Seltsame Dinge geschehen an ruhigen Tagen; Phantom Des Kollektives

scp-heritage-v3.png
Bewertung: +1+x
Bewertung: +1+x

Am Grund des Meers || Phantom des Kollektives


Alice' Laune hatte ihren Tiefpunkt erreicht. Erst musste sie runterklettern und jetzt wieder hoch. Sie war sich sehr sicher, dass dies eine Zermürbungstaktik war, um sie kleinzukriegen. Es machte sie aber nur noch entschlossener der Strippenzieherin mit voller Wucht in den Arsch zu treten.

„Dr. Kabhu, wenn Sie mir gefälligst beim Drücken helfen würden?“

„Gebe mein Bestes, Frau Peterson, ich bin vielleicht nicht völlig auf der Höhe!“

Der Kanaldeckel ließ sich einen Spalt nach oben drücken und ein Schwall kalten, schmutzigen Gossenwassers schwappte herein. Alice zog den Kopf ein, aber dennoch lief etwas davon in ihren Kragen und ließ sie frösteln. Kabhu mochte etwas davon unangenehm in den Ärmel gelaufen sein, denn er zog den ausgestreckten rechten Arm zurück. Die Agentin suchte mit dem Stiefel Halt zwischen den Sprossen und schob den Deckel mit aller Kraft nach links, bevor die Öffnung sich wieder schließen konnte. Nieselregen fiel auf sie herab und mit ihm fahles, ungesund wirkendes Licht. Wie durch einen Tunnel blickte sie nach oben und erkannte einen trostlosen, bewölkten Nachthimmel weit über sich. Sie nahm die Waffe in die rechte Hand, stieg die letzten Sprossen hinauf und streckte den Kopf vorsichtig hinaus, dabei die Pistole im Anschlag.

Eine von einem schwarzen Pferd gezogene Kutsche näherte sich holpernd über nasses Kopfsteinpflaster und jagte an ihr vorbei. Sie zog sich endgültig aus dem Loch, der Stoff vor ihrem Knie sog sich voll mit verdreckter Brühe. Bevor sie Orma und Angelika heraufhalf, blickte sie sich um.

Diesmal hatte man sich tatsächlich bemüht, ein nächtliches Paris der Vergangenheit darzustellen, allerdings so, wie man es sich in einem Schauerroman vorstellte:
Schummriges Licht aus Gaslaternen, Gestalten, die in der Ferne über die engen Straßen und durch das Zwielicht schmaler Gassen huschten, die Häuser ein wenig zu hoch, zu krumm, zu nahe aneinandergedrängt.

Und vor ihr befand sich, eingebettet und umrahmt von den falschen Gebäuden die Opéra Garnier.
Vielmehr war es der abgeschmackte Versuch, diese nachzuahmen. Alice war bereits in Paris gewesen und kannte den Bau, jedenfalls die Fassade. Was sie vor sich sah, war eine Miniaturversion des Originals, mit deutlichen Veränderungen. Die üppigen Verzierungen waren vorhanden, doch sämtliche Schmucksäulen waren zu stilisierten Bäumen umgearbeitet worden. Durch die Fenster dazwischen glühte lilafarbenes Licht.

Die Agentin trat einige Schritte zurück, um einen Blick hinauf zur Kuppel der Oper werfen zu können. Wo sich eigentlich eine Apollonfigur mit erhobener Leier befinden sollte, befand sich ebenfalls ein Baum, der grotesk weit in den Nachthimmel ragte. Er wirkte organisch, die Wurzeln rankten am von Grünspan angegriffenen Metall der Wölbung herab, wie eine steinerne Würgefeige.

Links und rechts am Gebäude hätten sich die Figuren irgendwelcher Engel oder Musen oder dergleichen befinden sollen, Alice erinnerte sich nicht mehr genau daran. Aber auf keinen Fall hatten sich dort laszive, beinahe angeberisch anmutende Darstellungen einer Frau befunden. Das Antlitz kam Alice verdächtig bekannt vor.

Ebenerdig waren sämtliche Durchgangsbögen mit speerartigen Gitterstäben verschlossen, nur der mittlere umschloss eine Tür aus Holz, in die florale Muster eingeschnitzt waren. Alice hielt sich keineswegs für eine Kennerin, doch dies war ein frappierender Stilbruch.

„Frau Peterson…“, klagte Dr. Lichtenfeldt aus dem Schacht.
„Moment, ich helfe dir“, rief die Agentin resignierend.

