Ritterlichkeit

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Ritterlichkeit

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"Hey, Großväterchen, wie war das damals eigentlich, mit den Damen?"

Der mehrere Jahrhunderte jüngere Mann ließ den Pfeil von dem Kabel schnellen und traf das Ziel mit einer für ihn gewohnten Präzision, trotzdem erntete er ein abschätziges Schnalzen von dem anderen Mann, der ein paar Meter neben ihm auf einem Sitzstein saß.

"Noch immer zwei Zentimeter daneben, beherrsch dich mehr beim Schießen."

Der blonde Mann unterdrückte die aufkeimende Wut und lenkte sie in den nächsten Schuss: Er hob den spinnenartigen Compoundbogen aus schwarzem Fiberglas und Aluminium mit den eingravierten Runen an, zog mit der Unterstützung durch die Cams den Pfeil dicht an seiner Wange vorbei nach hinten und atmete tief ein, bevor er durch das Lochvisier auf das winzige Ziel anvisierte. Dann ließ er den fast gänzlich ohne Bogen in der Flugbahn fliegenden Pfeil sein Ziel finden, was durch das "StealthShot"-System erstaunlich leise geschah, doch die Reaktion von Neidhardt blieb dieselbe. Johan senkte das Gerät in seiner Hand und sah den anderen Mann nun direkt an. Der schwarzhaarige und -bärtige Kurzhaarschnittträger zwirbelte seinen altmodischen Bart, während er emotionslos zurückstierte. Johan fühlte sich seltsam ertappt dabei; der Blick, der ihm begegnete, war fast identisch mit dem, den er täglich in Spiegeln sah. Es entstand eine Pause, in der die beiden still scheinbar ein Duell ausfochten, bei dem nur einer unterliegen konnte: Der blonde Elitesoldat. Er blinzelte irritiert, legte die Ausrüstung vorsichtig ab und murmelte kurz etwas zu Neidhardt, bevor er sich anschickte, die knapp achtzig Meter zu joggen, um die Pfeile aus dem Baum zu pflücken, der mit neongrünem Spray das Ziel aufgemalt bekommen hatte. Glücklicherweise waren die Pfeile der Foundation verstärkt, sonst würde das Material auf Dauer nicht mitmachen - jedoch war es ebenso eine enorme Kraftanstrengung, diese aus dem Holz zu ziehen und Johan spürte regelrecht den Blick des Unsterblichen in seinem Nacken brennen, als er sich dabei abmühte. Kann ja nicht jeder unsterblich sein und nie Training zum Erhalt der Muskeln benötigen. Er wusste, dass Neidhardt ihn noch den ganzen Vormittag trainieren lassen würde, sofern sich von den Aufklärern nichts hören ließ. Sie warteten - auf eine laut dem Ritter sinnvolle Art und Weise. Ein unangenehmes Knirschen riss Johan aus seiner Grübelei und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Pfeil in seiner behandschuhten Hand, dessen Carbon nachgegeben hatte und nun einen Doppelbogen durch die Spaltung in dessen Körper bildete. Johan fluchte zwischen den zusammengepressten Zähnen hindurch und riss den traurigen Rest des Pfeils gänzlich aus dem Holz, was auch den Baum beträchtlich lädiert zurückließ.

Auf dem Weg zurück zu Neidhardt, dessen Kreuzkette am Hals in der Sonne leicht glänzte, überlegte sich Johan diverse Möglichkeiten, das Leben des Unsterblichen etwas unangenehmer machen zu können. Der ehemalige Kreuzritter erhob sich unterdessen und richtete seine dieses Mal fast weiße Garnitur, die eine Mischung aus moderner Kevlar-Panzerung und altmodischer Plattenrüstung war, versehen mit hochmoderner Ausstattung, die eigens für ihn durch die Foundation angefertigt wurde. Wie er damit unentdeckt bleiben wollte, war Johan ein Rätsel, aber wahrscheinlich war Anschleichen für den Ritter ohnehin zu "unehrenhaft". Johan beobachtete beim Gehen, wie Neidhardt den abgelegten Bogen griff und wich automatisch aus der direkten Schussbahn aus, um dem Mann nicht im Weg zu sein. Er blieb an der Seite stehen und konnte nun beobachten, wie der Unsterbliche einen Pfeil nahm, schoss und den Bogen wieder senkte, ohne nennenswert darauf zu achten, was er tat. Auch schien die Spannung des Drahtes kaum Auswirkungen auf ihn gehabt zu haben. Dennoch traf der Pfeil perfekt das Ziel ein Stückchen neben dem Punkt, an welchem durch Johans Behandlung die Rinde und das darunterliegende Holz beschädigt worden war. Show-Off, schoss es Johan durch den Kopf.

