Verspätete Lieferung

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"Sie sind zu spät", kam es blechern aus Abids altem Nokia.

"Aber nur, weil Sie sich mit keiner Schraube des Standardmodells zufriedengeben wollten", erwiederte er trotzig, "Und drei Tage sind jetzt auch nicht der Weltuntergang, Sire."

Ein kurzes Rauschen ertönte aus dem Lautsprecher. Aus Erfahrung wusste Abid Faylouawed, dass ein Schnauben bei Kunden nie ein gutes Zeichen war. Und genau dies schien dieser eben getan zu haben.

Hastig ratterte Abid seine Standardausrede hinunter, um ein Telefonat zu beenden: "Es tut mir Leid, aber im Rückspiegel sehe ich einen Streifenwagen, und wenn Sie ihre Ware heute noch wollen, muss ich leider jetzt auflegen."

Konsequent drückte er auf die Taste mit dem roten Hörer und konzentrierte sich wieder auf die Straße vor seinem alten Passat, der nicht halb so wertvoll war wie die Fracht im Kofferraum.

Nach weiteren fünfzehn Minuten Fahrt rückte ein gewaltiges Anwesen in sein Blickfeld. Er verließ die geteerte Straße und fuhr auf einem Kiesweg auf das Monstrum zu. Es bestand fast ausschließlich aus solidem Bruchstein und ragte gute zwanzig Meter in die Höhe, die Frontseite war von mehr als dreißig Bogenfenstern geprägt. Eine gewaltige, zweiflüglige Massivholztür prangte in der Mitte. Sie schwang auf und ein älterer Herr in knielangem Mantel trat heraus, gerade als Abid vorfuhr.

Er stieg aus dem Wagen aus und ging auf den Kunden zu: "Einen guten Abend, Sire. Ihre Lieferung war bei mir in besten Händen."

"Das hoffe ich doch, war kein Schnäppchen", kam es kalt zurück, "Sollte ich auch nur einen Kratzer finden, werden Sie dafür bezahlen."

Abid zweifelte nicht an diesen Worten. Sein Bruder Fayhad selbst ist an einer beschädigten Ware, deren Reparaturpreis er nicht zahlen konnte, zugrunde gegangen, nachdem er sogar entlassen wurde.

"Ich hole sie Ihnen, einen Moment", sagte er mit einem künstlichen unterwürfigen Unterton.

Er ging zu dem Kofferraum seines Passat und wuchtete einen silbrig schimmernden Koffer daraus. Darauf bedacht, ihn vom Boden zu lassen, hielt er ihn mit Müh und Not in der Luft. Der Kunde drehte sich wortlos um und ging auf den Eingang des Hauses zu, dicht gefolgt von Abid. Die Villa war von innen genauso beeindruckend wie von außen: Der Boden war mit dunklen Holzplanken parkettiert, die Wände waren von diversen Wandteppichen behangen und an der Decke prangte ein gewaltiges, von Schnörkeln und Schwüngen überschüttetes Relief. Voraus befand sich ein weiteres Holztor.

"Sie können sie hier absetzen", meinte der Kunde.

"Jawohl, Sire", antwortete Abid, "Wenn Sie mich nicht weiter benötigen, würde ich gerne wieder abfahren. Ich habe noch mehr Aufträge zu erledigen."

Die Antwort kam sofort: "Jaja, gehen Sie ruhig."

Abid setzte sich wieder in seinen Wagen und fuhr ab.


Paul von Hinterfelden starrte auf den silbern glänzenden Koffer, den der Araber ihm gerade in die Wohnung gestellt hatte. Auf der Vorderseite prangte das Bild eines Schädelknochen eines Dinosauriers, darunter stand in eingestanzten Lettern Raptor Tec. Industries.

Er hockte sich davor und drückte, entsprechend der Anleitung des Händlers, in die linke Augenhöhle des Schädels, die tiefer war als die andere. Er erschrak, als ihn etwas in den Finger pikste, widerstand jedoch dem Drang, ihn herauszuziehen.

Eine mechanisch klingende Stimme ertönte aus nicht sichtbaren Lautsprechern am Koffer: "Paul Wilhelm Heinrich von Hinterfelden. Kunden-ID 320-738-8367, Bestellungsnummer B-73026-19. Autorisierung abgeschlossen. Herzlich Willkommen und viel Spaß mit dem Raptor Tec. Industries Reintegrator!"

