Rattentaufe


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Der Gestank war es, der Thomas in dieser Nacht weckte.

Ein beißender, unfassbarer Geruch bar jeglicher Beschreibung riss ihn aus seinen bibelfreien Träumen, in denen es keine Evangelisten und Wiedertäufer gab, keine altgriechischen Philosophen, keine verrückten Schismatiker, die das Filioque leugneten.

Nur wohlige, gottlose Leere. Ruhe und Einsamkeit.

Wann hatte er das letzte Mal geträumt, einfach nur geschlafen?

Wie Jahrzehnte erschien es ihm, seit er sorgenlos und mit reinem Gewissen zu Bett gegangen war, anstatt sich seinen Kopf an all dem Hader und Zweifel zu zerbrechen, die ihn fortwährend plagten und quälten.

Mit der dräuenden Priesterweihe vor Augen fühlte er sich von Tag zu Tag mehr gefangen in seinem eigenen Verstand, wurde leidender Sklave höhnischer Stimmen und schadenfreudiger Befürchtungen, seine Jugend und Gesundheit für einen Gottvater, -geist und -sohn verschwendet und vergeudet zu haben, die zu verehren ihm immer sinnloser erschien.

Am schrecklichsten waren sicher der Scham und der Ekel vor sich selbst, es sich nicht endlich eingestehen zu wollen. Thomas hätte wohl noch lange dort auf dem Schreibtisch gelegen und sich in seinem Selbstmitleid gesuhlt, wenn dieser widerliche Geruch nicht gewesen wäre, bei dem an Wehleidigkeit und Apostasie nicht zu denken war.

Maria im Himmel, was konnte denn nur so grauenhaft stinken?

Ächzend richtete er sich auf, streckte seinen Rücken, sah sich kurz in seiner kleinen, schmucklosen Lernstube um, ob nicht irgendwo ein verfaulender Katzenkadaver in der Ecke lag, dann folgte er den sauren, ätzenden Schwaden, die durch das kalte Kirchengemäuer waberten.

Besser, sich gleich jetzt darum zu kümmern. Was du heute kannst besorgen, Thomas, verschiebe nicht auf morgen.

Er konnte sich schon denken, was geschehen war: ein halbstarker Gymnasiast wird aus Jux und Dollerei ein paar Stinkbomben losgelassen haben. Letzte Woche hatte der Herr Pfarrer wieder eine Bande grölender Teenager dabei erwischt, wie sie spätabends auf dem benachbarten Friedhof gestohlene Zigarren pafften, und Thomas wollte gar nicht so genau wissen, was des Nachts hinter den Müllcontainern des Gemeindezentrums geschah.

Die Flure und Gänge des geheiligten Gebäudes waren stockfinster, doch Thomas brauchte kein Licht, seine Füße kannten den Weg und führten ihn zielsicher zum Kirchenschiff. Ein kurzer Blick auf die fluoreszierenden Zeiger seiner Armbanduhr zeigte ihm, dass es Fünf nach Zwölf war.

Tiefste Nacht. Geisterstunde.

Die älteren Herrschaften des Dörfchens, die von mittags bis abends in den Kneipen beisammensaßen und in ihre Biergläser starrten, pflegten sich allerlei Gruselgeschichten und Volkssagen über diese Ländereien zu erzählen, die sich angeblich in einer fernen, vorindustriellen Vergangenheit ereignet hatten. Verschwundene Kinder, von Korngeistern und Erntegespenstern entführt. Menschenfressende Wälder und blutrünstige Trolle, die unter Bachbrücken hausten, Hexen in den Buchen …

Nicht, dass Thomas an derlei Fabeln und Schauermärchen glaubte, doch spürte er, wie ihm langsam das Unbehagen den Nacken hinaufkroch, als er die Tür zum Kirchenschiff erreichte.

Ein seltsames, kratzendes Schlurfen und ein nasses, schweres Platschen drangen an sein Ohr.

