Zuletzt: Stummer Schrei
Vanta-Blacker Wahnsinn
01:18 Uhr MEZ, Titankolonie, polizeiliche Leichenhalle
Die dickliche Frau mit der Lederjacke, dem langen Micky-Mouse Rock, der roten Bibliothekarinnen-Brille und den drei Kilo Lippenstift sowie der schnurrbärtige Mann mit Baskenmütze gingen zielstrebig zu der Leichenhalle, die sie sich vorgenommen hatten zu inspizieren. An der entsprechenden Tür angekommen, hob sie einen merkwürdig liquid wirkenden, metallic-grauen Schlüssel1 aus ihrer Handtasche und steckte ihn ins Schloss; sie drehte und es begann zu klicken — die Tür öffnete sich langsam unter der Kraftexposition des Mannes.
Sie traten ein und schlossen die Tür von innen. Quentin Weber warf seine Tasche gelassen auf den Boden und zog ein langes Hilfsmittel heraus, dass von seiner Verstauung in der Tasche her gar jeglichen physikalischen Gesetzten trotzte. Danach zog er eine Betonplatte für das eben besorgte Stativ heraus, dazu etwas, das wie eine Computereinheit aussah. Seine Partnerin, Babara Schulze, derweilen scannte den Raum mit einer Apparatur, die am ächzten mit einem Einhandstaubsauger zu vergleichen gewesen wäre.
Quentin hatte gerade den Causalitopraphen angeworfen und arbeiten lassen, als seine Partnerin eine verblüffte Bemerkung von sich gab: „Mhn? Keine Spuren von Untod oder Nekromantie! Auch keine Zeichen für Esoterik oder andere Foren von Thaumaturgie, geschweige denn Ontokenie. Nicht mal was Astrales!”
„Das ist ungewöhnlich”, gab er zu, „Die meisten unserer Fälle, die solche Geschichten wie mit unserem Zombie aus dem Video aufwiesen, waren zumeist immer auf einen dieser Gründe zurückzuführen.”
Die wie der Prototyp einer zu testenden Radaranlage aussehende Apparatur gab einige Pieps-Laute von sich. Der Computer, der mit der statischen Antenne verbunden war, spuckte eine Disc aus.
„Wollen W'r sehe, was hier abging”, er holte einen portablen Monitor mit DVD-Player-Funktion aus seiner Diensttasche. Er schob die Disc ein.
Auf dem kleinen Bildschirm sammelten sich zahlreiche Diagramme: Ein H(t)-Diagramm, ein ω(t)-Diagramm und viele mehr. Doch das wohl wichtigste aller dort abgebildeten Grafiken war wohl mit Abstand das Causagramm, das sämtliche Vorgänge in diesem Raum relativ zur Mondoberfläche in einem determinierten Zeitintervall auslesbar festhielt.
Gespannt beäugten sie dieses. So etwas hatten sie in ihrer ganzen Karriere noch nicht. „Was ist das?”
12:15, Polizei- und Ordnungsamtzentrums der Titankolonie
Das Polizeirevier der Titankolonie war ein in die Struktur integrierter kreiszylinderartiger Einbau, der sich über Sublevel 0 bis 3 erstreckte, um effektiv arbeiten zu können. Hier war die komplette Exekutive, Legislative und Judikative der Kolonie räumlich, dennoch gesetzteskonform gewaltengeteilt, konzentriert. Hier befanden sich sowohl die Forensik, die Kriminaltechnologie, die Gerichte, die Vollzugsanstalten, Waffenkammern, Labore und das Kontrollzentrum, von dem aus die Kolonie in einen Lockdown versetzt und ferngesteuert werden konnte.
Sam, Marta, Charlie, Benjamin, Laura und Tilo wahren in feinster Robe zum Verhör erschienen. Nicht, dass man sie groß eines Verbrechens verdächtigte — Haufriedensbruch war eher ihre kleinste Sorge.
Gerade wurde Tilo hineingebeten. Marta, die selbst zutiefst geschockt war, tröstete vergeblich die immer noch weinende Charlie, welche vor wenigen Stunden mutmaßlich ihren Freund und Lebensgefährten verloren hatte. Auch Sam, der Junge mit nicht gerade stabilem Nevenkostüm, war auch kläglich am Scheitern, seine Emotionen zurückzuhalten. Benjamin, der seit letzter Nacht aus irgendeinem Grund beschlossen hatte, als Sams emotionales Standbein zu fungieren, tat es mit ihm Marta gleich.
Warum waren sie so töricht gewesen, dort runter zu gehen?, das war es, was ihnen allen durch den Kopf ging. Was um Himmels Willen hat sie dazu bewegt? Inständig erhielten sie die Hoffnung am Leben, Lucas wird wiedergefunden werden.
Einer nach dem Anderen wurde in den Raum verlangt und inquiriert, nachdem sie sich gestellt hatten, denn wer würde das Leben eines Bekannten dem Bußgeld nachstellen?. Nach der Unendlichkeit des Wartens verließen sie den Polizeizylinder. Es waren traurige Stunden. Auf dem Weg zu ihren Quartieren kamen sie erstmals wieder ins Gespräch.
„Was war es”, fragte Sam zögerlich. Lange Zeit hielt sich ein unangenehmes Schweigen. Sie liefen durch den vom Human centric Lightning entsprechend hell erleuchteten Gang, das zwecks der Simulation einer Wolkendecke ein blaugrauses, gedimmtes Licht warf.