"Du hast Kraft, Johan, aber du bist impulsiv und unkontrolliert wie ein junger Flusslauf."

Johan verdrehte genervt die Augen ob der Weisheiten des Alten. Als hätte er das nicht schon sein ganzes Leben gehört. Jetzt war er also ein Fluss. Natürlich. Was denn auch sonst. Mit einem Schnauben fragte er den anderen: "Und als nächstes soll ich wohl meine Macht benutzen, um ein Flugzeug aus dem Sumpf zu heben, wie?"
Wenn sein Seitenhieb irgendetwas in dem Kreuzritter hervorrief, dann ließ er sich nichts davon anmerken. Er musterte Johan weiter mit einem emotionslosen Blick und deutete ihm dann in einem Ton, der keine Widerrede gestattete, den Pfeil zu holen. Johan überlegte, ob er es wagen sollte, den Unsterblichen wissen zu lassen, was er davon hielt, für ihn zu laufen, entschied dann aber dagegen und joggte ein weiteres Mal zu dem grün markierten Baum. Als er gerade den Pfeil aus seinem hölzernen Loch gezogen hatte, spürte er etwas an seiner Wange vorbeistreifen. Der Pfeil war zu schnell, als dass er es hätte wirklich sehen können, aber von einem Augenblick zum nächsten steckte ein weiterer schwarzer Pfeil in der Rinde, exakt so, dass die künstlichen Federn sein Gesicht gerade eben berührten. Er riss den Kopf herum und starrte Neidhardt mit kaum noch unterdrückter Wut an, bis es aus ihm herausplatzte:

"Willst du mich umbringen, alter Mann?!"

"Zum Himmel, nein. Davon hätten wir beide nichts - zudem hätte ich dann ebenso zwei Zentimeter weiter rechts treffen müssen. Präzision, Johan. Präzision und Ruhe."

Während Neidhardt leicht amüsiert in seinen gezwirbelten Bart gluckste, stapfte Johan über die Rasenfläche zurück, ohne auch nur ein Wort von dem Gesagten näher zu beachten. Hohle Worte, die den Alten wichtig klingen ließen, mehr nicht. Was konnte er schon, außer nicht sterben und nicht altern? Johan warf ihm den Pfeil vor die Füße, als er wieder vor dem Unsterblichen stand und machte dann auf dem Absatz kehrt, um zu den Fahrzeugen und in Richtung der Aufklärer zurückzukehren. Er hatte genug von der Wichtigtuerei des anderen Mannes und wollte sich mit wichtigeren Dingen beschäftigen, allerdings wurde er von einem sanft gesprochenem "Das habe ich damals auch gemacht" unterbrochen. Er blieb stehen und wandte das Gesicht leicht zur Seite zum Sprechenden hin.

"Was, Sterbliche mit Pfeil und Bogen erledigen?"