Kurz zögerte er, vielleicht wäre es doch besser, die Polizei zu kontaktieren, doch dann nahm er seinen Mut zusammen, schalt sich einen dummen Jungen und trat in die hohe, weite Halle hinein.

Die Kirche, in der Thomas die letzten Züge seines Priesterseminars durchlitt, war ein klassischer, schmuckloser Neubau, irgendwann in den späten Siebzigern aus einem plötzlichen Wunsch der Dorfgemeinschaft heraus errichtet, doch bitte auch ein so schickes flottes Gotteshaus zu besitzen wie diese unverschämten Personen aus dem Nachbarstädtchen.

Ein hübsches Bauwerk war es, freundlich und einladend, in dem etliche Generationen junger Priester ihren Willen zur Verkündigung erfahren hatten.

"Man spürt die Arbeit und die Hingabe, mit der sie diese Kirche errichteten", pflegte der Herr Pfarrer stets zu sagen, woraus Thomas, wenn er ehrlich war, nie ganz schlau wurde. Wenn man ihn fragen würde, was er von diesem Gemäuer hielt, wüsste er vermutlich auch nicht, was er darauf antworten sollte.

Stirnrunzelnd sah er sich im Kirchenschiff um. Hier musste die Quelle der schimmeligen Ausdünstungen sein, was - Gott bewahre! - auch immer es nun sein mochte.

Da!

Auf dem Gang zwischen den Kirchenbänken lag etwas, ein unförmiger Haufen verschmutzter Lumpen -

Das Blut gefror ihm in all seinen Adern, und namenloses Entsetzen bemächtigte sich seiner.

Unfähig, den angststarren Blick von dem zu nehmen, was dort auf den Tabernakel zukroch, gaben seine Knie nach, und hielte er sich nicht an einer der Kirchenbänke fest, hätte er wohl das Gleichgewicht verloren und wäre vor Grauen gepackt zu Boden gestürzt.

Es war ein Körper.

Der Leib eines Menschens, umhüllt von schwarzen, ausgehungerten Kanalratten, die über seine Gestalt wuselten und rasten. Wo die Ratten begannen und der Mensch endete - Thomas vermochte es nicht auszumachen.

Jetzt war es um ihn geschehen. Der Stress, all der Zweifel und die andauernde Magersucht hatten, zusammen mit der norddeutschen Kälte und zu viel billigem Filterkaffee, seinen Verstand ausgelaugt und zerrüttet.

Die Kreatur erstarrte.

Und erhob sich, zusammen mit seinen Ratten, die sich an sein schmutziges Fleisch und in die langen, verfilzten Haare voll Dreck und Detritus krallten.

Sie sahen sich an, der Priester, die Ratten und der Mensch, den sie umgaben.

Zwei große, gelbe Augen, mit geschlitzten Pupillen und eiterunterlaufen, erwiderten den Blick des Seminaristen.

"Herr Schatzschneider … sind Sie das?"

Und sprachen ihn an.

"Ich dachte, Sie hätten aufgehört."

Viel hätte nicht gefehlt, um Thomas niederzustrecken, denn diese heisere, spöttische Stimme war ihm durchaus vetraut.

"M-Munia?", stülpte seine Zunge den Namen hervor, und seine Füße machten einen unwillkürlichen Schritt auf das von Ratten und Unrat umhüllte Mädchen zu.

Die Messdienerin, die verschwunden war, vor etwas mehr als einem Monat! Munia DeGnore!

Spurlos verschollen, unauffindbar, kein Hinweis, wohin es sie verschlagen hätte …

Weggerannt sei sie, hatten die Eltern kopfschüttelnd behauptet. Sie wissen doch, wie das Kind sich immer aufgeführt hat, Herr Pastor.

So hatte es später oder früher kommen müssen.

"Sie erinnern sich."

Neben dem garstigen Geruch, den die quiekende Ansammlung haariger Leiber absonderte, war es der Anblick dieser Kreatur, der ihn am meisten überforderte. Munia starrte vor Dreck, ihre bleiche Haut war unter einer Schicht dunkler, schlammiger Erde verdeckt, und bei jedem Satz tropfte dünnflüssige Schlacke aus ihren aufgerissenen Mundwinkeln. Eine lange, violette Zunge fuhr ihr dann über die blutigen, deformierten Lippen, und zeigte spitze, krumme Zähne, die ihr aus dem weißen Zahnfleisch wuchsen.