„Da sollen wir dann wohl hineingehen, nehme ich an.“ Dr. Kabhu wirkte eher interessiert als vorsichtig und der Regen schien ihm äußerst unangenehm zu sein. Er wollte wohl lieber ins Trockene, ohne darüber nachzudenken, was sich in dem Gebäude befinden mochte. Hier schützt dich keiner, Omra, ihr Forscher seid ein verwöhnter Haufen, dachte Alice.
„Richtig. Wir gehen also in die entgegengesetzte Richtung. Ich habe zwar Befürchtungen, aber ich werde nicht so ohne Weiteres nach deren Regeln spielen.“

Was sie sich vorgestellt hatte, bewahrheitete sich. Personen, denen sie sich näherten, schienen wie im Nebel zu verschwinden und je weiter sie sich vom Operngebäude entfernten, desto dunkler und kälter wurde es. Alice unternahm einen gewaltsamen Versuch die Schwärze zu durchbrechen, wobei sie mit den beiden Forschern eine Kette bildete, um sie nicht zu verlieren. Und sie schaffte es. Sie betraten den Platz vor dem Palais Garnier ein zweites Mal. Die Agentin fluchte laut. Doch auch ein zweiter und dritter Versuch konnten nichts daran ändern, dass sie immer wieder auf demselben Vorplatz landeten.
„Unsere Büchertheorie können wir jedenfalls abhaken“, stellte die Jungforscherin fest. Sie hatten in einem kleinen Hauseingang Schutz gesucht, um sich zu beraten. Alice rüttelte an der Tür und klopfte mehrmals mit der Faust kräftig an das Holz, was sich selbstverständlich als sinnlos erwies.
„Warum?“, fragte sie möglicherweise etwas zu barsch, „Welches Buch sollte das überhaupt sein?“
„In … in diesem Gebäude spielt 'Das Phantom der Oper'. Aber das ist ja ein Musical. Kein Buch“, stammelte Angelika leicht verschreckt.
„Das stimmt so nicht ganz, meine Liebe. Es handelt sich bei dem Werk um einen Fortsetzungsroman von Gaston Leroux, der in einer Pariser Zeitung erschienen ist, um die Jahrhundertwende“, dozierte Kabhu.
„Das dürfte es sein, was aber völlig egal ist, weil uns so und so keine Wahl bleibt, selbst wenn 'Der weiße Hai' da drin spielen würde. Wir können nicht einmal den Morgen abwarten, es wird immer weiter regnen und die Nacht wird endlos dauern!“ Alice trat frustriert gegen die Tür.
Am Operngebäude tat sich etwas. Die Tür öffnete sich nach innen. Die Gestalt eines Mannes erschien darin. Er hielt offenbar einen altmodischen Kerzenständer in der Rechten, auf dem sechs Lichter bedenklich in der kühlen Nachtluft flackerten. Der Kerl sah genau in ihre Richtung und winkte ihnen aufmunternd, näherzutreten. Alice beschloss in Ermangelung von Alternativen erst einmal nachzugeben.
„So kommen Sie doch endlich näher, meine Damen, mein Herr. Sie holen sich den Tod da draußen!“, begrüßte sie der Mann mit einem so schweren französischen Akzent, dass es wie eine Parodie klang. Eine weiße Hasenmaske bedeckte sein Gesicht, er trug die Livree eines Pagen inklusive einer grauen Perücke mit eingedrehten Locken an den Seiten.
„Monsieur, qu'est-ce que …“, setzte Dr. Kabhu an.
„Stopp.“ Alice würde sich nicht auch noch französisches Geschwafel anhören. Sie fuhr den Theaterdiener an: „Lassen Sie mich raten, wir werden bereits erwartet, na?“
Der Mann deutete eine Verbeugung an, die beinahe dazu geführt hätte, dass seine falsche Haartracht Feuer fing.
„Sie haben vollkommen recht, Madame.“

𝄞

„Das ist doch lächerlich …“, maulte Alice. Der Diener hatte ihnen Theatermasken aufgedrückt, die sie jetzt tragen mussten. Angelika hatte sie als die von traditionellen italienischen Commedia dell’arte Theater erkannt, auch wenn sie es etwas missbilligte, dass die Zeitepoche nicht stimmte.

