Die Trauerfeier war größer als Jack erwartet hatte. Es muss gegen die Regeln verstoßen haben, dass sich so viele leitende Angestellte der Foundation zur gleichen Zeit am gleichen Ort aufhielten. Aber auch die Rekrutierung von ausgemusterten GOC-Agenten, und Alto war auch dafür eine Ausnahme.
"Außergewöhnlich ist ein gutes Wort für ihn", sagte Jack zu sich selbst.
"Du hättest das nie zu ihm persönlich gesagt, oder?"
Jack schaute über seine Schulter. Sophia stand hinter ihm, trug eine schwarze Hose und ein weißes Button-down-Hemd.
"Und seinem Ego noch einen Schub geben? Auf gar keinen Fall."
"Da ist was dran."
"Es ist schön, dich zu sehen."
"Es ist auch schön, dich zu sehen, Jack."
"Wir müssen mal zusammen was trinken, wenn es nicht, du weißt schon, nach einer Beerdigung ist. Es ist wie lange her? Fünf Jahre?"
"Sieben denke ich."
"Hmm. Das passt schon."
Sophia nickte und beide wurden still. Jacks Blick wanderte wieder zum Grabstein. Er war klein, was Alto gehasst hätte. Es stand noch nicht einmal der Name "Alto Clef" darauf. Stattdessen hatten sie den Namen "Jonathan Sealee" eingraviert. Aber so ist das Leben in der Foundation, im Dunkeln sterben und all das.
"Haben sie dir erzählt, wie er starb?", fragte Jack nach einer Weile.
"Nein. Dir?"
"Nö."
"Hast du gefragt?"
"Mindestens ein Dutzend Mal", antwortete Jack. "Typisch Clef, nicht wahr? Stirbt sogar auf mysteriöse und geheime Weise."
Jack lächelte. "Er war ein Verräterbastard, nicht wahr?"
"Das war er. Ein mutiger Bastard, aber ein Bastard."
Das letzte Mal, dass Jack Alto sah, war auf der Hochzeit seines Sohnes. Er hatte Alto eingeladen, nur um die unwahrscheinliche Gelegenheit zu nutzen, den Bastard wiederzusehen, aber er erwartete nicht wirklich viel davon. Er verpasste die Zeremonie und das meiste vom Empfang. Doch als die Nacht zu Ende ging und die Leute zur Tür schlurften, kam ein bekanntes Gesicht durch die Menge auf Jack zu.
"Sieh an, wer beschlossen hat, seine hässliche Visage zu zeigen!", rief Jack.
"Ich wäre ein beschissener Pate, wenn ich das Ganze jetzt verpasse, oder?"
"Du hast die Zeremonie verpasst, du bist immer noch ein beschissener Pate." Jack gab Alto einen festen Schlag auf den Rücken. "Willst du etwas trinken?"
"Nein, danke. Ich muss sowieso noch nach Hause fahren."
"Oooh, sieh dich nur an. Herr Verantwortungsbewusst."
"Ich bin jetzt schon seit Jahren vorsichtiger, weißt du."
Jack nahm noch einen Schluck von seinem Bier. "Erzähl mir doch nichts. Es ist doch vielleicht erst zwei Monate her, dass wir in Bolivien in diese Messerstecherei geraten sind. Deine Finger fast abgeschnitten zu bekommen ist nicht sehr vorsichtig."
"Das ist vor fünf Jahren passiert, Jack."
"Warte, wirklich?"
"Ja."
"Huh, ich glaube mein Zeitgefühl ist durcheinander."
Alto lächelte und geleitete einen wackeligen Jack zu einem Stuhl. "Wie viel hast du schon getrunken?"
"Das ist ungefähr mein achtes oder so?"
"Komm mir bitte nicht mit Alkoholvergiftung. Erinnerst du dich daran, als du zu viel vor dem Meeting des gesamten Standorts getrunken hast?"
"Nicht wirklich, nein. Ich bin so hart abgestürzt."
"… kann man wohl sagen. Du bist gestorben."
"Das klingt ein wenig dramatisch", antwortete Jack mit einem breiten Grinsen auf seinem Gesicht.
"Sie haben dir einen Ersatzkörper besorgt."
"Ich verstehe …" Jack beäugte Alto misstrauisch. Er hätte sich das ausdenken können. Das war vor zwanzig Jahren, mindestens. Er hätte sich Scheiße aus seinem Arsch ziehen können. "Nun, was ist mit dir, Champ?"
"Du nennst mich nie Champ."
"Ich bin stockbesoffen, okay? Jetzt sag mir, was du vorhast."
