
Letzte bekannte Aufnahme von Leon O., aus seinen Bewerbungsunterlagen
Objekt-Nr.: SCP-365-DE
Klassifizierung: Euclid
Sicherheitsmaßnahmen: SCP-365-DE wird in einer 5 x 5 x 2,5 m messenden Zelle in Standort-DE18 eingedämmt. Aufgrund der Natur der Anomalie und ihrer Unfähigkeit, mit fester Materie direkt zu interagieren, ist der Raum selbst nicht mit Mobiliar und dergleichen ausgestattet, die einzigen Gegenstände im Eindämmungsbereich sind kleinere frühere Besitztümer der Anomalie. Zudem sind zur Sicherheit die Wände, der Boden und die Decke mit esoterischen Bannsymbolen versehen, welche zusätzlich mit Sicherheitsglas verkleidet sind. Um zu verhindern, dass SCP-365-DE einer Person, die sich im Einflussbereich der Anomalie befindet, folgt, ist die Zugangstür (Sicherheitsstufe 3) nochmals doppelt mit Bindungsrunen versehen. Eine Kommunikationsanlage inklusive Kamera mit Verbindung zu der beigeordneten Überwachungsstation zeichnet etwaige Selbstgespräche oder auch Versuche einer Kontaktaufnahme der Anomalie auf, allerdings ist ein indirekter Dialog unerwünscht und untersagt. Auf eine regelmäßige Reinigung der Eindämmungseinheit kann verzichtet werden, sollte eine Wartung oder Reparatur der Kontrollanlage nötig sein, sind Vorkehrungen für die nachfolgende Behandlung des Ausführenden zu treffen. Personen, die Kontakt mit SCP-365-DE hatten, müssen dreißig Stunden lang in Quarantäne gehalten werden, in seltenen Fällen kann eine Amnesizierung erforderlich sein.
Beschreibung: SCP-365-DE ist das anomale Echo der Persönlichkeit und der Erinnerungen des am 23.5.1972 in D█████████ verstorbenen Leon O██████, der im Lektorat einer bekannten Tageszeitung in D. tätig war. Die Anomalie ist im gesamten elektromagnetischen Spektrum unsichtbar, außerdem körperlos. Versuche, sie in eine materielle Form zu zwingen, beispielsweise mittels einer ESO-Granate Typ Vincio, schlugen fehl. SCP-365-DE besitzt die Fähigkeit, sich hörbar und sinnvoll mit einer menschlich anmutenden Stimme zu artikulieren.
Zum Zeitpunkt seines Ablebens hatte das Subjekt seine Anstellung erst seit zwei Wochen angetreten. Eine Untersuchung seines Lebenslaufes zeigte, dass er zuvor zahlreiche verschiedene Berufe ausgeübt hatte, allerdings dauerten die Beschäftigungen selten länger als einige Monate an. Anzumerken sind hier auch vorangegangene häufige Schulwechsel in der Jugend; Leon O██████ wurde offensichtlich als Unruhestifter eingestuft, nicht nur von Lehrpersonal, sondern auch Nachbarn und zahlreichen weiteren Personen in seinem direkten Umfeld.
Eine solche Vita und eine derartige Häufung von schlechten Führungszeugnissen hätte eigentlich stets zur Ablehnung bei Bewerbungen führen müssen, doch fand das Subjekt gewöhnlich schnell eine neue Anstellung. Bei der Untersuchung des Todesfalles gestand der Leiter der Personalabteilung, dass Leon O██████ ihn mit privaten Informationen erpresst hatte, von denen das Subjekt eigentlich unmöglich Kenntnis gehabt haben konnte. Diese Aussage rückte den Abteilungsleiter für längere Zeit in den Fokus der Ermittlungen der Polizei bei der Untersuchung des späteren Ablebens seines neuen Mitarbeiters. Sie zeigt außerdem, dass SCP-365-DE bereits zu Lebzeiten zumindest einen Teil seiner anomalen Fähigkeiten besaß und zum eigenen Vorteil nutzte.