Der Koffer klappte auf und gab den Blick auf einen dreißig Zentimeter langen Zylinder mit einem Durchmesser von etwas über zehn Zentimetern frei, der ebenso glänzte wie das Behältnis. Eine hellgrüne Flüssigkeit zog sich in transparenten Schläuchen über die Oberfläche des Zylinders, als wäre sie lebendig. Ehrfürchtig hob Paul den Gegenstand aus dem Polster. Ihn überraschte das verhältnismäßig geringe Gewicht, dass für seine alten Knochen dennoch ein Problem darstellte. An dem einen Ende des Objektes befand sich eine Öffnung, die nahezu bis zur anderen Seite reichte und nur minimal größer war als Pauls geballte Faust.

Er steckte den Arm hinein und fühlte den Griff an der Rückwand, an dem sich zwei übereinander liegende, runde Knöpfe befanden. Die Kälte des Metalls ließ ihn schaudern, als sich aus der Öffnung durchsichtige Schläuche bildeten, die sich in einer komplizierten Anordnung um seinen Körper wanden. Nachdem sie sich dann noch mit der grünen Flüssigkeit gefüllt hatten, spürte er, wie sein Arm entlastet wurde und der Zylinder ihn nur noch mit dem Gewicht einer Pistole belastete.

Probeweise ging er ein paar Schritte, bei denen er die leicht verzögerte Verformung seines grünen Exoskeletts spürte. Paul betrat den geschützten Innenhof seines Anwesens und warf einen Blick auf all die Gegenstände, die sich dort befanden, und die er benötigte, um seinen größten Hobby, dem Bogenschießen, nachzugehen. An der gegenüberliegenden Wand standen zwei dutzend Zielscheiben unterschiedlicher Größe, zu seiner Linken staffelten sich Unmengen an Stand-, Hüft- und Rückenköchern, die mit verschiedensten Pfeilen bestückt waren, und zu seiner Rechten hingen verschiedenste Bögen zusammen mit genügend Ersatzsehnen, dass man daraus einen Teppich von sechzehn Quadratmetern weben könnte.

Er drückte beide Knöpfe seines neuen Gerätes für mehrere Sekunden, und er sah, wie sich sein Blickfeld grün einfärbte. Ein HUD1 erschien und informierte ihn über Energielevel, verbleibende Schusszahl und markierte potentielle Ziele, die von der Künstlichen Intelligenz der Waffe erfasst worden waren. Paul bemerkte, wie ein Fadenkreuz genau mittig in seinem Sichtfeld schwebte und auch mit seinen Augenbewegungen mitwanderte. Er verspürte parallel dazu auch, wie sich der Zylinder stets so ausrichtete, dass er auf den Ort mit dem Fadenkreuz zeigte.

Er fokussierte eine der Zielscheiben und drückte den oberen der Knöpfe. Der Rückstoß, als grüne Tentakeln aus der Waffe zuckten, riss ihn fast von den Beinen. Fasziniert beobachtete er jetzt, wie die grünen Gliedmaßen sich um das Ziel schlangen und es absorbierten. Für Paul sah es fast so aus, als würden sie es aufsaugen. Eine weitere Anzeige erschien, die ihn von einem "Hume"-Level berichtete. Derzeit stand dort ein I. Der Händler hatte gesagt, dass er ab einem Wert von X sofort aufhören musste zu schießen, wenn er weiterhin ohne Beschwerden leben wollte. Als die Scheibe komplett absorbitert war, ploppte ein Balken am oberen Rand seines Blickfeldes auf, der zu etwa einem Fünftel gefüllt war.

Paul zielte jetzt auf den Boden unmittelbar vor ihm und drückte den unteren Knopf. Wieder schossen Tentakel aus dem Zylinder und schmiegten sich an den Boden, bis sie einfach, gemeinsam mit dem Balken auf dem HUD, verschwanden. Er sah sich die Stelle genauer an und erblickte eine grünliche, amorphe Masse, die leicht hin und her schwankte. Er warf einen Blick auf das Energielevel, dass auf etwa 90 % gesunken war.

Er ging die Treppe hoch zum Zimmer seiner Adoptivtochter und ließ seine Waffe die Türe absorbieren. Das junge Mädchen sah ihn von ihrem Bett aus entgeistert an, als er sie anvisierte und abdrückte. Er sah das Energielevel ansteigen.


