Dunkelheit.
Hier gab es nichts anderes.
Scranton wusste nicht mehr, wie lange er hier drin gewesen war. Früher hatte er einen Rekorder mit Zeitansage gehabt, aber der war durch ein Realitätsportal zurück in sein Heimatuniversum gesaugt worden. Er hatte ihn Red genannt.
Wahrscheinlich hatte die Foundation viel aus Reds Aufzeichnungen gelernt, Anna hatte sicher viel gelernt, aber für Scranton selbst spielte das keine Rolle mehr. Er verbrachte nun seine Zeit hier in dieser ewigen Schwärze und wechselte in unregelmäßigen Abständen zwischen Wahnsinn und Vernunft.
Er wusste, dass er nicht mehr alle beisammenhatte, wortwörtlich. Dieser Ort fraß seine Realität, ließ ihn unwirklich werden und verblassen. Einige Körperteile schneller als andere, sie waren aus ihm herausgephast, wie Trugbilder.
Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es mal gewesen war, ganz zu sein. Er konnte sich überhaupt nur noch lückenhaft an Dinge erinnern. Er wusste nicht mehr, welche Farbe sein Haus hatte, ob er einen Hund besaß, ja nichtmal an das Gesicht seiner eigenen Frau konnte er sich mehr vollständig erinnern … Hatte sie rote Haare gehabt?
In diesem Augenblick der Klarheit merkte Scranton mal wieder, was für eine Qual dieser Ort war. Er musste irgendwas Schreckliches getan haben, um hier zu landen. Er war-
"Ach, Scheiße!"
Scranton war sich nicht sicher, ob er noch Ohren hatte, allerdings hörte er zumindest Worte. Vermutlich wurde er gerade wieder wahnsinnig. Aber Wahnvorstellungen lenkten ab, darum ließ er sich darauf ein.
Er drehte sich nach rechts, von wo der Fluch erklungen war. Der Stimme nach hatte ihn eine Frau ausgesprochen, die Scranton nicht kannte.
"Hallo?", fragte er mit einer Stimme, die extrem verzerrt klang, ein Nebeneffekt seines langen Aufenthalts hier.
"WAH!", kam es erschrocken aus der Dunkelheit. "Wer ist da!"
"Ähm … Ich bin Robert … Robert Scranton … Und Sie?"
"Ich nicht", antwortete die Stimme spitz. "Nenn' mich Elli. Du klingst nicht allzu gut. Was im Hals?"
Scranton hörte ein reibendes Geräusch, als wühle sich jemand durch eine Handtasche.
"Ich … bin schon eine Weile hier … Wie sind Sie überhaupt hierhergekommen?"
"Eigentlich saß ich in einem Raumteleporter auf dem Weg zum Strandplaneten, aber das Scheißding an meinem Sitz hatte offenbar eine Macke. Da folgt noch eine dicke fette Beschwerde. Das nächste Mal geh' ich zu Fuß …"
"Ähm, ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist, aber von hier-"
Er brach ab, als mit einem Klicken plötzlich eine Taschenlampe in der Dunkelheit aufleuchtete.
"Ah, geht doch", meinte die Blondine, deren Gesicht sie beleuchtete. "Und wie siehst du aus, Bob?"
Der Lichtstrahl blendete Scranton für einen Moment, bevor er wieder verschwand. In der Dunkelheit erklang ein würgendes Geräusch.
"Oh mein- Wie- Wie lange bist du schon hier drin?!"
"Mindestens fünf Jahre …", entgegnete Scranton schulterzuckend. "Wie schlimm ist es?"
"Dein Schädelknochen ist weg, und etwa zwei Drittel deines Gehirns. Aber einen schicken Dickdarm hast du da …"
Diese Info hätte vermutlich etwas mehr Schock auslösen sollen, aber dieser Ort hatte Scranton abstumpfen lassen.
Verwirrt schaute er dabei zu, wie die Frau im Licht ihrer Taschenlampe in ihrer Handtasche kramte und schließlich einen großen, aufblasbaren Schwimmring herauszog.
"Was wird das?", fragte er, als die Frau die Schwimmhilfe aufzublasen begann.
"Ich stecke nicht zum ersten Mal im Nullraum fest, irgendwann lernt man dazu", entgegnete Elli um blies weiter.
Es dauerte kurz, bis Scrantons zerebrale Überreste die Information gefiltert und aufbereitet hatte.
"Moment … Sie können hier raus?"
"Jap", entgegnete Elli nur. "Ich nehme an, du willst mit?"
Der Schwimmring war jetzt vollständig aufgeblasen.