„Es war kein Mensch” antwortete Tilo, der wohl mit Abstand atheistischste der Gruppe, „Es war ein Monster; das sag' ich euch! Und das nicht im metaphorischen Sinne”
„Ich werde Lauras Aufnahmen auf meiner Website unter dem Punkt 'Mythen' laden, Kopiergeschützt”, polarisierte Charlie, die sich allmählich wieder gefasst hatte und eine andere Stufe der Trauer begann zu durchlaufen.
„Du weißt, dass das Material derzeit polizeilich konfisziert ist und den Ermittlungen hilft”, gab Marta wahrheitsgemäß zum Besten. Sie kamen in einer Grünanlage auf Sublevel 3 an und durchquerten sie gemütlich. Das Grün hatte eine unerwartet entspannte Wirkung auf sie. Hier konnte man Natur genießen, das Gras und die nasse Erde spuren — etwas, das in einer Weltraumkolonie normalerweise fehlte. Sublevel 3 stand bis auf ein paar Industrieanlagen ganz im Zeichen der Erholungs- und Freizeitmöglichkeiten der Kolonialisten. An ihren gemeinsamen Wochenenden verbrachten sie hier viel gemeinsame Zeit.
„Meint ihr, die finden ihn?”, fragte Benjamin. „Definitiv”, gab Tilo zu, dem es widerstrebte zu lügen, „Bislang wurde jeder gefunden, der angegriffen wurde … Nur die Frage ist, ob lebendig oder …” Es schien, als ob auch er emotionale Anteilnahme zeigte.
Nach einer ganzen Weile durchliefen sie die Lanternshall. Rund um den Ruins war ein Lockdown ausgelöst; mehrere Betonbarrikaden waren aufgestellt. Links und rechts außen waren auf kleinen Türmen, die wie diese massiven Metallstrommasten aussahen, automatische Geschütztürme platziert. Überall an der Decke blitzten die Aktivitätsanzeiger der 360°-Kameras. Erstaunlicherweise hatten sie diesen Abschnitt auf die schwere Tour abgesperrt. Normalerweise würde das Abteil hermetisch abgeschottet werden, so dass nichts raus und/oder rein kann.
Sie betraten das Treppenhaus von Punkt Gelb und gingen geradewegs zu ihren Kompartiments in Sublevel 2, als ihnen der wohl unsympathischste Qualgeist entgegen kam, den Sam kannte. Doch zu seiner Verwunderung, betrachtete ihn der Rest ohne "un".
„Hey Ben', schlag ein”, forderte Jochen auf, als er ihnen auf halber Strecke im Treppenhaus entgegen kam und Benjamin ging zu Sams Eckel der Aufforderung ein. Auch Marta und Laura wurden nacheinander begrüßt. Nur Tilo und Sam selber lies er unbeachtet.
„Wie läuft's, meine Süßen”, richtete sich Jochen an die Mädchen und legte seine Arme so um ihre Schultern, dass er zwischen ihnen stand und sein Gewicht auf sie verlagerte, was den Frauen sichtlich unangenehm war. „Alles top”, log Marta unsicher und versuchte sich latent aus dem freundlichen Griff zu befreien. „Glücklicherweise schauen die nicht nach unten. Da würden sie sehen auf welche Art er sich tatsächlich über sie freute'', dachte sich Sam, der gerade dem enttäuschten Tilo einen Handschlag als Ersatz gab. Auf der potthässlichen Jogginghose, war das Zelt nicht zu übersehen …
„Könnte nicht besser laufen”, gab Benjamin intermittierend von sich, „Und bei dir?”
„Ach, bei Lena und mir auch nicht. Hatte außerdem vor ein paar Minuten auch ganz schön Glück”, prahlte er. „Was macht Blonlocke?”
Charlies Mine verdüsterte sich wie der Himmel vor einem Gewitter, sie stürmte die Treppe hoch. „Was ist denn mit ihr falsch?”, fragte Jochen unerhörter Weise.
„Er … ist verschollen”, antwortete Benjamin leise und starrte gen dem Linoleum des Bodens. „Vermisst”, korrigierte ihn Tilo, der via Blickkontakt missbilligt wurde.
„Oh, tut mir leid … Kann ich irgendwas für euch tun?”, das großspurige und fiese Lächeln vernahm scheinbar nur Sam, oder er bildete es sich bloß ein. Es war egal, er wusste, was die Intention war. Aufmerksamkeit, schneller Sex, Mädchen, Beachtung, eine positive Resonanz … ein reiner Lustjunge. Jochen betrog seine Freundin seit Jahren und setzte sie immensem Druck aus. Sie tat alles für ihn, aber die Couch-Potato schätze das nie wert. Er schrie sie an, praktizierte Psychoterror und so weiter. Nichts, das sich jemals jemand gefallen lassen sollte, aber weg kam sie von ihm nicht. Auf einer Schulparty, wie Sam diese Veranstaltungen hasste, kam es zu einem Zwischenfall, wo er sie lediglich mit einem anderen Jungen reden sah. Die Worte waren unvergesslich. Der Moment, in der eine Feindschaft geboren wurde: Sam ging dazwischen. Seither offenbarte sich ihm Jochens wahrerer Charakter. Der immer noch leierte Gung nutzte seit dem jede Chance mit seiner unglücklichen Freundin ihm gegenüber zu prahlen und ihn an seine Ledigkeit zu erinnern. Wie konnte sie nur bei ihm bleiben, dazu auch noch eine Raumreise mit ihm machen? Dies nur als Beispiel für seine unglaublich abscheuliche Persönlichkeit …
„Sagt, was kann ich tun?”, sprudelte es fast schon gleichgültig aus ihm heraus. „Danke wir kommen schon klar”, erklärte Benjamin die Lage. „Der Suchtrupp wird ihn schon finden.”