Viktor raste in dem schwarzen Van die Straße hinunter und bog mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf das Gelände des großen Anwesens ein. Johnny und er sprangen aus dem Wagen, Stephan, Alice und Mathilda folgten aus der Hecktüre. Sie rannten auf die große Tür zu und öffneten sie vorsichtig mit einem Dietrich. Dahinter erblickten sie einen geöffneten, silbernen Koffer mit einem Dinosaurierschädel, unter dem Raptor Tec. Industries stand. Die zylinderförmige Polsterung war leer.

"Verdammte Scheiße", zischte Stephan leise.

Sie teilten sich auf, um nach dem Eigentümer des Anwesens zu suchen.

Alice teilte ihnen per Walkie-Talkie schlussendlich mit, dass sie ihn im Innenhof gefunden hatte, mit der Waffe am Arm. Sie trafen sich einen Gang weiter, als sie hörten, wie sich der Adelige entfernte. Sie folgten ihm leise, wobei der zu Großteilen mit Teppichen ausgelegte Boden eine Hilfe war. Sie sahen, um eine Flurecke lunsend, wie der Mann eine Tür mit den grünen Tentakeln zerstörte und sie gleich darauf ein weiteres Mal beschwor. Ein langer, gellender Schrei hallte durch den Raum.

Hey, Arschloch, sagte Johnny im Kopf des Adligen, der sich daraufhin von seinem Ziel abwandte und den Gang entlang blickte.


Er erschrak, als die Stimme ertönte. Er hörte seine Adoptivtochter wimmern, was derzeit jedoch zweitrangig war. Er trat wieder auf den Gang hinaus, es war jedoch niemand da. Plötzlich sah er jedoch eine Zielmarkierung durch den Gang schweben, konnte jedoch nichts dahinter erkennen. Im Vertrauen an die KI richtete er seinen Blick darauf und drückte ab.


Mathilda wechselte die Einstellung ihres SRAs und rannte in der Anderswelt auf den bösen Mann zu. Er schien zunächst verwirrt, jedoch musste sie selbst daraufhin stutzen, als er ihr unverwandt in die Augen zu starren schien. Sie sah die Fangarme aus dem Zylinder schnellen, die irgenwie auch in ihrer Welt existierten. Sie spürte nur einen kurzen Schmerz, als die Tentakel sie in die Realität zurückrissen.


Viktor war sofort klar, dass etwas nicht stimmt, als der Adlige einen Punkt im nichts fixierte und die Tentakeln hervorschnellten. Sofort riss er sich die Pistole aus dem Holster, zielte auf den Mann und drückte den Abzug mehrmals durch. Die ersten Kugeln wurden von einem der Fangarme abgefangen, als Mathilda plötzlich, von dem grünen Zeug umschlungen, im Raum erschien. Eine Druckwelle ließ das Haus erzittern und die Lichter flackern. Viktor schoss unbeirrt weiter auf den Mann, bis die Waffe nur noch klickte. Verzweifelt erkannte er, dass Mathilda noch immer hilflos in den Tentakeln hing, die jedoch einige Mühe zu haben schienen, mit ihr fertigzuwerden.


Stephan und Alice stürmten mit gezückten Maschinenpistolen an Viktor und Johnny vobei auf den Mann zu, der noch immer Mathilda festhielt. Alice hielt kurz vor Mathilda an und ließ ihre Waffe losrattern, Stephan jedoch stürmte weiter auf den Mann zu. Als dieser nun die Waffe auf sie richtete, fiel Mathilda erschöpft auf den Boden. Stephan kam bei dem alten Mann an, bevor dieser ein weiteres Mal abdrücken konnte.


Paul nahm die auf die Tentakeln einprasselnden Kugeln kaum wahr, dafür warnte ihn jedoch sein HUD vor dem Mann, der sich ihm schnell näherte. Kurzerhand ließ er von dem ehemals unsichtbaren Mädchen ab und schwenkte auf die neue Gefahr um. Kurz bevor er aber abdrücken konnte, wurde er wie von einem Rammbock getroffen umgeschmissen und fiel hart auf den Boden. Ein brennender Schmerz durchzuckte ihn, als die Waffe des Mannes auf seine Nase niederfuhr, bevor sich selbiger mit einem Hauch von Schreck im Blick rasch zurückzog. Paul versuchte noch, die Waffe ein weiteres Mal zu heben, als plötzlich das kleine Mädchen seinen Arm umfasste. Er sah noch, wie das HUD bei dem "Hume"-Level ein Auge anzeigte, als er spürte, dass sich irgendwas änderte. Das Letzte woran er sich erinnerte, war das von Schmerzen verzerrte Gesicht des Mädchens, als es ihn losließ.

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