Die vorliegende Anomalie litt zu Lebzeiten an Pseudologia phantastica (früher "Lügensucht", pathologisches Lügen), resultierend daraus in seiner Kindheit offenbar am "Münchhausen-Syndrom"1, welches wegen psychischem Stress und gegenseitigen Vorwürfen zur Trennung seiner Eltern führte. Diese Annahme ist nicht völlig gesichert, da zu jener Zeit derartige Störungen eher selten festgestellt und ernst genommen wurden. Ein detaillierterer Abriss des Lebenslaufes kann in Dokument FDE-VIT-P5901/1.1 eingesehen werden. Später zeigte das Subjekt Anzeichen von Hypochondrie und Anzeichen (bis dato nicht bestätigter) weiterer Persönlichkeitsstörungen.
Die Fähigkeiten der Anomalie waren sowohl zu Lebzeiten als auch in seiner jetzigen Form telepathischer und geistbeeinflussender Natur. Es ist der Anomalie möglich, in die Gedanken, die Erinnerungen und höchstwahrscheinlich auch in das Unterbewusstsein von Personen in seiner Gegenwart zu blicken. Dabei ist keine körperliche Berührung, aber eine gewisse Nähe vonnöten, zumindest Sichtkontakt, wobei nicht bekannt ist, bei welcher Entfernung die Effekte ihre Wirkung verlieren. SCP-365-DE ist in der Lage, verbal und telepathisch zu kommunizieren, wobei die mentalen Dialoge in Form von Wörtern und Sätzen, aber auch mittels übertragener Bilder und Abfolgen von Ereignissen erfolgt. Diese sind häufig verfälschte oder völlig fiktive Imagines, die das betroffene Subjekt stets auf übelwollende, bösartige Art und Weise reizen.
Eine weitere, durchaus als perfide zu bezeichnende Fähigkeit der Anomalie war die Tatsache, dass dem Opfer die Inhalte der Manipulationen schlüssig und in jedem Fall wahrhaftig erschienen, unabhängig von der möglichen Absurdität des Dargestellten. So war beispielsweise ein Mitarbeiter der oben genannten Tageszeitung der festen Überzeugung, eine Kollegin habe seinen PKW zerkratzt, weil er auf ihre (erwiesenermaßen nicht vorhandenen) Annäherungsversuche nicht eingegangen war. Die Bandbreite der Gerüchte, welche die Anomalie so streute, führte zu Konsequenzen, die von eher harmlosen Streichen über diffamierendes Getuschel bis hin zu Mordgedanken reichten. Wenn es der Anomalie opportun erschien, verwendete sie durchaus auch die Wahrheit, verwässerte und verdrehte sie allerdings, deutete sie um und pervertierte sie. Die absolute Überzeugung des Wahrheitsgehalts der Behauptungen und "Einflüsterungen" dauert bei Betroffenen etwa 27 Stunden an, erst danach schleichen sich erste Zweifel ein.
In den frühen Morgenstunden des 24.5.1972 entdeckten zwei Mitarbeiter eines unabhängigen Reinigungsunternehmens die sterblichen Überreste von Leon O██████ in den Büroräumen seines Arbeitsplatzes. Das Subjekt hatte sich offenbar erhängt, allerdings erwiesen sich einige Umstände als höchst ungewöhnlich und suspekt. Nichts hatte auf suizidale Gedanken hingewiesen, ein Abschiedsbrief fehlte, und der Ort des Selbstmords war eher ungeschickt gewählt, denn O██████ hätte jederzeit entdeckt werden können. Viel verdächtiger war allerdings der Umstand, dass die Handgelenke mit Kabelbindern gefesselt waren, die zudem durch die Gürtelschnalle des Toten geführt waren. Durch diese führte ein weiterer, sehr langer Kabelbinder, der ebenfalls angezogen worden war und durchaus den Mund erreicht hätte. Mord und Selbstmord kamen infrage, entweder war das Subjekt zu der Tat gezwungen worden oder er hatte dafür gesorgt, dass er sich selbst nicht mehr vor seinem Tod retten konnte, hätte er es sich nach dem Wegstoßen des Stuhles doch noch anders überlegt. Nach monatelanger Ermittlungsarbeit verliefen alle Spuren im Sande, die Polizei legte den Fall zu den Akten, der gesamte Vorfall wurde zum Selbstmord erklärt.