Scranton wollte zu einem panischen "Ja" ansetzen, aber dann entsann er sich, dass die Frau vorhin bei seinem Anblick hatte kotzen müssen.
Er blieb still.
"Oh, du wirst's überleben", versicherte ihm Elli. "Mir ist bewusst, dass von deiner Realität nur noch ein paar Milihumes übrig sind, ich hab' da was dagegen."
"Sie können … Mich hier rausbringen? Lebendig?"
"Jup. Warte kurz …"
Und damit stülpte sie den Ring über Scranton. Und er gelangte in eine Welt, die nur aus höllischen Schmerzen bestand …
Scranton erwachte mit einem Schrei und setzte sich kerzengerade auf. Er hatte keine Ahnung, wie er ohnmächtig geworden war, allerdings vermutete er, dass sein Gehirn diese Info aus gutem Grund zurückhielt.
Moment mal, er hatte sich aufgesetzt?
Erschrocken starrte er an sich herunter. Er lag in einem schmalen, weiß bezogenen Bett, bekleidet mit einer Art weißem Krankenhemd. Und sein Körper war komplett da! Völlig ungläubig hielt er sich die Hände vor das Gesicht, zwei Dinge, die er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte.
Er fing an zu weinen vor Erleichterung.
Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beruhigte, aber dann nahm er sich endlich die Zeit, sich umzusehen. Er lag in einem kleinen, mit weißer Raufasertapete tapezierten Zimmer, neben ihm stand ein Tisch mit einem Handspiegel, mit dem er sein Gesicht betrachten konnte. Alles da, wenigstens, soweit er es aus der Erinnerung abrufen konnte.
Er spürte, wie sich schwere Schritte näherten. Die Tür zu seinem Raum öffnete sich und ein riesenhafter Kerl trottete herein. Er schien wenig gute Laune zu haben.
"Ah, Sie sind wach", bemerkte er. "Sie sollten in der Lage sein, sich zu bewegen. Folgen Sie mir bitte."
Scranton stand vorsichtig auf. Wie lief man gleich nochmal? Er hatte sich sehr lange an einem Ort befunden, wo es keinen Boden gab. Und Schwerelosigkeit …
Er balancierte vorsichtig, während er sich allmählich wieder daran erinnerte, wie man einen Fuß vor den anderen setzte. Dafür, dass der Mann ziemlich grummelig aussah, hatte er eine Engelsgeduld, bemerkte Scranton, denn er wartete, bis er halbwegs mobil war und als sie das Zimmer verließen, passte er sich seinem Tempo an.
Er führte Scranton durch das unmöglichste Haus, das er je gesehen hatte. Es kümmerte sich nicht um solche Nebensächlichkeiten wie Schwerkraft oder Gesetze der Geometrie, Scranton lief an und durch Wände, lief eine Treppe hinab, die er zuvor auf der Unterseite emporgestiegen war, und war sich sicher, dass drei Flure, durch die sie gingen, sich eigentlich überlappen mussten, aber es gab keine Abzweige.
Scranton wurde schließlich in einen Raum geführt, der ein gewaltiges Observatorium zu sein schien. Es gab sogar ein riesiges Teleskop, aber es hingen so viele hochwissenschaftlich aussehende Apparate daran, dass sich er sich nicht vorstellen konnte, dass damit Sterne beobachtet wurden.
Elli stand am Okular und entlockte dem Gerät eine Reihe an Klickgeräuschen.
"Der Patient, Elli", meldete der Riese ihn an.
Elli drehte sich mit ernstem Gesicht um.
"Robert Scranton, korrekt?", fragte sie.
"J-Ja …", entgegnete Scranton. "Wie- Wie haben Sie es geschafft, mich wiederherzustellen? Ich meine, meine Realität allein hätte mich-"
"Nullraum-Rettungskapsel", erklärte Elli und unterbrach ihn mit einer Handgeste. "Ich habe Sie hineinbefördert, als ich Sie durch den Ring gezogen habe. Es hat Sie lange genug stabil gehalten, damit ich meine Arbeiten an Ihnen abschließen konnte. Sowas ist ziemlich schmerzhaft, habe ich mir sagen lassen."
"Sie machen sich keine Vorstellung …", entgegnete Scranton trocken. "Wo bin ich hier eigentlich?"
"Sie sind im Nexus", antwortete Elli schlicht.
"Welchem?"
"DEM Nexus, meine private Taschendimension. Warum ihr irgendwelche Gebiete mit hohem Aufkommen an übernatürlichem Gedöns als Nexuse bezeichnet, ist mir schleierhaft."