"Geheim."
"Oh, verpiss dich. Du ziehst jedes Mal los und rettest ganz allein die Welt, und ich muss hierbleiben und den Papierkram erledigen. Du könntest mir wenigstens ein paar gute Geschichten erzählen."
"Vertrau mir, die Geschichten sind gar nicht so gut."
"Komm schon, bitte. Nur eine."
"Ich weiß nicht. Ich werde alt, Mann. Sie schicken mich nicht mehr los, um die interessanten Dinge zu erledigen, wie sie es sonst gemacht haben."
"Du killst immer noch Typ Grün."
"Manchmal."
"Also das ist immer noch interessant."
"Ich wünschte, das wäre es nicht."
"Wie bitte?"
"Interessant ist wirklich nicht mehr das, wonach ich suche."
"Huh."
Jack starrte Alto einfach ein paar Sekunden an. Alto winkte mit seiner Hand vor Jacks Gesicht.
"Bist du noch da?"
"Ja, ja. Ich denke nur nach. Es ist wirklich lange her, seit wir uns unterhalten haben."
Alto lächelte ein wenig. "Ich denke das ist es."
"Ist dir etwas zugestoßen?"
"Wahrscheinlich."
"Wahrscheinlich?"
"Es ist geheim."
"Ach, fick dich."
Alto klopfte Jack auf den Rücken und schaute auf seine Uhr.
"Scheiße. Ich sollte wirklich gehen."
"Wirklich? Du bist doch erst seit zehn Minuten hier!"
"Ich habe ein Meeting drüben in Neunzehn. Dieser Ort hier war auf dem Weg."
"Natürlich. Musste bequem für dich sein."
"Bis später, Jack."
"Wir müssen irgendwann was trinken!"
Und das waren die letzten Worte, die er jemals zu ihm sagte.
Sophia und Jack starrten auf das Grab, bis nur noch sie übrig waren. Sophia hatte einen Regenschirm mitgebracht, aber es stellte sich als unnötig heraus; sogar die Vorhersage sagte, dass es ein sonniger Tag werden würde. Also gab es keinen echten Grund für Sophia, zu ihrem Auto zurückzukehren. Sie war nur davon gelangweilt, dort schweigend herumzustehen.
"Hey, nimmst du mich mit zum Empfang?", fragte Jack Sophia.
"Bist du nicht selbst hierher gefahren?"
"Ich nahm den Bus, aber ich glaube nicht, dass es eine Linie gibt, die zu Neunzehn fährt."
Sophia lächelte vor sich hin. "Du bist nutzloser als Alto."
"Ich kann nicht sagen, ob das gut oder schlecht ist", antwortete Jack als er aufholte. "Wie gut kanntest du ihn überhaupt?"
Sophia warf Jack einen durchdringenden Blick zu. Er hob kapitulierend die Hände.
"Nein, also, ich sehe dich nur selten aus deinem Büro kommen und ich bin auch ein Direktor. Ich kann mir nur nicht vorstellen, warum du mit Clef so oft sprech…"
"Wer glaubst du, hat seine Missionen geleitet?"
"… Aufseher?"
"Das ist nicht lustig, Jack", antwortete Sophia. Sie schloss einen weißen Toyota Camry auf. Sie hätte sich etwas Schickeres leisten können, doch Sophia war immer Minimalistin. Jack setzte sich auf den Beifahrersitz und die beiden fuhren los.
"Hast du damit all deine Zeit verbracht? Clef leiten?”, fragte Jack.
"Natürlich nicht. Aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es meinen Terminplan nicht etwas gelockert hätte."
"Und du weißt nicht, was ihm zugestoßen ist?"
"Keine Ahnung."
Das letzte Mal, dass Sophia Alto sah, war in einer Standard-Nachbesprechung. Der Mann konnte ihr scheinbar nicht in die Augen sehen. Sein Kopf war gesenkt und seine Wirbelsäule wie ein Fragezeichen geformt. Bei den wenigen Malen, die Sophia ihm ins Gesicht schauen konnte, war es offensichtlich, dass er nicht gut geschlafen hatte.
"Missionsstatus?", fragte Sophia. Sie kannte die Antwort, doch die formelle Bestätigung war ein Standardverfahren.
"Erfolg."
"Alle Kampfziele erreicht?"
“Ja. Das Ziel wurde eliminiert.”
“Irgendwelche Zeugen?”
“Ja. Seine beiden Söhne und seine Frau.”
“Waren sie sich bewusst, dass das Ziel anomal war?”
