Raubkopie

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Schon immer, seit ich denken kann, wollte ich einfach nur dazupassen. Ich wollte immer nur sein wie alle anderen um mich herum, inklusive meine Eltern. Sie und ich, wir hatten eine ganz andere Eltern-Kind-Beziehung, als jeder andere sonst heutzutage. Mal war sie irgendwie … normal, bevor sie in Sekunden zu einer distanzierten und manchmal sogar feindlichen oder furchterfüllten Haltung wechselte. Es verhielt sich so ähnlich im Kindergarten, die anderen Kinder wollten nach kurzer Zeit nicht mehr mit mir spielen, sogar die Erzieher hielten Abstand. Beim Essen war ich immer diejenige, die den letzten freien Platz belegen musste, diejenige, die sich aus Scham als Folge des Verhaltens der anderen immer mit dem letzten Stück Brot zufrieden gab, falls überhaupt noch was übrig blieb, diejenige, die stumm auf dem Stuhl hockte und wartete, während die anderen aßen. Ich dachte immer, Gruppen und Freundschaften entstehen durch Verschiedenheiten, also versuchte ich anders zu sein als alle anderen. Wobei, wenn ich das so sage, wirkt es, als wäre ich selbst komplett Schuld an meiner Situation. Doch das bin ich nicht. Ich bin anders als alle anderen, und das seit meiner Geburt.

In der Grundschule verhielt es sich auf dieselbe Weise. Mit einer Ausnahme: Mein Anderssein sorgte für Verletzungen. Zunächst, noch in der ersten Klasse, nur auf mich selbst beschränkt. Als ein Viertklässler, statt wie üblich auf Abstand zu bleiben, ausholte und mich mit einem Schlag für zwei Monate ins Krankenhaus beförderte. Meine Eltern besuchten mich nur, wenn sie irgendwelche Formulare ausfüllen mussten. Als ich schließlich wieder in die Schule konnte, war für zwei Jahre ein imaginärer Kreis gezogen, den niemand übertrat, wenn es nicht sein musste. Doch dann begann, nein, dann entschloss ich, dass ich mich ändern musste. Zunächst war es keine große Änderung: Ich begann zu beobachten, und während ich beobachtete, wurde mir eines klar: Die Welt schien wie von Rauch gefüllt werden zu können, der mich verbarg und mir das Beobachten aus nächster Nähe ermöglichte. Doch im letzten Jahr an der Grundschule versagte der Rauch immer wieder. Und wenn ich dann gesehen wurde, hatte ich Angst. Und wie es manche Tiere bei Angst taten, ging ich in den Angriff über. Sicherlich einmal in der Woche griff ich an, ich verletzte die anderen mit meinen Nägeln, die zu Klauen wurden. Ich verletzte sie mit meinen Fäusten, die die Wucht fallender Ziegelsteine bekamen. Doch … All das wollte ich nie.

Dann, kurz vor dem Wechsel auf eine Gesamtschule, veränderte ich mich noch einmal: Ich übernahm, was ich beobachtete. Ich konnte zu einer Kopie werden, wenn ich nur wollte. Endlich konnte ich einfach nur dazupassen. Als ich dann die Schule gewechselt hatte, kopierte ich das schönste Mädchen aus meiner alten Klasse und das erste Mal in meinem zehn Jahre weilenden Leben gab es so etwas wie Freundschaft für mich: Zwei Mädchen meines Alters. Jeden Tag mimte ich die körperlichen und geistigen Veränderungen meiner Freunde. Das funktionierte gute fünf Jahre so, als ich, zu spät, merkte, wie mir ein Junge aus der Parallelklasse nach der Schule auf meinem Heimweg folgte. Ich war gerade dabei, die für meine Eltern so offensichtliche Kopie abzulegen, als ich sein von Schreck verzogenes Gesicht sah. Er rannte vor mir weg, aber weil er es niemand anderem verraten durfte, folgte ich ihm. Als ich ihn einholte, warf ich ihn um. Ich zerkratzte ihm das Gesicht und riss ihm die Haare aus. Ich schrie immer, dass er die Klappe halten soll, während er brüllte und brüllte und brüllte. Meine Fingernägel verbogen sich vor meinen Augen in Klauen, mit dem ich ihm die Augen, in denen sich mein sich ständig änderndes Gesicht abbildete, ausriss, bevor ich ihm die Ohren zerfetzte und Lippen und Zunge entriss. Auch seine Kehle durchbohrte ich wieder und wieder. Die ganze Zeit gellten seine Schreie durch die Straßen und es hatte sich bereits eine betrachtliche Menge an Zuschauern gebildet, die jedoch alle zu ängstlich waren, um zu reagieren. Letztendlich war es ein kurzer Pikser in meinem Oberarm, der mich in Schwärze und Dunkelheit versinken ließ.

Ich erwachte in einem relativ leeren Raum, der nur mit einem Bett und einem Schreibtisch mit dazugehörigen Stuhl ausgestattet war. Es kam eine Frau in einem orangenen Overall in mein Zimmer und brachte mir Essen. Mehrmals fragte ich sie, ob das hier ein Gefängnis wäre, doch sie antwortete mir nie. Das Einzige, das ein Hinweis auf meinen Aufenthaltsort sein könnte, war das Logo auf der Kleidung: Ein Kreis mit drei Auswüchsen im 120°-Winkel zueinander, aus denen Pfeile traten, deren Spitzen sich fast im Mittelpunkt berührten und auf dem Weg dorthin einen weiteren, kleineren Kreis durchdrangen.

Ich saß dort mehrere Monate herum, wobei ich mir die meiste Zeit mit einem Nintendo vertrieb, den mir die Frau nach einer Woche gegeben hatte. Mehrmals wurde ich von Leuten in Kitteln über alles Mögliche befragt, durfte jedoch selbst keine Fragen stellen. Das Gruseligste war, dass immer zwei Personen in Schutzkleidung dabeistanden und ihre Waffen auf mich gerichtet hielten. Das machte mich immer nervös und erfüllte mich mit Angst. Doch ich hatte gelernt, meine Angst zu kontrollieren.

Einmal kam ein älterer Mann mit grau-weißen Haaren und faltigem Gesicht, um mich zu befragen. Natürlich waren die Waffen-Leute auch dabei. Er wollte gerade anfangen, mit mir zu reden, als er plötzlich die Augen aufriss und von seinem Stuhl fiel. Er griff sich an die Brust und als ich zu ihm wollte, um zu helfen, hörte ich einen lauten Knall und vor Schmerz brach ich neben dem Mann zusammen. In seinen aufgerissenen Augen sah ich ein Spiegelbild meines Gesichtes, das sich die ganze Zeit verwandelte, bevor ich gar nichts mehr sah.

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