„Warum erzählt ihr ihm das alles?'', faste sich Sam geistesgegenwärtig gegen seine Stirn.
„Du sagtest, du hattest starkes Glück”, meldete sich Tilo zu Wort. Normalerweise würde Jochen gar nicht erst auf "die Komischen" eingehen, aber er ließ keine Gelegenheit ungenutzt, über sich selber zu reden. „Also, das glaubt ihr mir nie”, begann der Selbstdarsteller und lehnte sich auf die Mädchen, die unter ihm fast einbrachen, „Ihr wisst doch ich und Sam arbeiten Seite an Seite in Titanstars.OG in der Werkstatt-” „Es heißt 'Qualitäts- und Instandhaltungmanagement'!”, korrigierte ihn Sam genervt mit dem wohl ulkigsten Abteilungsnamen der Welt. Man wollte notorisch so wenig Mitarbeiter bezahlen müssen wie möglich, um Kosten zu sparen.
„Ja, sicher doch. Ach, was würde ich bloß ohne meinen lieben, hilfsbereiten Kollegen Sam machen, wahrlich ein Schatz!” Sam rollte mit den Augen.
„Es traf mich wie ein Schlag als Gabi auf mich zu kam und ausnahmsweise kein Lächeln bot, sondern eine traurige Grimmas”, resümierte Jochen ausschweifend. „Komm zum Punkt”, knurrte Sam, der von seinen Leuten verdutzt angeschaut wurde — sowie es den als Baukränen verwendeten Frauen möglich war in ihrer Anstrengung, einen anderen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der nicht gequält wirkte. Selbst bei diesem Ortsfaktor, wie viel brachte er auf die Waage? Eine Tonne oder was?
„Oh mein liebster Kollege”, er setzte einen Schmollmund auf, „Sie mussten Mitarbeiter entlassen.” Sam schaute ihn mit offenem Mund an.
„Ich wäre fast umgekippt, als ich das hörte. Ich war bereit meine Kündigung zu empfangen, aber — oh Glücklicher — ich durfte bleiben — ein Segen.'' Sam zog die Augenbraue hoch. Jochens Lippen formten etwas, das Sam lediglich als Rosette beschreiben hätte können. „Arschgesicht!”
„Es wäre schlimm gewesen, ich habe doch eine Frau zuhause, die ich versorgen muss, und die armen, armen Kinder, die hier geboren wurden und in Therapie müssen, weil ihre Körper nicht die nötigen Konditionen hätten, um auf der Erde zu überleben. Ich wisst doch, dass ich erhebliche Teile meines Gehaltes in die Sozialbereiche der Kolonie stecke … — Oh Segen, dass ich sie weiter ernähren kann.”
„Aww, wie nett von dir und Glühstrumpf!”, sagte Tilo. „Also Leute, es gibt Grundrationen für Alle. Hier hungert niemand! … Erst recht nicht die Kinder … Und wen hat's noch getroffen”, sagte Sam gleichgültig.
„Oh, mein liebster aller Kollegen. Es tut mir wirklich, wirklich in der Seele weh, das du es auf die Art erfahren musst und dir sagen zu müssen, dass sie dich feuern.”
Für Sam brach gerade eine Welt zusammen. Er stand fassungslos da. „Losverfahren, da sie niemanden bewusst bevor- oder benachteilen wollten”, fügte der Selbstdarsteller hinzu.
„Sam, es tut mir so leid”, spendete ihn Marta Trost, auch Benjamin ging auf ihn zu. Im toten Winkel der Anderen, die ihre Augen auf ihn gerichtet hatten, sah er die selbstgefällige Fratze seines Kollegen.
14:00 Uhr MEZ, Titankolonie, die Ruin
Die alten Aufzugtüren des Liftes von Punkt Orange gingen quietschend auf. Einer der Beamten entriegelte das Gitter vor der Tür und schob es bei Seite, ehe die acht schwer bewaffneten Sicherheitsleute aus der Kabine heraustraten. Sie aktivierten ihre Helmvorrichtungen, die eine Art Mischung aus Weitwinkelbrille und Nachtsichtgerät zu sein schienen. Ihre Mission bestand aus zwei primären Zielen: Lucas Müller suchen und befreien und denjenigen fassen oder eliminieren, der ihn hier unten in den Ruins hielt. Es waren Spezialkräfte der UDF-Truppen, die auf der Mondoberfläche in ihren Bodeneffekt-Luftkissenfahrzeugen stationiert waren, um ein politisches Narrativ der Kriegsangst zu suggerieren.
Die acht Vermummten gingen durch die stockfinsteren Gänge von den Ruins. Als Ausendstehende gab es an diesem Ort für sie keinerlei ideellen Wert. Für sie zählte als willenlose Soldaten nur eines, die Gegenstände ihrer Mission finden und entsprechend ihrer Befehle mit ihnen verfahren. Per Funk hielten sie Kontakt mit ihrer Leitstelle.