Neidhardt schüttelte den Kopf, wirkte aber wieder leicht amüsiert, als er antwortete: "Nein, nein, Grundgütiger; das nur, wenn sie es verdient hatten. Ich meinte die Hitzköpfigkeit." Da Johan auf das Gesagte einging und sich langsam wieder ganz umwandte, um den Unsterblichen mit einer Mischung aus Misstrauen und unterdrückter Neugierde anzusehen, fuhr dieser zufrieden fort: "Nun, bezüglich der Damen, also, damals war es… anders. Nicht, dass es keine Möglichkeiten gegeben hätte, aber Enthaltsamkeit, gerade im Angesicht von dämonischem Übel, war eine hohe Tugend."
Johan wunderte sich nicht zum ersten Mal, seit der Unsterbliche zu der Eliteeinheit gekommen war, über dessen seltsamen Dialekt. Nicht nur sprach er mit einer Mischung aus altmodischen und modernen Begriffen, auch sein Dialekt schien geprägt durch die Jahrhunderte des Wachens und Schlafens. Neidhardt sprach wenig über sich selbst, aber er hatte durchblicken lassen, dass er nur zu den seltenen Spezialeinsätzen der 8-Rex durch die Foundation "geweckt" wurde, was Johan vermuten ließ, dass diese ihn in irgendeinem Loch in einer Art Kryoschlaf hielten. Den Grund dafür konnte er sich nicht wirklich denken, aber es klang nicht so, als wäre es dem Unsterblichen nicht genehm. Höchstens lästig und etwas anstrengend, vor allem, wenn dieser sich an eine neue Umgebung und Zusammenstellungen gewöhnen musste. Dennoch, Johan musste zugeben, dass er Neidhardt beneidete. Er hatte stets die modernste experimentelle Ausrüstung der Foundation, die selbst der Elitesoldat nicht zu Gesicht bekam, wusste jederzeit über alles Bescheid und schien auch im Kampf bereits alles gesehen zu haben. Wann immer sie auf etwas Unbekanntes trafen, wusste Neidhardt mindestens zehn Möglichkeiten, damit umzugehen und nahm das Zepter in die Hand. Johan erinnerte sich bei dem Gedanken an die wenigen Monate zurück, in denen seine Einheit zu ihm hochgesehen hatte und er die Verantwortung für das Leben seiner Männer hatte. Er sehnte sich für einen Moment zurück, zurück in ein anderes Leben, das- … Da war noch mehr, aber ein Stich in seinem Hinterkopf ließ ihn zusammenfahren und er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den ehemaligen Kreuzritter.

"Kopfschmerzen, Johan?"

Etwas in dem Blick Neidhardts sagte Johan, dass er genau wusste, was gerade passiert war. Neidhardt wusste von dem Implantat, ebenso wie er selbst. Das kleine Mistding, das dafür sorgte, dass er brav wie ein Hündchen bei der Elite blieb und als Druckmittel der Obrigkeit diente. Johan meinte, etwas Freundschaftlich-Mitfühlendes in dem Blick von Neidhardt entdecken zu können, was ihn erst etwas irritierte, bis der Unsterbliche hinzufügte: "Keine Sorge, jeder hier will oder muss etwas verlieren, um sich zu eignen; sich zu beweisen. Du wirst es nicht lange vermissen." Er legte seine behandschuhte Hand leicht auf die Schulter Johans und drückte ihm mit der anderen den Bogen wieder in die Hände, dann schob er ihn zurück an die Stelle, an der sich das Gras bereits den Stiefeln deutlich gebeugt hatte und welche den Punkt ihres kleinen Bogentrainings markierte. Als Johan dem stillen Befehl folge leisten wollte, hörten beide Männer das Knirschen von Schritten näher kommen.

"Oh Junge, der edle Whiteknight und der griesgrämige Schwarze Ritter, vereint wie Vater und Sohn - was für eine Szene!"

Die raue Stimme hinter den beiden erschreckte sie nicht, dennoch drehten sich beide zu Romek um, der, um seine Abhängigkeit zu befriedigen, eine nicht angezündete Zigarette zwischen den Zähnen kaute. Der ehemalige GSG 9-Präzisionsschütze und Fallschirmspringer grinste die beiden mit verschränkten Armen an und hob dann eine Hand an seine tote Zigarette, in einer sinnlosen, aber nicht mehr abtrainierbaren Geste. Neidhardt schüttelte gespielt betroffen den Kopf, bevor er eine fast unmerkliche Bewegung mit den Händen machte, was dafür sorgte, dass seine gesamte Panzerung durch Facetten-Paneele eine weniger auffällige grau-schwarze Färbung annahm. Mit gekünstelter Betroffenheit und deutlich neckend sprach er: "Magst du das Weiß etwa nicht? Gefällt dir vielleicht Veilchenblau mehr?" Johan fühlte erneut einen Stich des Neides, als er die automatische Anpassung der Tarnrüstung sah und auch Romek schnalzte anerkennend mit der Zunge.

