Theaterstück

Anmerkung: Alle Personen und Handlung sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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"Danke, Opa, bis später!"

Kayla beugte sich über die Mittelleiste, um ihren Großvater kurz zu drücken, bevor sie sich zur Rückbank umdrehte.

"Hailey, pass' auf, dass dein Ur-Opi keinen Unfall baut, ja?"

Hailey nickte mit einem breiten Lächeln.

"Tschüss, Mami!"

Kayla wuschelte ihrer vierjährigen Tochter kurz durch die Haare, bevor sie aus dem Auto stieg und über die Straße hinüber zur Sporthalle eilte. Sie öffnete die schwere Türe und lief den kurzen Flur entlang, bevor sie links abbog und die Halle selbst betrat.

"Du bist zu spät, Kayla!", rief ihre beste Freundin Lina, "die Probe fängt in drei Minuten an!"

An dem einen Ende der Sporthalle war eine temporäre Bühne aufgebaut worden, die morgen als Schauplatz für das Abschlussstück der Theater-AG dienen würde. Lina stand davor und fuchtelte mit den Armen herum, während sie zusammen mit Frau Horstschuh die acht anderen Mitglieder der AG koordinierte und vorbereitete.

"Hailey wollte nicht bei Oma bleiben und unbedingt mitkommen, tut mir leid. Ich bin sofort fertig", meinte Kayla, bevor sie ihre Tasche auf den Boden fallen ließ und schnell das Kostüm anzog. Es bestand aus einer Hose und einem Pullover, beides in schwarz gehalten, und darauf eine weiße Schürze. Auf ihren zu einem Knoten gebundenen Haaren thronte eine ebenfalls weiße Kochmütze. Hände und Gesicht waren gepudert mit Mehl - sie spielte eine Bäckerin. Keine besonders große Rolle, sie war der AG schließlich erst vor zwei Monaten beigetreten. Nichtsdestotrotz würde sie gegen Ende des Stückes etwas Action zu sehen bekommen.

Das Theaterstück war, gelinde ausgedrückt, schwachsinnig und nicht zwingend für ein Schulpublikum geeignet. Wie Frau Horstschuh es geschafft hatte, damit an der Schulleitung vorbeizukommen, war jedem ein großes Wunder.

"Okay! Lisa, du darfst anfangen", kam es von der allseits beliebten Lehrerin.

Lisa sprang energetisch auf die Bühne und begann die eröffnende Rede.

"Herzlich willkommen zum ersten Abschlussstück der Theater-AG des Schuljahres zweitausendsechs, zweitausendsieben!"

Die Rede dauerte viel zu lange - genau wie jede andere Rede auch - doch irgendwann war es endlich Zeit für das Theater.

Das Stück spielte in einem mittelalterlichen Setting und handelte von einem Händler, der eines Tages in einem kleinen Dorf auftauchte und sich direkt beliebt machte. Doch nur zwei Tage nach seiner Ankunft wurde die Leiche des lokalen Metzgers aufgefunden und natürlich wird der Händler direkt für den Übeltäter gehalten. Einer nach dem anderen konfrontieren die Dorfbewohner den Fremden. Kayla - beziehungsweise die Bäckerin, die sie spielte - war als fünfte an der Reihe.

"Ooh, Ihr Fremder! Mit eurer feinen Seide und wertvollem Gold, mit unbekanntem Gewürz und nie gesehener Kunst, ja, was treibt euch in unser Dorf? Die Kruste meiner Brote mitnichten, das krumme Holz der Herrn Schreiner wohl ebenso wenig! Lasset mich raten, Ihr seid kein Händler, stattdessen wohl ein gewitzter Dieb! Nehmt den Reichen ihr Gut, um besser dazustehen! Nicht wahr, nicht wahr?"

Hierauf folgte eine kurze Stille, der Händler stand langsam von seinem Hocker auf.

"Ooh, doch nun seid Ihr nicht länger nur ein Dieb, nein, nun seid ihr auch noch ein Mörder! Ermordet habt Ihr den armen Herr Metzger, erwürgt und erdrosselt! Ich rieche den Gestank des rohen Fleisches und des Blutes an euch seit dem Tage, da er tot aufgefunden. Ooh, wir haben's rausgefunden, was wollt Ihr nun tun, Mörder? Uns alle abschlachten?"

