?“, presste sie panisch hervor, dabei sich so weit wie möglich von ihrem Entführer bewegend.
„Moi?“, fragte der Mann mit einem klischierten französischen Akzent, „Isch will nichts von Ihnen, Mademoiselle. Aber dasch hier wollen Sie.“
Und mit diesen Worten holte er eine merkwürdige Apparatur aus einer Taschen. Sie besaß entfernte Ähnlichkeit mit einem Injektor, hatte aber entschieden zu viele Regler. In ihm befand sich eine graue Substanz ohne erkennbaren Aggregatszustand, die der Mann Regula trotz dem Versuchen sich seiner Kontrolle zu entreißen injizierte.
Und Magistra Wunder erinnerte sich und lächelte.

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