Die grünen Laser ihrer Zielhilfen durchschnitten die Dunkelheit, wenn man sie denn im infraroten Spektrum sehen konnte, wie sie durch ihre Nachtsichtgeräte. An ihnen gekoppelt waren Wärmebilderfassungen, die alle Wärme abstrahlenden Objekte in ihrer unmittelbaren Umgebung für sie hervorhob. So auch den Entführer, so zumindest der Plan der Exekutive. Doch hätten sich auf die Berichte der jungen Erwachsenen gehört, denen sie diesen Auftrag zu verdanken hatten, wüssten sie, dass sie Jagd auf etwas machten, das für die meisten thermischen Sensoren unsichtbar war.
Sie patrouillierten den Raum ab, in dem die Schreckensszenen der letzten Nacht passiert waren. Wo die jungen Erwachsenen auf ihn aufmerksam geworden waren, bevor sie panisch zum stillgelegten Ausgang hasteten und dabei Einer abhanden kam. Die großen an Wasserrutschen erinnernden Läufe der Massebeschleuniger der aufgegebenen Anlage von Titenstars.OG waren Markenzeichen der Logistik dieses Raumes. Von hier aus konnte man sie in ihrer vollständigen Ausdehnung von 5 km betreten, denn dieser Bereich war ihr Wartungsraumgewesen.
Langsam sich in alle Richtungen absichernd und mit je einer Hand auf der Schulter des Vordermanns gingen sie in Richtung der Pausenräume. Ein langer weißer Flur mit beigefarbenen Fließen geziert lag vor den Kräften. Auf ihrer Rechten lagen die Sanitäranlagen, auf ihrer Linken schauten sie durch Fenster in benannte Cafeteria, betraten sie, durchsuchten sie, verließen sie erfolglos so wie auch die Toilettenräume. Als nächstes gingen sie zu den Administrationsräumen, da wo die den Knaben zuletzt gesehen haben wollen.
Vorsichtig, Schritt für Schritt, durchkämmten sie die ehemaligen Büros. Es war staubig. Deckenplatten und Kabel hingen der Decke herab. Der höhere Technikstandard ihrer Nachtsichtbrillen erlaubten den Kräften der UDF eine wesentliche weitere und klarere Sicht als den Grünschnäbeln.
Doch an diesem Ort ihre Suche fortzusetzen verhalf ihnen zumindest auf eines ihrer gesuchten Subjekte zu stoßen.
Nachdem sie dieses ordnungsgemäß geborgen hatten, setzten sie ihre Suche fort. In zweier Teams und Drohnengestützt durchsuchten sie die einstigen Raffinerielinien; da wo die Truppe um Sam ihre Amateurermittlungen fabrizierte. Hinter den Raffinerien befand sich einst die erste Etage eines sich über zwei Sublevel erstreckenden Lagers, aber dieses war fest versigelt, da es eine Verbindung zum vierten besaß und somit ein Risikofaktor darstellte. Allerdings war die nahegelegenen Umfüllanlagen betretbar. Sie sah von innen den langgezogen Waschstraßen der Raffinerien nicht unähnlich, doch waren um Welten kleiner als diese; sie mündeten in der Wand zum zugangsversperrten Lager. Die Konstruktionen dieses Raumes waren wie der Rest des Komplexes noch annehmbar in Tackt. Sie schlichen wieder in Teams und alter Manier um die Umfüllstationen, doch auch hier wurden sie nicht fündig.
Sie gingen zur Haupthalle zurück, liefen die Gittertreppe zum Wipfelpfad hinauf und drückten sich links und rechts der verschlossenen Tür an die Wand, die Waffe entsichert, der Finger am Abzugsbügel, um im Notfall den Finger zum Feuern abgleiten zu lassen, aber keinen ungewollten Schuss abzugeben.
Einer der Sicherheitsleute mit einem komisch aussehenden Rucksack trat rechts, seitlich an die Tür. Er entnahm von einem Holster dieses Rucksackes eine Art Zange, die hydraulisch anmutete. Er setzte sie an, fixierte sie, betätigte einen Knopf und innerhalb von Sekunden stemmte die Vorrichtung die Tür krachend auf.
Das Gewehr im Anschlag zog der Agent auf der Linken Tür-Seite es wie ein Teleskop am hinteren Ende heraus, was Scharniere zum Vorschein brachte, mit derer Hilfe er das Gewehr kurz vor dem Abzug um 70° bog. Er klappte ein kleines Digitalvisier aus und begutachtete den Raum sorgfältig. Das als Periskop umgerüstete Gewehr, dass so den Schützen verbergend um Ecken schießen konnte, wurde in seine Standartform zurückgestellt. Nach vorne und nach hinten Absichernd traten die Anonymen ein.
Vor ihnen lag eines der Prüflabore der Qualitätssicherung. Es war komplett leergeräumt und auch hier keine Spur von dem fahndeten Subjekt.