Der Händler reagierte wie nach Skript vorgeschrieben und stand mit zwei großen Schritten direkt vor ihr. Kayla machte sich bereit, ihren Kopf im Schaukampf zur Seite zu reißen, als plötzlich ein realer Schmerz durch ihr Gesicht raste. Ihr Mitschüler hatte ihr gerade tatsächlich mit voller Kraft auf die Nase gehauen.

Die anderen zogen scharf die Luft ein und eilten sofort zu Kayla, als sie auf der Bühne zusammenbrach und sich das Gesicht hielt. Sie konnte kaum klar sehen und hatte ein widerliches Klingeln in den Ohren, das lauter und lauter wurde. Sie blickte den Händler an, er hatte einen geschockten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Frau Horstschuh schob sich dazwischen und hielt ihr ein Handtuch hin.

Das Klingeln in ihren Ohren wurde lauter, sie hörte kaum etwas anderes mehr. Nein, sie hörte sonst nichts mehr. Ihr wurde langsam schwarz vor den Augen, sie spürte, wie sie anfing zu zittern.

Dann das Rauschen ihres Atems.







Ein






Aus






Wieder ein






Und wieder aus












Es wurde immer lauter.












Ein






Aus






EIN






AUS






EIN






AUS


















Stille





























Doch dann sah sie auf einmal schärfer als ein Falke und hörte besser als eine Fledermaus. Frau Horstschuh und der Händler wichen erschrocken zurück als sie sich rasend schnell aufrichtete.







Der Händler.






Rohes Fleisch.






Blut.





Frau Horstschuh wurde von den Füßen gehoben und von der Bühne geschleudert, Kayla stand plötzlich direkt vor dem Händler. Sie rammte ihre Faust in sein Gesicht, doch hielt ihn fest. Langsam stieß sie ihre Finger in seine Augen. Er schrie, doch nicht laut genug. Sie bohrte fester, seine Schreie ein wahrer Schmaus für ihre Ohren. Dann hob sie ihn an den zwei Fingern hoch und warf ihn mit aller Kraft zu Boden. Er wurde plötzlich sehr still, doch die anderen machten zu viel Lärm. Es tat weh in ihren Ohren. Sie blickte sich um und sah, wie vier der Mitschüler auf den Notausgang zurannten.

Mit einem Satz stand sie vor ihnen, als sich ihre Finger zu grässlichen Klauen verformten, die sich tief in das Fleisch der anderen bohrte. Einer nach dem anderen fing endlich an zu schweigen, als sie den Brustkorb aufriss, den Kopf zerquetschte, die Luftröhre ausriss und das Gesicht zerbiss.

Wild rannte sie quer durch die Halle auf drei weitere Mitschüler zu, eine von ihnen hatte ihr Telefon am Ohr und gellte irgendwas Unverständliches hinein. Sie hielt endlich die Klappe, als sie mit voller Kraft durch die Luft geschleudert wurde und gegen die Wand prallte, sodass sie dort einen tiefroten Fleck hinterließ. Die anderen beiden, die dort standen, machten nur noch mehr Lärm. Es schmerzte in Kaylas Ohren, sie ertrug es nicht. Sie hob sie mit je einer absurden, klauenbesetzten Hand in die Luft und donnerte ihre Köpfe wiederholt gegeneinander, bis sie endlich schwiegen.








Endlich Stille










Dann ein leises Wimmern. Kayla drehte sich danach um. Sie sah Lina dort hocken, direkt neben der zitternden Frau Horstschuh. Mit langen Schritten verringerte sie die Distanz, bis sie direkt vor den beiden stand. Erst jetzt nahm sie wahr, wie viel weiter sie die beiden überragte als sonst. Sie blickte an sich hinab und sah eine verzerrte, absurde Version ihrer selbst. Sie atmete tief ein und wieder aus, und ihr Körper begann wieder zu schrumpfen und normal zu werden.

"Kayla…", meinte Lisa ohrenbetäubend leise.

Plötzlich begann Kalyas ganzer Körper wieder zu zittern, als das Absurde erneut hervordrang. Sie spürte, wie sich ihre Zähne zu ellenlangen Fängen verformten, die schnell den Hals ihrer besten Freundin fanden.