„Es scheint sie sehr mitzureißen“, Dr. Kabhus fröhliche Persönlichkeit schien kaum von der eher dramatischen Atmosphäre betroffen zu sein. Der Limnologe hatte das Los des gelehrten (und deutlich schlankeren) Dottore gezogen zu haben, während Angelika eine eher schlichtere Dienerin Colombina darzustellen schien.
Anscheined hatte ihr Gegenspieler und der Strippenzieher eine Vorliebe für Alice. Ihre MTF-Ausrüstung hatte die größte Veränderung durchlaufen:
Als die vermeintliche Protagonistin und damit in der Rolle der Arlecchina – der närrischen Freidenkerin – war ihr Kostüm von farbigen Quadraten übersät und der Hut schien sich in seinen extravaganten Formen mal hier, mal dorthin zu beugen. Mehrere Stoffbänder waberten bei jedem Schritte der zornigen Agentin hinterher. Auch wenn das Kleid nicht so groß und üppig war, so schien sie den Raum doch zu dominieren.
„Ich verstehe nicht ganz, was dieser ganze Zirkus soll. Ich sehe lächerlich aus! Ich bin nicht amüsiert. Und wo ist meine Waffe?“
„Ich versichere Ihnen, die brauchen sie hier nicht“, antwortete der Diener.
„Wo sie ist, habe ich gefragt.“
Der Mann mit der Kaninchenmaske seufzte und erhob den Arm. In der Hand hielt er Alices Pistole. Er reichte sie ihr.
„Bitte sehr. So gut wie neu.“
Alice kontrollierte kurz ihr Eigentum und dann richtete sie die Waffe direkt auf den Kopf des Kerls.
„Und jetzt möchte ich gerne nähere Informationen, ich spaße nicht, was ist hier los?“
„Frau Peterson …“, sagte Kabhu vorsichtig.
Der Diener zuckte die Achseln. Die SIG löste sich in Luft auf, nur um augenblicklich in der Hand des Dieners zu erscheinen.
„Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Frau Peterson“, sagte er bedauernd. Dann setzte er sich die Pistole an die Schläfe.
Er drückte ab, die Waffe entlud sich. Der Kopf schien regelrecht zu explodieren. Ein riesiger Schwall Popcorn platzte in die Luft und fiel zusammen mit dem Leichnam des Mannes zu Boden. Im selben Augenblick öffnete sich an der Wand hinter dem Tresen eine Tür. Der Diener, oder eine exakte Kopie desselben trat an sie heran und sagte bedauernd: „Wie Sie sehen, ihre Waffe ist hier nicht nötig. Vielmehr ist sie nutzlos, wenn mir die Bemerkung gestattet ist.“
„Verdammt.“ Alice fasste sich nach dem ersten Schrecken. „Und jetzt? Wie soll es weitergehen?“
Der Mann, oder was auch immer er war deutete auf eine weitere, mit aufwendigen Schnitzereien verzierte Tür.
„Bitte durch das Foyer in den großen Saal, wenn ich bitten darf, die Damen und der Herr. Achten Sie auf herabfallende Kronleuchter. Ein kleiner Scherz, verzeihen Sie bitte.“
Die Agentin trat hinter den Tresen. Kein Körper lag auf dem Boden, keine Spuren des Popcorns. Sie öffnete die Tür, durch die der zweite Diener gekommen war. Dahinter befand sich eine solide Ziegelwand. Alice schüttelte den Kopf. Sie hatten wohl tatsächlich keine Wahl, sie befanden sich vollständig in der Hand von jemanden aus dem Kollektiv, das einen merkwürdigen Sinn für Humor hatte.

Das Foyer erwies sich als gigantisch und überbordend prunkvoll. Rosafarbene Marmorplatten in der Größe von Tischplatten bedeckten den Boden und führten zu einer kolossalen Treppe, die sich an einer Stelle gabelte. Nach links und rechts führten die etwas kleineren Treppen auf eine umlaufende Empore, die an der Wand von Säulen umsäumt, wurde. Sie waren natürlich Darstellungen von Bäumen und die verbindenden Kronen bildeten das Dach des gesamten Raumes. Übermannsgroße Lüster waren symmetrisch verteilt und hielten aberhunderte von Kerzen. Sie brannten mit lilafarbenen Flammen und erzeugten einen unnatürlich wirkenden Schein. Über der gesamten Szenerie schwebten die verhaltenen Klänge eines fernen Orgelspieles.