Enttäuscht über diese Tatsache kehrten sie der Sicherheits-Ettiquette Folge leistend zum Aufzug zurück. Was auch immer diesen Jungen so zugerichtet hatte, war ihrer Beurteilung nach nicht mehr hier drin. Doch so wenig wie die jungen Amateurdetektive zu ihrer ersten Begegnung um die Umstände wussten, wussten auch die top ausgebildeten Beamten zu ihren Ungunsten nicht, dass sie die ganze Zeit beobachtet wurden. Aus den Ecken, aus den Enden, von den Stützbalken der Decke hinabblickend …
18:00 Uhr MEZ, Titankolonie, polizeiliche Leichenhalle
Besorgt blickte der Forensiker auf den Leichnam vor sich. Eigentlich war er ja Digitalforensiker und hatte allgemein nicht wirklich viel Kontakt mit dem eigentlichen Verbrechen. Er analysierte normal nur die Daten und Proben, die ihm zugespielt wurden, um aus ihnen die Puzzleteile des Verbrechensgegenstandes zusammenzusetzten, aber dieser Fall verlangte ihm viel persönlichen Einsatz ab.
Der bis auf die Unterhose entblößte Körper vor ihm war geprägt von einem Markenzeichen des Grauens. Eines Grauens, dass diesem Fall Alleinstellungsmerkmal war. Er kannte diese Geometrie inzwischen gut, die ihn in seinen Albträumen heimsuchte. Der Körper war ringsum mit zahlreichen Stichwunden, gerade einmal so groß wie Stecknadeln, übersäht. Wundflüssigkeit quoll aus ihnen. Die oberen Hautschichten waren vollständig verätzt; das Gesicht schmerzverzehrt. Etwas, was Gregor zutiefst erschütterte. Ein Detail, was ihm auffiel als er die Bilder verglich. Es waren die Augen, derer Pupillen für Anisokorie von der Abmessung zu weit auseinander lagen.
Wie er es hasste mit dem Tod in einem Raum zu sein, dazu allein. Der blutige Körper vor ihm wies die gleichen Verätzungen, die gleichen Wunden auf. Jeder Stich im gleichen Bogenmaß auseinander. Einen Umstand, den er nicht erklären konnte. Ein Lichtblick wäre wohl gewesen, dass sich das erste Opfer dieser Art geistig soweit erholt hatte, dass man ihr ihre Selbständigkeit insofern zurückgeben konnte, aber ein plötzliche krankhafte Amnesie verwehrte ihm wichtige Informationen. Er gönnte es ihr vom ganzen Herzen, sich so halbwegs erholt zu haben, aber dieses Ding, wie er nun selber einsah, war immer noch quicklebendig und auf freiem Fuß. Aber, was ihn trotz polemischem Licht in der Schwärze irrend hielt, war der hier vor ihm. Er kannte diese Person. Ein Schulkamerade seiner Schwester, wenn er sich richtig erinnerte.
Lucas Müller. Ihn hatten die UDF-Truppen in den Ruins gesucht, in der Hoffnung, er sei noch am Leben. Was auch immer ihn das angetan hatte, haben sie leider nicht finden können. Das machte ihm Angst. Wenn es nicht in den Ruins war, wo war es dann? Er spielte das erste Interviewe mit Marta ab.
„Es stand für Minuten nur da …" Ein Paradoxon registrierte er und wiederholte das Interview. Dazu lies er auf seinem zweiten Monitor die Bildschirmaufnahme von Laura laufen, die die Erkundung per Videoanruf aus allen sechs Perspektiven fotodokumentarisch festhielt. „Es stand für Minuten nur da"
Wie konnte sein eigen Fleisch und Blut sich nur in die Höhle des Löwen begeben? Mit jedem mal wie er sich die Aufnahmen anschaute, schlief ihm das Gesicht ein. Sie waren so na dran. Immer wieder so nah dran …
… an ihm. Sie mussten die Bewegungen im Dunkeln nicht registriert haben, aber die Bildverarbeitungssoftware des Forensikers gab Aufschluss. Sie stand einmal zwei Meter vor ihm und sie hat ihn in der Staubwolke nicht wahrgenommen. Weder akustisch noch visuell, auch wenn der Trick mit den selbstgebauten Nachtsichtgeräten nicht übel war, wie er zugab. Sie hatten sich immerhin Gedanken gemacht.
„Es stand für Minuten nur da." Dieser Satz quälte ihn. „Es stand für Minuten nur da."
Er begutachtete die Dynamik des Wesens, das nahezu konturlos erschien. Es hatte Probleme mit dem Gleichgewicht, wenn es sich langsam bewegte. Es glitt graziös und beherrscht wie ein Tänzer im Moonwalk über den Boden, wenn es schnell war. Diese Körperbeherrschung, vermutlich nutzte es Dynamik als Ersatz für sein nicht vorhandenes Gleichgewicht. Es stand nie lange still. Er öffnete die Audiodatei des zweiten Interviews und spulte. „Es dauerte Minuten bis es den Mädchen aus den Ruins folgte", referierte Sam in diesem Interviewe. Es dauerte Minuten.
Wie Gregor es sich dachte. Es richtete seine Opfer langsam hin. Das passte nicht ins Bild. „Es stand für Minuten nur da." Dieser Satz! Er nahm sich erneut das erste Interviewe vor. „Wir wurden durch einen schweren Schlag geweckt — wie wir am Morgen herausfanden, war es das Fenster vom Nachbarn. Als wir raussahen erkannten wir nur eine Silhouette."