"Oh, keine Sorge, Kinder, in ein paar Monaten dürft ihr diese Technologie auch tragen. Sie testen die nur an mir, da mich der Tod nicht so zügig ereilt, sollte etwas falsch funktionieren."

Romek trat nun ganz zu ihnen, was Johan dazu brachte, einerseits den Bogen wieder abzulegen und andererseits einen halben Schritt zurückzuweichen und die Arme vor der Brust zu verschränken. Romek, der das Abwehrverhalten sofort bemerkte, grinste ihn weiter an. "Och komm schon, Püppchen, wir hängen jetzt schon seit Wochen jeden Tag zusammen und du traust Onkel Romek immer noch nicht?"
Johan wollte etwas erwidern, wurde aber von Neidhardt unterbrochen, der sich Romek zuwandte und etwas leiser sprach: "Er ist nur noch dabei, sich an das Implantat zu gewöhnen; ist schließlich erst sein zweiter Einsatz." Sofort schien Romek allen freundschaftlichen Spott vergessen zu haben und sah mit der ernstesten Miene, die ihm mit der krummen Fluppe im Mundwinkel möglich war, zu Johan.

"Mach dir nicht so 'nen Kopf drum, J, man gewöhnt sich dran. Also, an das Vergessen. Für die sind wir halt Assets, Waffen auf Beinen, sozusagen. Ist wahrscheinlich auch besser so, ich meine, stell' dir vor, unser Nazi-Hannes würde sich im Einsatz an seine Dimension erinnern, oder an Frau und Kinder. Wenn die könnten, würden die uns ganz ausradieren da oben" - er tippte sich beim Sprechen an die Stirn - "aber dann wären auch die Erfahrungen weg und sie könnten genauso gut einen Androiden hinstellen. Die sind aber zum Glück nur kugelfest, nicht schlau."

Johan entspannte sich etwas, wusste aber beim besten Willen nicht, was er auf Romeks Worte erwidern sollte. Glücklicherweise wurde die sich dehnende Stille zwischen den Dreien durch das Knacken der Funkgeräte an ihren Hüften und Schultern unterbrochen. Die Aufklärer der Truppe meldeten Sichtkontakt und sofort waren alle drei in Bewegung. Sie packten die Ausrüstung und Johan sicherte seinen Bogen, um dann mit den anderen Zweien loszulaufen. Neidhart spurtete in einem Tempo voraus, das Johan sich wundern ließ, ob das normalen Menschen überhaupt möglich sein würde, zu erreichen. Romek und er fielen schnell zurück und Romek schien im Gegensatz zu Johan noch nicht einmal angestrengt zu laufen. "Halt Schritt, J!", rief er, während er gleichzeitig mit der flachen Hand gegen Johans Schulter schob und ihn so antrieb. Dem blonden Soldaten kamen erst gewohnheitsbedingt ein paar abfällige Bemerkungen in den Kopf, die aber fast sofort von einem Gefühl von Kameradschaft und Dankbarkeit weggespült wurden. Romek wollte nicht, dass Johan aus der Einheit flog und das hatte er schon sehr früh deutlich gemacht. Er trieb ihn stets an, mit den anderen mitzuhalten, deren Leistungen weit jenseits denen einer normalen MTF-Einheit lagen. Johan drehte den Kopf leicht zur Seite und nickte nur entschlossen, bevor er sein Bestes gab, im Gleichschritt mit Romek zu der bereits wartenden Gruppe zu laufen. Schon bald machte er die Figur von Georg, dem ehemaligen SKP-Servokampfanzugpiloten, der Magierin Emilia und Neidhardt aus, die ihr Koppelzeug mit den anti-thaumaturgischen Werkzeugen richteten und die Waffen vorbereiteten.

Fühlt sich fast wie nach Hause kommen an, dachte der blonde Elitesoldat still für sich.

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