„Irgendwo in den Gängen des Labyrinths lauerte das Phantom …“, sagte Dr. Kabhu.
„Nicht hilfreich“, antwortete Alice. Eine sonore, angenehme weibliche Stimme erklang, schien von überall her gleichzeitig zu kommen: „Eintritt die Heldin. Und ihrer Begleiter. So beginne der dritte Akt. Wir fassen zusammen für den geneigten Zuschauer. Alice betritt das Wunderland, doch lebte sie schon immer dort. Was muss sie erkennen? Ein Wesen, das sie ängstigt, wird zum Retter in der Not, gibt sich selbst zu ihrer Rettung vor dem wahren Feind: Der widerlichen Special Containment Procedures Foundation.“
„Wo sind Sie? Wenn Sie hier alles kontrollieren, können Sie sich genauso gut zeigen!“, rief Alice.
„Gemach, gemach. Wir sehen, Carneliana ist das Gute, so einfach kann die Wahrheit sein. Doch tiefer muss die Heldin gehen auf ihrer Reise des Begreifens. Den Dingen auf den Grund gehen.“
Glockenhelles Gelächter hallte von den Wänden wieder. Alice machte den Forschern eine Geste des Weitergehens und schritt energisch auf die Treppe zu.
„Was ist das? Die Heldin erkennt, dass die Foundation nichts ist, als eine Bande von Lügnern, Folterern, Kerkermeistern, Aggressoren, Mördern. Sie greift an, feige, ohne Vorwarnung, ohne Reue und bar jeden Gewissens.“
„Mumpitz! Und das Kollektiv? Greift ihr etwa nicht an, zerstört, wo ihr nur könnt und was das Schlimmste ist, setzt die ganze Welt aufs Spiel, indem ihr freilasst, was uns alle töten könnte?“, schrie die Agentin.
„Freiheit und die Zugehörigkeit zum Baum, das ist wichtiger. Nun, das große Finale, Akt Nummer drei, die Heldin erkennt sich selbst! Bitte treten Sie in den Saal!“
Alice entschied sich für die nach links oben führende Treppe und durchmaß, dicht gefolgt von den anderen die Balustrade. An deren Ende drückte sie schließlich ein imposantes Doppeltor auf.

„Willkommen im Theater der Erkenntnis!“

Vor den drei erstreckte sich ein Saal, gefüllt mit langen Reihen von gepolsterten Sesseln, der sogar noch größer als das Foyer war. Boden, Rückenlehnen, Wandvertäfelungen und die sechs Logen bestanden vollständig aus organisch-lebendigem Holz, ebenso die Bühne. Alles, was aus Stoff bestand, wie Vorhänge, Sitzbezüge und auch Absperrseile hatte die Farben des Kollektivs und seine typischen, geometrischen Muster zogen sich wie Blattrippen darüber. Am Ende des Raumes befand sich die Bühne, verhüllt von einem schweren Vorhang und davor ein halb sichtbarer Orchestergraben. Beim Näherkommen erkannten die Abenteurer, dass dort und auch auf jedem der Sitze menschengroße Marionetten saßen, Gliederpuppen mit verzerrten Grimassen, die sie unheimlich und irreal wirken ließen. Eine jede der Gestalten trug entweder einen weißen Kittel, einen Kampfanzug ähnlich dem, den Alice bis vorhin noch getragen hatte, oder die E-Klasse- und D-Klasse-Strampler. Überall war das Logo der Foundation zu sehen, allerdings stellten die Pfeile hier blutige Messer beziehungsweise Spritzen voller unangenehm aussehender Flüssigkeiten dar.
Die Musiker waren genauso in den verschiedensten Uniformen der SCP-Foundation gekleidet. Der Dirigent war ein kleiner Mann, der eine Porzellanmaske und Handschuhe trug. Er war der Einzige, dessen Bewegungen nicht ruckartig und zuckend waren.