Das ist seltsam. Das Videomaterial: „Wenn er euch hätte umbringen wollen, dann hät' er's längst getan”, knisterte die Stimme Tilos, „Er spielt mit uns!" Das sah inzwischen auch Gregor ein.
Wenn es seine Opfer langsam und brutal tötete, passt die Sache mit dem Fenster nicht; sie sahen es kurz nach dem Schlag.
„Es wollte gesehen werden”, entfuhr es dem Forensiker. Es hatte es von Anfang an auf sie abgesehen. Woher nur wollte es wissen, dass sie ihm Folgen würden? Gregor machte sich seine Notizen zu ende und schloss die Programme. Er wusste, dass es noch eine lange Nacht werden würde.
Dann, nachdem er seinen Rechner gepackt hatte, und den Leuten per Knopfdruck mitteilte, dass sie kommen konnten, drehte er sich zur einzigen weiteren Person im Raum um, die zu seinem allergrößten Entsetzten den Blickkontakt erwiderte.
22:49 Uhr MEZ, Titankolonie Sublevel 2, Wohnquartire Südost
Sam lag schweißgebadet in Benjamins Bett, der nur verwirrt nebst der Liege stehend auf sein Gesicht schaute und verzweifelt versuchte, seinen Zimmergenossen zu beruhigen. Seit dem Vorfall in den Ruins ward er von einer Reihe schwerer Panikattacken gepeinigt. Die Erste konnte jeder nachvollziehen, den Rest eher weniger.
Es war gegen 13 Uhr als die Truppe flauen Magens in die Mensa ging, auch wenn sich ihr Appetit in Grenzen wegen der Situation hielt. Es wurde geredet, gequatscht, vergeblichst gelacht, um sich abzulenken. Charlie hatte der Gruppe den Rücken gekehrt; sie machte den Rest für die ganze Sache verantwortlich, obwohl sie die Vize-Initiatorin war, die Marta und schlussendlich den Rest begeistern — na gut mobilisieren — konnte.
Gerade wollte er an seinen Kaffee ansetzten, als ihn plötzlich ein Zitteranfall überfuhr und er augenscheinlich seine Körperkontrolle verlor. Sie haben daraufhin die Sanitäter gerufen, doch die hatten sich nur über die Gruppe beschwert, dass sie ihre "kostbare Mittagspause" für eine Panikattacke unterbrachen. Über den Tag verteilt ereilten ihn immer wieder solche Hormonschübe.
Seitdem sie sich Schlafen gelegt hatten … zumindest versuchten, hatte er schon wieder zwei hinter sich. Bei der ersten am Abend war es ganz Ruhig, bis ihre Herzen plötzlich den Amplitudenausschlag des Todes schwingen ließen, in dem Moment als Sam wie am Spieß anfing zu schreien: „Fünfzehn — Fünfzehn” und dabei zitterte. Sam selber hatte sich während dieser Phasen nicht im Griff. Er gehört zwar eher zur emotionalen Sorte, doch das war auch für ihn zu viel. Es war im derart peinlich.
Bei der zweiten war es schon dunkel, als Sam das unüberwindbare Bedürfnis ereilte, loszurennen, ungeachtet der Tatsache, dass er der Gast im Doppelstockbett war, der sich höherer potenzieller Energie habhaft schätzten konnte. Dank dem geringen Ortsfaktor fiel er in slow Motion, aber rannte beschleunigend wie eine Zeichentrickfigur, die trotz tausender Schritte nicht vom Fleck kam, los gegen die Tür und trat sie auf. Sie ging ins Rauminnere zu den Betten auf … eigentlich …
Nun suchte ihn die dritte des Abends heim. Benjamin hat wegen der zweiten entschieden, die Betten mit ihm zu tauschen, um die Gefahr für Sam selber und weitere Türen zu verringern. Er hoffte, dass es ihm bald wieder besser gehen würde und dass sein Schweiß die einzige harnhaltige Flüssigkeit bleiben sollte, die er in seine Matratze pumpte. Sam schüttelte es derweilen am ganzen Körper und stotterte dabei repetitiv „Fünfzehn”. Dem schloss sich Tilo an.
„Meine Güte, ich weiß, dass du Echolalie hast, aber mir reicht schon einer in der Zahlensekte!”, sagte Benjamin hundemüde und latent genervt.
„Tut mir leid”, ertappte sich Tilo mit Hilfe beim laut denken, „Ich frage mich nur, was uns Sam damit sagen will?”
„Sam, geht's dir wieder besser?”, fragte Benjamin, der ihn besorgt anschaute.
„Ach kommt Leute, lasst euch von mir nicht stören.”
„Darf ich dich an die Geschichte mit dem Schrei oder unserer Tür erinnern?”, sagte Tilo unbeeindruckt.
„Was soll denn mit der Tür sein?”, fragte Sam, der sogleich von Benjamin eine Antwort bekam: „Ehm nichts. Alles gut!” Und blickte dabei mit einer sehr seltsamen Mine zu Tilo.
„Was willst du uns mit 'Fünfzehn' sagen?”, fragte Benjamin und griff nach seiner Hand, die Sam reflexhaft gleich wieder von der seinen löste. Tilo musterte die Szenerie ungläubig.