Wie bei einer Tageszeitung üblich, wurde der Betrieb nicht unterbrochen und einige Tage lang schien sich sogar trotz des Ereignisses das Arbeitsklima zu verbessern, bis es endgültig in Misstrauen, Paranoia und Hass umschlug. Körperliche Auseinandersetzungen, psychische Zusammenbrüche, ein weiterer Selbstmord und eine Kaskade von Kündigungen führten schließlich zum Kollaps. Das Unternehmen meldete schließlich den Konkurs an. Später erwiesen sich die Räumlichkeiten als unvermietbar, sämtliche Firmen traten nach kurzer Zeit von den Verträgen zurück, selbst ein kompletter Umbau zu Wohnapartements trug keine Früchte, die Mieter berichteten von "wispernden, dämonischen" Stimmen. Berichte und Meldungen in den Medien bezüglich dieser Unwägbarkeiten führten schließlich, beginnend mit einer Erstbegehung am 10.5.1974, zu einer vollständigen Untersuchung durch die Foundation.
Zunächst wurden protokollgemäß zwei Feldagenten in Zivil entsandt. In den ersten beiden Stunden ihres Aufenthaltes konnten keinerlei anomale Vorgänge festgestellt werden, doch dann veränderte sich das Verhalten von Agentin B████ drastisch. Sie klagte plötzlich über Dyspnoe, Hyperhidrose und Tachykardie2; allem Anschein nach erlitt sie eine Panikattacke, ein für sie völlig atypischer Vorfall. Daraufhin verließ das Team den Schauplatz. Agentin B████ beruhigte sich sodann, doch latente Anwandlungen von Angst klangen erst nach etwa 27 Stunden ab, danach quittierte sie den aktiven Feldeinsatz und wurde versetzt. Sie weigerte sich standhaft, Gründe für den Zusammenbruch anzugeben. Als zweite Maßnahme und nach längeren Recherchen wurde eine zehnköpfige Abteilung von MTF DE18-𝔏 "Lichbändiger" zur Sicherstellung der vermuteten Anomalie abkommandiert. Da der Verdacht schnell auf den verstorbenen Leon O██████ gefallen war, waren im Vorfeld einige persönliche Gegenstände aus der Privatwohnung des Verstorbenen mitgebracht worden, um im besten Falle die Aufmerksamkeit der Anomalie zu erregen. Das "Hervorlocken" und der weitere Abtransport musste gestaffelt erfolgen, d. h. nur jeweils eine einzige Person hatte direkt mit der Anomalie zu tun, bei ersten Anzeichen einer mentalen Beeinträchtigung, allerdings spätestens nach drei Stunden, wurde der Wachhabende im Transportfahrzeug ausgetauscht. Die vollständige Eindämmung von SCP-365-DE erfolgte am 9.6.1974.
Gesprächsprotokoll FDE/D-80842/1.1
Vorbemerkung:
Bei der vorliegenden Aufzeichnung handelt es sich um ein Video/Audiotranskript. Am 16.6.1974 wurde D-80842 mit einem vorher ausgearbeiteten Fragenkatalog in die Eindämmungseinheit von SCP-365-DE verbracht. Der D-Klässler war neben seinem Vorstrafenregister, das auf Feigheit und sadistische Tendenzen schließen ließ, wegen seiner psychischen Labilität ausgewählt. Das Gespräch wurde unter der Oberaufsicht von Dr. Elmswald überwacht und automatisch aufgezeichnet. Der D-Klasse-Mitarbeiter wird hier mit "D8", die Anomalie mit "Stimme" wiedergegeben.
[D8 betritt mit einem Klappstuhl und dem Fragenkatalog den Raum, die Tür wird verschlossen und verriegelt. D8 nimmt vor den auf dem Boden befindlichen Gegenständen Platz.]
D8: Hallo?
[Etwa zwanzig Sekunden lang erfolgt keine Antwort.]
D8: Hallo? Sind Sie hier?
[SCP-365-DE antwortet aus einer Ecke des Raumes, die Stimme klingt rau, pfeifend und höher als erwartet.]
Stimme: Guten Tag, mein Junge.
D8: [nervös] Ja, hallo, ich bin hier, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen. Wenn Sie Zeit haben.
Stimme: Wenn ich Zeit habe … Sehr viel Zeit, sehr wenig zu tun.
D8: Danke. Also, wie heißen Sie? Wissen Sie, warum Sie hier sind?
Stimme: Bitte, mein Junge, das haben die da draußen dir doch schon längst gesteckt. Eingesperrt. So wie du, wenn ich mich nicht irre.
D8: Na gut … Das ist mir jetzt unangenehm … Ist Ihnen klar, dass Sie tot sind?