„Ich 'eise Sie willkommen, Madame Peterson.“ Der Dirigent stoppte und die Musiker erschlafften. Er drehte sich um und verbeugte sich tief und mit einem Kratzfuß. „Ich bin Malkuth – Das Königreich. Ich 'offe I'nen und I'ren Freunden ist nichts zugestossen.“
Dass der Kollektiv-Zweig sie so freundlich begrüßte ließ selbst Alice' Zorn für einen Moment verpuffen.
„Waren Sie das also mit den Fallen?“
„Ooh, non. Ich bin nur eine unwichtige Nebenfigur. Tiferet? Schönheit? Dein Auftritt.“
Alle drei zuckten zusammen, als die Marionetten ruckartige, synchrone Bewegungen machten und zu applaudieren begannen. Die Orgelmusik schwoll an, Bravorufe gesellten sich dazu. Aus dem Nichts regneten vor der Bühne farblich abgestimmte Rosen herab. Die SCP-Foundation-Angestellten erkannten, dass Malkuth die Augen sehr verdrehte, anscheinend war ihm nicht wirklich wohl in seiner Rolle.
Langsam wurde der Vorhang aufgezogen, die künstlichen Musiker spielten einen hymnischen Tusch, angeleitet vom Dirigent.
Aus dem Zwielicht trat eine Frau in einem barocken Kleid, das ihre perfekt anmutende Figur stark betonte. Sie trug eine Halbmaske, die auf einer Seite ihr Kinn bedeckte, auf der anderen den Blick auf volle, rotgeschminkte Lippen ermöglichte. Sie warf ihr Haar zurück und knickste. Die Bewegung machte auf Alice allerdings nicht den Eindruck einer demütigen Höflichkeitsbezeugung, sondern sie wirkte arrogant und selbstgefällig. Die Bravorufe verwandelten sich in einen wahren Begeisterungssturm, gemischt mit dem unangenehmen Geklapper und Geratter der künstlichen Glieder, und plötzlich lag ein beinahe betäubender Duft aus Flieder und Veilchen in der Luft.
„Wer ist das, Alice?“, fragte Angelika flüsternd.
„Das beknackte Phantom, würde ich meinen“, gab Alice zurück.
„Ich“, hob die Frau, die Alice nun als diejenige erkannte, die die Figuren auf dem Dach der Oper dargestellt hatten an „bin die Schönheit! Die Schönheit des Baumes! Ich bin…“
Sie zog sich die Maske schwungvoll und pathetisch vom Gesicht.

Tiferet!