„Ich weiß es nicht”, antworte Sam, der auf das Lattenrost über sich stierte, „Ich sehe diese Zahl immer, wenn ich so einen Schub habe. Doch woher das rührt …”
„Gibt es irgendeinen Zusammenhang mit den Vorfällen der letzten Tage?”, fragte Tilo, der von Benjamin einen aufs Äußerste missbilligenden Blick zugeworfen bekam. „Ich weiß es nicht. Leute, bitte!”, sagte er ruhig.
„Gut, dann Zeit für etwas Ruhe”, erfreute sich Tilo der Synthese, doch diese wurde durch den plötzlich Schrei Sams falsifiziert: „Sechszehn!”
Die Beiden standen mit tellergroßen Augen da.
Charlie wartete geduldig bis ihre Zimmergenossen Agefa, Anastassia und Claudia eingeschlafen waren. Sie hatte sich den ganzen Tag seelisch und moralisch auf diesen Moment eingestellt — diesen einen Moment, der alles für sie entscheiden sollte. Sie schlich aus dem Bett und lugte in die Dunkelheit, an die sich ihre Augen bereits in der Wartezeit gewöhnt hatten. Sie schloss die Zimmertür hinter sich und schlich die Wendeltreppe in den ersten Stock der Wohneinheit, wo eine kleine spärlich ausgestattet Küche und ein Esstisch standen. Sie öffnete eine Küchenschublade und zog ein 20 Zentimeter langes Küchenmesser heraus und holsterte es provisorisch an ihrem Gürtel. Dann watschelte sie zu ihrem Rucksack an der Garderobe, der als Save zweckentfremdet wurde, um die Instrumente ihres Vorhabens sicher zu verstauen. Ein Quader aus Pappe, der seinen kurzen Seitenflächen misste und mit einem Stirnband verbunden war, diente als Halterung für ihr Handy, das sie nach Sams Vorbild als Nachtsichtgerät benutzen wird. Die überklebte Taschenlampe montierte sie rechts von der provisorischen Brille mittels Klebeband. So hatte sie alle Hände frei, um dem ein Ende zu setzten, das ihren Träumen und Hoffnungen ein Ende setzte. Die Ölflaschen und Alkoholbehältnisse mit den Lunten klierten zu ihrem Unwohl im Rucksack, deshalb polsterte sie das Rucksackinnere entsprechend mit einer Jacke. Sie selber trug drei Jacken und drei Hosen. Sie glaubte, dadurch "ein wenig" fraktursicherer zu sein.
Sie schloss vorsichtig die Tür auf und trat in den dunklen Gang, der durch ihre Wärme sofort von den Boden-LEDs erleuchtet wurde. Von ihrem Quartier aus war die Ruins anderthalb Kilometer Luftlinie entfernt. Sie ging schnellen Schritts zum Punkt Violett, der sie auf Sublevel 3 brachte. Den ganzen Tag der Trauer über den Verlust von Lucas brachte sie zum Schluss, dem allen ein Ende zu setzten, ehe anderen auch ihre Liebsten genommen werden … Sie war so glücklich mit ihm. Ihr rannten Tränen die Wangen hinab; sie tropfen auf den schwarzpolierten Linoleum-Boden. Sie kannten sich seit der fünften Klasse. Da hatten sie noch nicht viel miteinander zu tuen, doch mit der siebten fingen ihr an die Jungs allmählich zu gefallen. Sie schwärmte ab der achten Klasse lange Zeit für Benjamin, wenn sie ehrlich war, doch der konnte ihr bis auf Sex nichts bieten. Aber dann lernte sie an einem schicksalhaften Wandertag einen ihrer Mitschüler etwas näher kennen. Es war Lucas, der blonde Typ, der jeden Freitag ins Fitnessstudio ging und den man pausenlos mit seinem Kamm sein Haar richten sah. Die beiden hatten sich sofort gut verstanden. Aus gemeinsamen Pausen wurden die ersten Nachmittage, aus den ersten Dates wurden Übernachtungen, aus der kindlichen Natur wurde ein Wunsch — ein Wunsch nach Zweisamkeit. Sie wollten eine Familie gründen, Kinder bekommen, sie großziehen, gemeinsam alt werden; aber dieses Ding hatte ihr all diese Hoffnungen genommen. Es hatte ihr ihn genommen, ihren besten Freund, ihren Liebsten, ihren Romeo, ihre Inspiration. Nun wollte sie nur eins, das Blut von dem lecken, was ihre Lebensplanung zerstörte. Wut machte sich in all ihren Venen breit und ihr Schritt beschleunigte radikal. Ihre Absetze knallten und das hallte in der weiten Landershall.
Sie sah das Licht der Laternen; Laternen, die wahrlich ein falsches Licht auf diesen Ort warfen; ein Licht des Wohlbefindens, das die dunklen Geheimisse dieses Ortes maskiert. Die dunklen Geheimnisse unter ihren Füßen: Das Remnant. Der gesamte Ort, seine Wände, erzählen von schrecklichen Kapiteln, von Verlust und Tod. Vierzehn Menschen. Vierzehn Familien. Vierzehn Namen. Fünfzehn Tode …
Sie stand vor der riesigen Sperranlage, die von den Sicherheitsleuten aufgestellt wurde, um das drin zu behalten, was drin bleiben sollte. Doch durch ihre zahlreichen Aktivitäten in sozialen Netzwerken wusste sie, dass die Geschütze inert waren, da man annahm, es sei entkommen. Aber sie roch seinen widerlichen Gestank seiner jämmerlichen Existenz. Sie warf ihren Rucksack durch eine kleine Lücke der verstrebten Struktur und kletterte über eine zwei Meter hohe Barrikade. ,,Misst!'', dachte sie sich, als sie ihre Tasche erblickte, die sie entsprechend ihres fragilen Inhalts unsachgemäß durch die Absperrung transferiert hatte.