"Es schien nicht so. Ich habe sie dennoch amnesiziert, nachdem es vollbracht war. Sie glauben, dass er bei einem Autounfall starb. Standardverfahren."
"Gibt es irgendetwas anderes zu berichten?"
"Ja."
Sophia legte den Kopf zur Seite. Normalerweise endete die Nachbesprechung hier. Alto würde durch die Tür gehen und Sophia hätte sein unrasiertes Gesicht einige Wochen nicht mehr sehen müssen. Sie wollte es hinter sich bringen.
"Um was geht es?", forderte Sophia auf.
Endlich schaute Alto zum ersten Mal während des gesamten Treffens auf. "Ich möchte gern in Reserve gestellt werden."
Sophia unterdrückte ein Lachen. "Du? In Reserve? Warst du in einer Bar, bevor du hierhergekommen bist? Anfrage abgelehnt."
"Was?" Alto stand auf und näherte sich Sophias Schreibtisch. "Warum?" Sie konnte die Ausdünstungen nach der Mission riechen, die von ihm kamen. Der Mann hatte vor etwa einem Jahr damit aufgehört, während der Missionen zu baden. Als sich Sophia beschwerte, schob Alto es auf den Stress, aber niemand glaubte das wirklich. Sophia brauchte alle Kraft, um Augenkontakt zu halten.
"Du bist unser zuverlässigster Agent bei der Neutralisation von Typ Grün. Niemand schafft das nur annähernd."
"Ich werde jeden Tag unzuverlässiger!", sagte Alto. Er streckte die Hand vor Sophia aus. Sie zitterte wie ein Erdbeben. "Sieht das wie die Hand eines Scharfschützen aus?"
"Nun, du musst etwas tun, damit es funktioniert." Sophia konnte fühlen, wie sich Tränen in ihren Augen bildeten. Sie stachen von Altos Geruch.
"Es funktioniert nur, bis es das nicht mehr tut. Eines Tages komme ich in einem Leichensack zurück."
"Was macht den großen Dr. Clef plötzlich so ängstlich vor dem Tod?"
Alto lehnte sich über den Tisch. "Vielleicht möchte ich ein paar Jahre in Frieden verbringen, hast du jemals daran gedacht? Angesichts meiner Leber kann ich nicht mehr als sieben oder acht übrig haben. Vielleicht könntest du einen alten Mann mal ein wenig leben lassen?"
Sophias Nase konnte es nicht mehr ertragen. Sie drehte sich von dem Mann weg und rieb sich die Augen.
"Anfrage immer noch abgelehnt. Wenn du wirklich kündigen willst, nimm es mit dem Rat auf."
Und das waren die letzten Worte, die Sophia zu ihm sagte.
Die beiden kamen am Standort-19 an, nickten sich gegenseitig zu und gingen dann getrennte Wege. Sie mischten sich beim Empfang unter die Leute und versuchten ihr Bestes, über etwas anderes als diese Nervensäge zu sprechen, die sie eben beerdigt hatten. Doch sie konnten nur die Schwere in der Luft spüren. Dieses "Du weißt nicht, was du hast, bis es weg ist"-Gefühl, das mit dem Ende der Dinge kommt.
Währenddessen gab irgendwo tief in Standort-19 ein Verwaltungsassistent Sterbeurkunden in die Foundation-Datenbank ein. Er hatte eine höhere Freigabe als jeder Standortdirektor und einige O5-Mitglieder. Aber das war hauptsächlich deshalb, da sie jemanden brauchten, der diese Informationen eingibt, und sie wollten nicht die Zeit von O5-3 verschwenden.
Nicht, dass der Assistent verstand, was so vertraulich an diesen Sterbeurkunden war. Er kannte keinen der Agenten oder Doktoren oder die Foundation, also konnte er keinem der Namen ein Gesicht zuordnen. Außerdem war bei den meisten Sterbeurkunden die Todesursache sowieso unbekannt.
Aber er wusste, wie wichtig Buchhaltung ist, und da er dafür bezahlt wurde, tat es der Assistent. Er saß in seinem eigenen kleinen Büro, vom Rest der Foundation abgeschottet und fuhr damit fort, die Namen, Todeszeitpunkte und N/As einzugeben. Doch bei etwa der Hälfte des Stapels stieß er auf eine Karte, die schließlich eine Todesursache angab.
Name: Jonathan Sealee
Todeszeitpunkt: 19.04.2019, 16:33 Uhr EST.
Todesursache: Getötet während eines Autounfalls auf dem Weg, seine Tochter vom Ballettunterricht abzuholen.
"Hmm."
Und dann machte er mit der nächsten Karte weiter.