Eine weitere angedeutete Verbeugung, mehr Jubel, ein weiterer Tusch. Sie ist atemberaubend, dachte Alice unfreiwilligerweise.
„Glückwunsch! Eine Entführerin, der Feind, was auch immer. Du steckst in Schwierigkeiten, Tiferet!“, rief die Agentin zornig, was ihr Gelächter von der Bühne einbrachte. Angelika und Kabhu zuckten zusammen, als sich die Köpfe der Figuren mit einem Ruck zu ihnen drehten, mitunter um 180 Grad.
„Oh nein, das bin ich nicht. Ich bin deine Hilfe, deine Rettung!“, behauptete Tiferet. Jedes Mal, wenn sie sprach, setzten die Geräusche einen Moment aus, sodass sie gut zu verstehen war.
„Was haben Sie mit uns vor? Wir haben Ihnen doch nichts getan?“, wollte Kabhu wissen.
„Mit dir, Fischdoktor? Mit dem kleinen Bücherwurm? Nichts. Staffage, Statisten, unwichtiges Beiwerk. Ihr seid hier, damit die Heldin … nun, Heldin sein kann. Es kommt ganz auf sie an. Ob ihr lebt oder untergeht!“
Alice marschierte auf die Bühne zu hielt aber inne, als Malkuth die Arme hob, woraufhin sich die Marionetten ansatzweise von den Sesseln erhoben.
„Was willst du von mir? Was soll der ganze Unfug? Diese Inszenierung, diese bescheuerten Kostüme?“
„Du enttäuschst mich. Alles ist ein Stück. Eine Darbietung erlesener Kunst. Von Grazie und Anmut. Du bist schön, du solltest Schönheit wohl erkennen können!“
„Spar dir die Schleimerei und komm' auf den Punkt, verdammt nochmal!“
„Wie du wünschst, es soll ganz nach deinem Willen gehen. Denn darum geht es. Du sagst, der Baum handle unvernünftig, er befreie das, was nicht frei sein soll. Wer gibt euch das Recht dazu, zu morden, einzusperren was besser ist als ihr selbst? Was denkt und fühlt?“
„Dumme Frage. Die Vernunft. Das Gemeinwohl. Und wir morden nicht!“ Allerdings dachte sie an den Tod vieler D-Klassen, den sie bedauerte. Aber sie würde sich nicht von der Verrückten wirr im Kopf machen lassen. Tiferet lachte auf.
„Damit die Menschen leben können? Warum dann nicht sie einsperren? In der Sicherheit der Knechtschaft? Sie leben ebenso im Kerker, wie das, was ihr anomal nennt, nur wissen sie es nicht. Alles, was die Kerkermeister der Foundation tun, ist kontrollieren und versklaven. Und ein solcher Sklave bist auch du, schöne Alice.“
„Red' keinen Scheiß. Das bin ich nicht!“
„Nein? Wirklich nicht? Bist du denn nicht anomal? Wiedergeboren durch höhere Berührung?“
Sie weiß davon, Scheiße, dachte die Agentin, leugnen war wohl zwecklos. Was war mit Stephan?
„Na und? Sitze ich etwa in einer Zelle? Die einzige, die Leute hier gegen ihren Willen festhält, bist du! Schick uns zurück!“
Tiferet ging theatralisch auf der Bühne auf und ab, gestikulierte dramatisch, ganz die übertriebene Schauspielerin.
„Sie beobachten dich. Sie beobachten ihn. Sie beobachten euch. Sie warten ab, was mit euch geschehen wird. Weißt du was sie sehen wollen? Ein Kind, ein anomales Kind von euch! Dass sie dann wegsperren, aufschneiden und dokumentieren können. Wie das Mädchen, dass zwischen den Welten geboren ist. Eine Frage, liebst du ihn?“
„Wen? Ich weiß nicht, was du meinst, du redest völlig wirres Zeug!“, versuchte Alice verzweifelt sich dumm zu stellen.
Tiferet seufzte und winkte mit der Hand. Aus der Dunkelheit über der Bühne senkte sich ein überdimensionierter Vogelkäfig aus Messing herab. Darin befand sich ein Mann im Kostüm des Papageno. Alice hatte einen schrecklichen Verdacht.
„Stephan …“, hauchte sie.
„Ganz recht. Deine bessere Hälfte. Wo du bist, dort ist auch er. Wundert dich das? Eine Anomalie der Liebe. Ist das nicht einfach wunderbar?“
„Was willst du? Lass ihn gehen! Lebt er überhaupt noch? Ich schwöre, wenn …“
„Es geht ihm gut. Was ich will, was der Baum will, ist das, was du wollen solltest. Freiheit für euch beide. Ein selbstbestimmtes Leben außerhalb der Klauen des wirklichen Monsters, das euch zerquetscht, ohne dass ihr es merkt. Ich kann euch heraushelfen. Ganz. Sag es und sei frei. Dann geschieht auch deinen Freunden nichts, darauf gebe ich dir gerne mein Wort.“
Das war es also. Dieser ganze Mist, weil das Kollektiv ihr helfen wollte. Noch einmal wuchs Alices Zorn.
„Was passiert, wenn ich Nein sage?“
Tiferet machte ein mitleidiges Gesicht.
„Totes Holz muss leider entfernt werden, meine Liebe.“
„Ha, Mord also, du dumme Ziege! Ihr seid mindestens genauso schlimm wie die Foundation! Meine Antwort lautet: Nein! Mit vollster Überzeugung! Du und deine Carneliana-Idioten könnt mich mal kreuzweise!“
