Unsere neuen Brüder

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Radiowellenübertragung vom 01.03.2020
Übersetzung wie folgt:

Gruppe [SCHLANGENKOPF] hat [HEIMAT] erreicht.
75 [KINDER] haben überlebt.
Keine weiteren Portale haben sich geöffnet.
Wir gedenken eurer, gefallene [KINDER].
Das Lied des [TOTER GOTT] spielt nie wieder.

Keine weiteren Kommunikationsversuche wurden unternommen.


Unsere neuen Brüder

So öffnete sich endlich der Schlund des Portals vor uns und gab den Blick auf eine verschwommene Landschaft frei. Meine Kinder jubelten nicht, sie waren noch zu schockiert von den Erlebnissen der vergangenen Stunden. Einige lagen noch immer in derselben Position da, wie sie zusammengebrochen waren. Einige tot, einige schwer verletzt. Die anderen hatten ihre Augen entweder auf mich, oder auf das Leuchten des Portales gerichtet, die einzige Lichtquelle, welche die Dunkelheit der Höhle, in welcher wir gelandet waren, durchschnitt. Es hatte nicht lang gedauert, bevor das erste Portal sich schloss, aber das Bangen um das hoffentlich danach erscheinende hat die Minuten in eine Ewigkeit gezogen. Aber das Schicksal blieb uns gnädig. Nicht nur hatten fast alle meiner Kinder überlebt, auch war das zweite Portal für uns gekommen. Die Heimat war nah.
Ich erinnerte mich an meine Aufgabe und straffte meinen Rücken, setzte ein feierliches Gesicht auf und verdrängte die Gedanken aus meinem Kopf. Ich hatte die Aufgabe erhalten, die anderen Kinder zu leiten, ihnen Hoffnung zu geben und alle sicher durch die Portale zu führen. Ich ließ einen letzten Blick über meine Kinder schweifen - neunzig von hundert, davon dreizehn Krieger, fünf Gelehrte und der Rest gesunde Familien, zwei Reittiere und ein Transporter mit Lebensmitteln und Schriften. Ich fühlte Stolz. Trupp Vogelkopf hatte überlebt und konnte unsere Kultur, nein, unser Volk, am Leben erhalten. Ich nickte ihnen ermunternd zu und sprach, dass es Zeit war, zurückzukehren. Sie sollten keine Angst verspüren, wir wurden erwartet. Jeder würde seinen Platz in der Heimat erhalten; jeder ein gefeierter Held sein.

Ich gab der Gruppe Krieger ein Zeichen, sich aufzuteilen. Die Hälfte mit mir an der Spitze, die andere an das Ende des Zuges, um die Verletzten und Schwachen zu eskortieren. Dann traten wir durch die leuchtende, schwummrige Fläche, die uns zwang, die Augen zu verschließen, bis wir sie vollkommen durchschritten hatten. Es empfing uns ein seltsam kribbelndes Gefühl auf der Haut, ein Ziehen und Zerren an unserem Innersten, welches uns mittlerweile vertraut war. Als die ersten mit mir vollständig hindurchgeschritten waren, öffneten wir die Augen.
Aber uns begrüßte nicht das Volk der Kinder. Kein leuchtender, türkisfarbener Himmel. Keine Lieder der Götter. Wir blickten in eine weitere Höhle, nassfeucht und mit Pflanzengestrüpp überwuchert. Darin standen in einem Halbkreis knapp zehn Figuren in dunklen Farben und Panzerungen, ähnlich denen meiner Krieger. Sie hatten keine Gesichter, es waren menschliche Dämonen, zum Angriff bereit. Ihre Arme gingen über in glänzende Gegenstände, die meine Krieger instinktiv als Gefahr identifizierten und sich ebenfalls in Angriffshaltung begaben. Ein lautes Geräusch erklang und ein grelles Licht wurde auf meine Kinder gerichtet, welches uns blendete und die Augen verdecken ließ.
Ich wusste, etwas musste furchtbar falsch gelaufen sein, ich musste handeln, bevor noch mehr Kinder starben! Ich blinzelte gegen das grelle Licht an, bewegte mich vorsichtig vorwärts, was den Dämonen Rufe in einer mir noch nicht bekannten Sprache entlockte. Sie griffen jedoch nicht an, ein Zeichen, was ich als positiv verstand und so senkte ich langsam die Arme und bot ihnen eine Geste dar, die absolute Ruhe und Ergebenheit sprach. Ich ging nicht davon aus, dass sie mich verstehen würden, dennoch flehte ich sie trotz meiner inneren Anspannung und Angst an, meinen Kindern nicht noch mehr Leid zuzufügen, wir waren ein sterbendes Volk.

Es schien eine Wirkung zu zeigen, da ein Dämon den glänzenden Kopf drehte und in einen schwarzen Kasten an seiner Brust sprach. Kurz darauf ebbte das gleißende Licht ab und der Dämon kam näher. Ich dankte innerlich meinen Kriegern für ihre Zurückhaltung und Beherrschung und betete zu den verbleibenden Göttern, dass das Portal halten würde, uns die Dämonen passieren lassen würden. Vielleicht war dies nur ein weiterer Zwischenstopp? Eine weitere Sicherheitsvorkehrung der Oberen? Eine Prüfung? Bevor ich mich in den Sorgen verlieren konnte, besann ich mich meiner Aufgabe und trat einen weiteren Schritt auf den Dämonen zu, der gesprochen hatte. Die Gruppe folgte jeder meiner Bewegungen aufmerksam, aber nicht mehr in absoluter Kampfhaltung. Sie schienen uns, ebenso wie unser Volk es eigentlich hätte tun sollen, erwartet zu haben. Ich musterte die Figur vor mir. Deutlich zeichneten sich die Linien seiner Panzerung und Kleidung ab und ich verstand, dass dies kein Dämon, sondern ein Mann war. Er griff an seinen Hals und mit einer geübten Bewegung seiner Hand entfernte er seinen glänzenden Helm und ein Stück Stoff, welches nur seine Augen freigelassen hatte. Die kühlen Augen eines erfahrenen Kriegers blickten mir nun entgegen, umrahmt von einem vom Leben gezeichneten Gesicht mit markanter Narbe und ich spürte eine Welle der Erleichterung aufkeimen, unterdrückte sie aber. Die Krieger vor uns konnten immer noch eine Gefahr für meine Kinder bedeuten.

Ich sah, wie die Lippen des Mannes sich leicht kräuselten und er zum Sprechen ansetzte. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, was er sagte, später lernte ich, dass seine Worte "Willkommen in der Schweiz, Zwanzig-Zwanzig" bedeutet hatten.

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