Nichts ahnend, dass ihre nächtliche Aktion von zwei seltsamen Gestallten beobachtet wurde, die im Schutze der Dunkelheit verharrten, betrat sie das Foyer von den Ruins. Sie machte ihr kleines Nachtsichtgerät funktionsbereit und begann zu streamen.
Dank einer ihrer Zuschauerinnen hatte sie auch noch etwas anderes im Petto. Sie arbeitete den ganzen Tag daran: Ein Ouija-Brett aus Duroplaste. Genannte Zuschauerin, ihres Zeichens keine Titatinerin mehr, schilderte, dass sie in ihrer Zeit in der Kolonie mit ihren Freundinnen nachts durch die Ruins sei und mit den Toten dieses Ortes über solch ein Brett Kontakt aufgenommen haben soll. Sicherlich keine vertrauenswürdige Quelle, aber sie wollte die Chance nicht ungenutzt lassen, vielleicht noch ein letztes Mal mit ihm zu reden. Sie ging tiefer.
Laura war noch lange wach. Sie tüftelte noch etwas an ihrem hausgemachten Staubsaugroboter. Während der Rest der Kolonie automatisch gereinigt wird, sind die Wohnquartiere der einfachen Bürger noch äquivalent zu ihrem Adjektiv gehalten, wobei man sich alles andere als beschweren konnte. Die junge Ingenieurin begutachtete ihr Tagwerk zufrieden, als ihr Mobiltelefon einen schrillen Ton von sich gab. Es war ihr Abodement, das ihr eine Nachricht sendete. Ihr Abo von Charlies Blog. Ihr blieb die Spucke weg, als sie sah, wo sie sich rumtrieb.
Sam watschelte wie ein Aufziehmännel das Zimmer auf und ab, gefolgt von Benjamins Blick … Tilo derweilen schlief proportional zur Helligkeit sehr laut.
Sam hatte sich von seiner Serie nervenaufreibender Panikattacken erholt und versuchte erfolglos, den Ursprung seiner plötzlichen Zahlen-Obsession zu eruieren. Entgeistert setzte er sich neben Benjamin, der ihn übernächtigt anlächelte. „Was zur Hölle war das eigentlich?”, beschwerte sich Sam.
„Keine Ahnung?”, fragte Benjamin. „Du hast ja auch keine Ahnung, was nerv' ich dich eigentlich damit?!”, sagte er und legte seinen Kopf versehentlich statt an den Bettträger auf Benjamins Schulter, was aus seiner Müdigkeit resultierte. Rein platonisch, aber Benjamin interpretiert die Geste ganz anders und streckte die Seine nach Sams Hand aus, spitzte die Lippen …
„Warte … hörst du das?”, sprang Sam zu Benjamins Enttäuschung auf, der merkte, dass es doch keine Intimität war. Unten an der Tür ratterte es im Schloss. Sie lugten die Wendeltreppe hinab. Die Haustür wurde mit einem gewaltigen Satz so derbe aufgerissen, dass ihr Werkstoff sprang und die Wände vibrierten.
Benjamin quittierte dies mit einem entsetzten Laut. „Was haben alle gegen unsere Türen?”, fragte er in die sich öffnende Runde. Tilo sprang vor Schreck aus dem Tiefschlaf, klammerte und hing sich an das Lattenrost über sich, so wie es diese Cartonkatzen immer taten.
Laura, dicht gefolgt von Marta und zu ihrer Überraschung Gregor stürmten herein.
„Was verschafft uns die Ehre”, begann der nun wieder hellwache Benjamin, „Das wir euch zu so später Stunde auf Kosten unserer Tür empfangen dürfen?”
„Tut mir leid Jungs, aber es ist wichtig”, prangerte Marta. „Hier seht!”, forderte Laura auf, die ihr Handy hochhielt.
„Moment, Moment, Moment! Ist das 'Titan-News'?”, fragte Sam ungläubig. „Jup”, antwortete Charlie. Marta kommentierte beiläufig: „Die Gejagte wurde zur Jägerin. Sie will Lucas rächen!”
Die halbnackten Jungen schlüpften in ihre Gewänder und schlossen sich blitzartige der Gruppe an, die zu Punkt Gelb stürmte.
Gregor hielt zu ihrer aller Sicherheit ein scharfes Maschinengewehr im Anschlag. Die Polizei konnte hier ihnen nicht helfen, da die Ruins Sperrgebiet war und somit jeder es auf eigene Gefahr betrat, selbst wenn es Kinder wären … Nur Gregor konnte es mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren, bei dem was er hier sehen musste.
Sie standen in den Lichtkegeln der inzwischen viel zu vertrauten Lanternshall 13 und blickten gen der zerstörten Barrikade hinter der die Eingänge von den Ruins hervorlugten. Was auch immer sie zerstört hatte, war entweder ein oder ausgebroch, aber das war nicht die Frage. Was um alles in der Welt war stark genug, eine Betonwand zu zerdeppern?