"Und jetzt?", fragte Scranton und ließ Ellis Genörgel außer Acht. "Können Sie mich nach Hause bringen?"
"Ja", antwortete Elli, aber während er schon freudig aufatmete, da er Anna entgegen aller Erwartungen wiedersehen würde, sprach sie weiter. "Aber das werde ich nicht tun."
"Wa- ", stammelte Scranton und hatte eine böse Vorahnung. "Warum? Was wollen Sie von mir?"
"Ich tue das nicht aus Böswilligkeit, Herr Scranton", erklärte Elli ernst. "Ihr Pech ist nur, dass Sie von mir gerettet wurden, ich bin eine große Unbekannte im Gefüge der Zeit. Und Sie sind dadurch ein Sandkorn im Getriebe, das ich gerne vermeiden möchte."
"Wie soll ich das verstehen?", fragte Scranton verwirrt.
"Die typischen temporalen Gesetze finden auf mich nur beschränkt Anwendung, Scranton", führte Elli aus. "Das ist weniger vorteilhaft als es klingt, denn wenn ich zu viel Mist baue und die Geschichte einer Welt zu sehr verändere, gelangt das universale Betriebssystem an einen Fatal Error und stürzt ab. Das Universum und sein Kontinuum platzen wie eine Seifenblase."
Sie machte mit dem Mund ein "Plopp"-Geräusch.
"Einen Moment", bat Scranton. "Sie sagten, wenn Sie die Geschichte zu sehr verändern. Aber was kann ein einzelner Mensch wie ich ändern? Sicherlich könnte ich-"
"Während Ihrer Widerherstellung habe ich genau das in Erfahrung gebracht", gab Elli zur Antwort und unterbrach ihn damit. "Ich habe herausgefunden, wer genau Sie sind, Scranton. Der Pionier der Ontotechnologie, dessen Erkenntnisse über den Nullraum dereinst das Reisen zwischen den Realitäten ermöglichen würden. Ich stimme Ihnen zu, das Universum hat eine gewisse … Selbstheilungskraft, die kleinere historische Abweichungen wieder geradebiegen kann." Sie redete sich allmählich in Rage. "Wären Sie ein geringerer Mann gewesen, ich hätte Sie ruhigen Gewissens zurückgeschickt, aber so kann es vielleicht sein, dass Sie einfach die Füße still halten und in den Ruhestand gehen, aber vielleicht wird die Foundation oder wer anders Sie zwingen weiter zu forschen und damit einen Domino-Effekt auslösen oder vielleicht bin ich auch nur paranoid in dieser Hinsicht, aber es geht hier um die Existenz eines ganzen Kosmos, und DA WÜRFLE ICH NICHT MIT VIELLEICHTS!"
Es herrschte kurz Stille, während Elli schwer atmete.
"Wo soll ich dann hin?", fragte Scranton enttäuscht.
Anna rückte in unendliche Ferne …
"Ich werde Ihnen erlauben, ihren Lebensabend hier zu verbringen", erklärte Elli. "Ich kann Sie nirgendwo aussetzen, mit ihrem Status und Ihrem Wissen sind sie überall ein Risikofaktor."
Mit einem Geistesblitz keimte ein winziger Funken Hoffnung in Scranton auf.
"Kann ich … Kann ich wenigstens Anna noch einmal besuchen? Ihr sagen, dass es mir gut geht und mich verabschieden."
Er konnte sehen, wie Elli mit sich rang, aber schließlich seufzte sie.
"Also gut. Ich gewähre Ihnen einen letzten Abstecher in Ihre Welt. Gibt es einen besonderen Ort und Zeitpunkt, den Sie ansteuern wollen? Ich bin nicht an solche Dinge wie Raumzeit-Dimensionen gebunden."
In Scranton keimte ein Plan auf.
"Ja, ich hätte da was …"
Anna Scranton saß im Labor für Ontotechnologie. Der Raum war voll mit Prototypen des Scranton-Realitätsankers. Traurig starrte sie an den Arbeitsplatz, den ihr Mann früher benutzt hatte. Er war inzwischen beräumt worden.
Eine Träne rann ihr die Wange hinunter.
Scranton trat hinter sie und wischte sie weg.
Seine Frau drehte sich erschrocken und rammte ihm den Ellenbogen in die Magengrube.
"Tschuldigung", röchelte er.
"Robert!", entfuhr es Anna.
Sie hielt sich die Hand vor den Mund.
Er lächelte nur. Langsam traten sie aufeinander zu, bis sie sich schließlich in die Arme fielen.