Stimme: [lacht verhalten] Sollte es wohl. Ich war schließlich dabei, als sie mich ermordet haben.
D8: Sie … wurden umgebracht?
Stimme: Von Arbeitskollegen. Fast der ganzen Redaktion. Haben mich festgehalten, gefesselt und dann aufgehängt. Konnten meine Aufrichtigkeit und Liebe zur Wahrheit wohl nicht ertragen.
D8: Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, das ist jetzt nicht meine Meinung … Aber mir wurde gesagt, Sie würden falsche Gerüchte streuen und lügen und manipu…
[D8 fährt zusammen, denn die Stimme antwortet direkt hinter ihm.]
Stimme: Kennst du die Redensart, dass die Wahrheit noch nicht die Schuhe angezogen hat, während das Gerücht schon zweimal durch das Land gezogen ist? Haben sie dir so etwas über mich erzählt?
D8: Ich bin nicht so belesen.
Stimme: Dann lass mich dich erleuchten. Wahrheit ist die Übereinstimmung von Aussage und Realität. Sagen sie. Das ist ihre Definition. Aber sie ist falsch, denn jeder hat seine eigene Wahrheit, weil er seine eigene Realität hat. Das verstehst du doch so weit?
D8: Ich … denke schon.
Stimme: Siehst du. Du bist also doch ein schlauer Junge. Hast du noch weitere Fragen von deinen Aufsehern?
D8: Aufseher … Warum haben Sie alle diese Leute so gegeneinander aufgehetzt, soll ich fragen. Und … wenn ja, dann haben Sie sterben müssen, deswegen. War es das wert?
Stimme: Ein anderer würde sich vielleicht als Märtyrer bezeichnen, aber dafür bin ich zu bescheiden. Ich zeigte ihnen ihre eigene Wahrheit, für ihr Tun … Na, dafür kann ich ja wohl nichts.
D8: Hmm, ja. Und wie – fühlen Sie sich, ich meine geht es Ihnen gut?
Stimme: In Gesellschaft bestens. Wenn es keine Journalisten sind. Aber mal zu dir. Dass ich eine sehr gute Menschenkenntnis habe, das werde ich nicht bestreiten. Darf ich dir zur Abwechslung einmal eine Frage stellen?
D8: Eigentlich nicht, ich darf nicht antworten, wissen Sie.
Stimme: Ich verstehe. Du Armer. Aber du musst mir auch gar nichts erzählen. Aber – ist sie sehr hübsch, deine Mitgefangene im Sträflingsputzdienst?
D8: Wer? Keine Ahnung, was Sie da sagen! [D8 blickt unwillkürlich zur Kamera.]
Stimme: Keine Angst, du hast ja nichts Unrechtes getan, außer einigen verstohlenen Blicken vielleicht. Andere waren dagegen weniger zurückhaltend.
D8: Was? Was meinen Sie damit?
Stimme: Willst du das wissen? Ich lüge doch nur, das weißt du.
D8: Sagen Sie es mir, bitte!
Stimme: Nun gut, dann schau mal her.
D8: Nein! Das kann nicht …
Stimme: Ohhh dochchchchch …
[D8 springt auf und reißt den Klappstuhl an sich. Er durchquert den Raum und beginnt wild auf die Tür einzuschlagen.]
D8: SCHLAMPE! DIESE SCHLAMPE! ICH BRING' DEN HURENSOHN UM!
[Aus der Mitte der Zelle ist gehässiges, keckerndes Gelächter zu hören.]
Abschlussnotiz vom 23.7.1979
Zum damaligen Zeitpunkt wurde D-80842 aus der Eindämmung entfernt und für den gegebenen Zeitraum isoliert. Seine Aggressionen schwanden größtenteils, dennoch wurde er versetzt. Zur weiteren Forschung an SCP-365-DE ist zu sagen, dass das von den übergeordneten Gremien geforderte Ziel, die erkannten Effekte von der Anomalie abzukoppeln und zu reproduzieren, fehlschlugen. Selbst eine augenscheinliche Kooperation der Anomalie wäre völlig sinnlos gewesen, denn ein Unterscheiden zwischen Lüge und Wahrheit war in diesem Fall unmöglich. So sagen die Mitarbeiter jedenfalls.
gez. Dr. Elmswald, Projektleitung, Standort-DE18