Nun kreischte Frau Horstschuh auf, doch ein einziger Hieb mit ihrer Faust - nun eher eine knöcherne Keule - genügte, um sie für immer zum Schweigen zu bringen.





Endlich.




Endlich Stille.




Endlich wahre Stille.




Ihr Körper schrumpfte diesmal wahrlich zurück in ihre normale Form. Kayla blickte sich um. Sie war umzingelt von Leichen, überall war Blut. Ihre zuvor weiße Schürze und Kochmütze präsentierten nun einen tiefroten Farbton, selbst ihre Hände waren komplett rot.

Der metallische Geschmack in ihrem Mund wurde überwältigend und sie fiel auf die Knie, bevor sie sich großzügig auf den Hallenboden übergab. Tränen liefen ihre Wangen herunter, als sie auf den Leichnam ihrer besten Freundin zurobbte. Als sie bemerkte, dass ihr Kopf zwei Meter entfernt auf dem Boden lag, übergab sie sich ein weiteres Mal. Dann legte sie sich einfach auf den Rücken und weinte und brüllte, als sie von Schuldgefühlen überrannt wurde.

Sie lag dort erst wenige Minuten, als plötzlich durch alle Eingänge bewaffnete Soldaten in die Halle stürmten. Sie riefen ihr irgendwelche Befehle zu, doch der Lärm wurde wieder zu überwältigend. Ihr Körper wurde wieder von einem Beben erfasst, doch ein kleiner Pikser in ihrem Rücken genügte, um sie bewusstlos vornüber fallen zu lassen.


"Kayla Arind, neunzehn Jahre alt, dreizehntes Schuljahr. Mutter war Katherine Arind, sie hat im Alter von siebzehn Jahren kurz nach Ihrer Geburt Suizid begangen. Vater unbekannt. Seitdem bei Großvater James Arind und Großmutter Luisa Arind aufgewachsen. Ihre Tochter ist Hailey Arind, vier Jahre alt, der Vater Ihr Ex-Freund, der kurz nach ihrer Geburt weggezogen ist. Stimmt das alles?"

Kayla saß zusammengekauert in der hintersten Ecke ihrer kleinen Zelle auf ihrem Bett. Sie war komplett in unangenehme, grell orangene Kleidung gehüllt. Ihr Bein war mit einer etwa zweieinhalb Meter langen, schweren Kette an der Wand gesichert, die der Tür gegenüberstand. Direkt vor der Tür stand ein grauhaariger Mann, wahrscheinlich in seinen frühen Fünfzigern. Flankiert wurde er von zwei Wachen, jede mit einem Gewehr in der Hand und einer Pistole am Gürtel. Alle drei trugen ein merkwürdiges Symbol auf ihrer Kleidung: Es war ein Kreis mit drei rechteckigen "Auswüchsen". Aus diesen wuchs je ein Pfeil zur Mitte des Logos, wobei sie einen weiteren, kleineren Kreis durchstießen.

Kayla nickte nur schwach als Antwort, bevor sie leise sprach: "Kann ich meine Tochter sehen? Bitte?"

Der grauhaarige Mann in seinem weißen Kittel setzte einen bedauernden Gesichtsausdruck auf.

"Tut mir leid, Frau Arind. Sie sind jetzt in der Obhut der SCP Foundation und werden hier wahrscheinlich den Rest Ihres Lebens verbringen. Ich befürchte, das wird nicht möglich sein. Uns geht es in erster Linie darum, zu sichern, einzudämmen und zu schützen. Und gerade mit letzterem Ziel ist Ihr Wunsch nicht vereinbar."

Der Mann klopfte an der Tür, woraufhin diese geöffnet wurde. Er drehte sich noch einmal im Rahmen um.

"Oh, aber keine Sorge, wir werden noch öfters die Möglichkeit haben zu reden. Verabschieden Sie sich schonmal von Ihrem alten Leben. Auf Wiedersehen."

Damit verließen er und die Wachen den kargen Raum. Kayla kauerte irgendwie noch kleiner zusammen, als ihr die Tränen in Strömen die Wangen hinab liefen.

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