"Ich hatte gedacht, ich hätte dich verloren", weinte Anna.
Scranton lächelte nur, bevor er ihr eindringlich ins Ohr raunte "Starte die Sieben. Ausgangsparameter eins zu sechs. Sag nichts."
Sie schaute ihn kurz verwirrt an, er schaute nur auffordernd zurück.
"Scranton", erklang Ellis Stimme hinter ihm. "Ich will euer kleines Tête-à-Tête ja nicht unterbrechen, aber Ihre Zeit ist begrenzt."
Sie hatte ihr Portal in einem deaktivierten Prototyp eines Realitätsankers erschaffen und stand mit verschränkten Armen davor. Genau wie vorgesehen …
"Liebling?", fragte Anna beunruhigt. "Wer ist das?"
"Einschalten!", zischte Scranton und drehte sich genervt zu Elli um. "Sie werden entschuldigen, Elli, aber ich sehe meine Frau zum ersten Mal seit ich habe keine Ahnung wie lang und wahrscheinlich zum letzten Mal."
Er trat auf Elli zu.
"Würde es Ihnen also etwas ausmachen, uns kurz allein zu lassen?", zischte er.
"Wird nicht passieren", entgegnete Elli und beugte sich zu seinem Ohr vor. "Und ich weiß, dass Sie gerade versuchen, mich hier drin einzusperren. Denken Sie, ich merke nicht, dass Sie mich in einen Raum locken wollten, der vollgestopft ist mit Realitätsankern?"
Scranton wich vor ihr zurück. Neben ihm fuhr einer der Prototypen hoch, doch Ellis Portal zeigte sich unbeeindruckt.
"Ich bin eine Anomalie für Ihre Parawissenschaft", erklärte Elli. "Solange ich sie nicht schließen will, bleiben meine Tore geöffnet, egal wie viel Realität Sie in den Raum pumpen. Ich gebe Ihnen ein paar Minuten, aber dann hole ich Dean."
Anna kam zu ihnen.
"Robert? Wer ist das?"
"Elli, freut mich sehr", stellte sich die Blondine mit einer leichten Verbeugung vor. "Wir sehen uns wahrscheinlich nie wieder."
Scranton legte Elli die Hände auf die Schultern.
"Elli, ich bin gerade erst angekommen, haben Sie bitte etwas Geduld, ich habe nicht vor, Sie einzusperren."
Er sah, dass Elli keine Tasche dabei hatte.
"Sondern?", fragte sie.
Scrantons Antwort bestand daraus, Elli an den Schultern nach links zu wuchten und direkt zu dem den hochgefahrenen Prototypen zu schleudern. Sie schien zu merken, worauf das hinauslaufen würde.
"VERDAMMT, SCRANTO-", war alles, was sie herausbrachte, bevor sie vom fehlerhaften Portal des Ankerprototyps in den Nullraum befördert wurde.
Ihr schwarzes Portal schloss sich.
"R-Robert?", fragte Anna besorgt. "Was war das gerade? Was hast du getan?!"
Scranton schloss seine Frau fest in die Arme.
"Dafür gesorgt, dass ich bei dir bleiben kann, Anna. Ich werde dich nie wieder verlassen., Das verspreche ich …"
Dean starrte stumm auf die paar menschlichen Überreste, die träge in einem mannshohen Zylinder in einer türkisenen Flüssigkeit umherschwammen.
"Du bist grausam, Elli", hielt er schließlich fest.
"Naja, was soll ich sagen? Du hast das Video gesehen, er hätte mich eiskalt in den Nullraum geworfen. Ohne meine Tasche."
Elli trat zu ihm ans Glas.
"Also hast du ihn einfach in diese Kapsel gesteckt", schloss Dean. "Und jetzt? Liegt er für immer im Koma?"
"Nicht ganz", präzisierte Elli. "Was du gesehen hast ist Teil einer Simulation, die ich aus seinen Erinnerungen gebastelt habe. Er wird sein Leben leben, bis die Simulation den Tod vorgibt, danach wird auch das sterben, was von ihm übrig ist."
"Du hältst ihn also in seinem Wunschtraum fest, für immer?", fragte Dean.
"War das einzige Happy End, was ich ihm geben konnte", verteidigte sich Elli. "Es gibt Zeiten, da müssen wir uns mit dem zufrieden geben, was wir in unseren Träumen erlangen, Dean."
Dean dachte kurz darüber nach, bevor er sich gezwungen sah, anzumerken: "Elli, ich kann nicht träumen …"