„Sehr bedauerlich. Du willst lieber sterben, als frei sein. Euer Tod ist nicht das, was wir wollen. Du kannst dich noch retten. Ihn retten“, sagte Tiferet mit nur schlecht unterdrückter Frustration in der Stimme. „Das ist deine letzte Chance. Ansonsten seid ihr alle Geschichte, so leid es mir tut.“
„Alice, ich habe Angst“, wimmerte Angelika, doch die Agentin ignorierte sie.
Tiferet und begann übergangslos mit ihrer Darbietung. Das Orchester begann zu spielen, setzte irgendwo mitten in einem Stück an. Als Tiferet die Stimme hob, erkannte die Agentin, dass es sich um die Arie ‚Nessun dorma‘ handelte. Ihre Gegenspielerin war eine wahre Virtuosin, ein jeder Ton war glasklar und perfekt, der Gesang griff unvermittelt nach dem Herzen, ohne dass man sich der Wirkung entziehen konnte. Alice spürte wie ihr schwindelig wurde und sie ankämpfen musste, bei Bewusstsein zu bleiben. Gegen diese Kunstfertigkeit und Meisterschaft konnte sie niemals ankommen, das wusste Alice. Aber sie durfte nicht verzweifeln, alles stand auf dem Spiel, vor allem Stephans Leben. Sie suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Alles, was ihr einfiel, war gegen Tiferet anzusingen, sie aus dem Konzept zu bringen. Sie kramte in ihren Erinnerungen und bekam etwas zu fassen.
„Ich habe dieses Theater so satt, dauernd singt etwas.“
Zu Überraschung aller fing die Agentin dann an, aus vollem Hals und fürchterlich falsch einen Kontergesang anzustimmen.
„DRESS TO KILL; LET THE SHOW BEGIN; I'VE EARNED THE MOMENT!“
Tiferet verzog beim Singen das Gesicht, aber hörte leider nicht auf. Alice pausierte kurz.
„Kabhu, Angelika, singen! Sofort! Egal was!“, befahl sie und grölte weiter. Es dauerte einen Moment dann begann Dr. Kabhu im dicken Limburger Dialekt ein flämisches Lied zu singen, wie gut doch die Fritten der molligen Wirtin um die Ecke waren.
„Lauter! Angelika, du auch!“
„Some days I don't know if I am wrong or right; Your mind is playing tricks on you, my dear“, sang die Jungforscherin zunächst zaghaft, dann immer lauter.
„I'VE GOT TO BE SEEN; I'M GONNA GO OUT; AND LIVE BEYOND THE DREAM!“, brüllte Alice und sang weiter.
Tiferets Gesicht verzerrte sich voller Hass, ihre Stimme veränderte sich eine Nuance. Eine scharfe Welle aus Schmerz fuhr durch den Körper der Agentin, sie bemerkte, dass die junge Frau neben ihr halb in die Knie ging.
„Nicht aufhören, weiter! Es funktioniert, durchhalten!“, feuerte sie die anderen an und machte trotz der Qualen weiter, verdoppelte sogar ihre Anstrengungen und die Lautstärke.
In die Musik schlichen sich eindeutig falsche Töne und das brachte die Frau auf der Bühne sichtlich aus der Fassung.
„Aufhören! Ihr macht alles kaputt! Das ist gegen die Regeln!“, schrie sie und stampfte auf wie ein trotziges Kind, das nicht seinen Willen bekommen hatte. Die Aura von Eleganz und Schönheit blätterte ab und eine weniger damenhafte Seite kam zutage. Doch Alice kannte keine Gnade und sang weiter, wiederholte den Refrain, diesmal absichtlich noch falscher als zuvor.
„Schluss damit! Königreich, mach etwas!“
Malkuth schrak zusammen und wedelte Hecktisch mit seinen Armen. Die künstlichen Zuschauer erhoben sich mechanisch und streckten die Arme vor wie Schlafwandler. Dann setzten sie sich in Bewegung, auf die drei Sänger zu. Endspurt, dachte Alice und gab alles.
„Nein, NEIN!“, schrie Tiferet.
Der Bühnenvorhang riss ein, das Orchester brachte mit einem Mal nur noch atonales Gestümpere zusammen. Die Marionetten, die sie beinahe erreicht hatten, fielen in einem wilden Durcheinander aus Gliedmaßen auseinander. Alice hätte beinahe zu singen aufgehört, als der Käfig mit Stephan auf die Bühne stürzte. Der Blumengeruch verschwand und wurde von einem widerwärtigen Mief nach Verfall und Schmutz abgelöst. Holz splitterte, als Stühle und Parkett brachen, das Licht wurde diffus, die entfernten Wände verloren an Schärfe.
„Ich finde dich immer! UND IMMER WIEDER! DU WIRST BÜSSEN!“, heulte Tiferet.
Das gesamte Gebäude erzitterte und wackelte, wie bei einem schweren Erdbeben. Dann sackten die Wände in sich zusammen. Putz und ganze Brocken Stuck fielen von der Decke herab, bevor diese selbst nachgab und auf sie herabstürzte. Die Traumwelt brach zusammen, zerfaserte, Alices letzter Ton wurde zu einem Schrei.
Die Jungforscherin versuchte nicht in das Fadenkreuz der Agentin zu kommen, die undamenhaft die Saaltür auftrat und vom eigenen Schwung umfiel.
„Wenigstens sind es keine Stöckelschuhe, … den Stolz haben sie mir gelassen …“


Phantom des Kollektives || Epilog

Sofern nicht anders angegeben, steht der Inhalt dieser Seite unter Lizenz Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 License