Die hässlichen, feuchten Ratten, die um sie wuselten, beschnupperten neugierig den Priester und funkelten ihn mit ihren schwarzen, dummen Augen höhnisch und heimtückisch an. Das Geräusch, das ihre scharfen Krallen und Regenwurmschwänze auf dem Steinboden machten, kam Thomas wie ein Flüstern vor, ein finsteres Gespräch, das sie mit dem Mädchen führten.

"Sie - sie haben nach dir gesucht", sagte Thomas, um einfach irgendwas zu sagen, und zweifelte jede Sekunde mehr an seinem Geisteszustand.

Entweder ich bin jetzt doch verrückt geworden - oder es ist nur ein Traum! Ja, ein Traum, ein scheußlicher, böser Traum wird es sein, redete er sich zu, das Produkt von Überarbeitung und leeren, protestierenden Eingeweiden.

"Gesucht? Nach mir?", fragte Munia und ein ungläubiges Lächeln verzerrte ihr schmutziges, hohlwangiges Gesicht.

"Tagelang - wochenlang! Sie - sie suchen immer noch nach dir, ich - ich kann deine Eltern anrufen, wenn …"

"Dies wird nicht nötig sein", wies sie ihn ab und ging weiter auf den Tabernakel zu, "ihnen habe ich nichts mehr zu sagen."

Munia schlug das schrankähnliche, hübsch verzierte Möbelstück am Ende des Kirchenschiffs mit ihren langen, krummen Fingernägeln auf und nahm den Ziborium heraus. Den funkelnden Deckel warf sie achtlos hinfort, sah hinein und wandte sich ihm erneut zu. "Er ist leer."

"Na-natürlich. Es ist - es ist Dienstag", erwiderte Thomas und versuchte, sich wieder aufzurichten. Seine Beine wollten ihm nicht gehorchen, seine Füße waren wie an den Boden genagelt.

"Seit zehn Minuten ist es Mittwoch", korrigierte Munia ihn und nickte zu der Uhr hinüber, die da an der Wand hing, um von den gelangweilten Kirchenbesuchern jeden Sonntag sehnsüchtig angeglotzt zu werden.

"Auch … auch Mittwoch halten wir hier keine Messen ab."

"Sie können doch trotzdem welche für mich herstellen, Thomas?"

Er brauchte ein paar Sekunden, bis er verstand, was sie von ihm verlangte.

"Herstellen? H-Hostien?!"

Munia beugte sich über den Kelch und erbrach eine rötliche Flüssigkeit.

"Das Blut habe ich bereits."

Das war zu viel für Thomas, und er verlor vollends die Fassung.

"Dämon!", kreischte er, rannte zum Altar, packte ein Kruzifix und hielt es Munia entgegen, doch im selben Augenblick fiel ihm ein, dass, wenn Gottes Allmacht gegen dieses Wesen wirken würde, es wohl kaum über die Schwelle der Kirchenpforten hätte gelangen können.

Tatsächlich, weder die Ratten noch das Mädchen wichen vor dem Kreuz zurück, er hätte sie auch mit seinem Tintenfüller bedrohen können.

"Ich sagte doch, das Blut brauche ich nicht mehr. Ich benötige nur noch den Leib."

Thomas hatte erkannt, dass die Tür zur Kirche weit offen stand. Das Kreuz an die Brust gedrückt, schoss er durch die Sitzbänke, erreichte den Eingang, der sich zu einer kalten, nebligen Nacht hin öffnete, eine karmesinrote Mondfinsternis hing zwischen den Sternen, doch wie von Geisterhand fielen die schweren Türen zu und schlossen ihn ein.

Sein Atem ging schnell, eiskalter Schweiß rann ihm die Stirn hinab, und er fauchte die Kreatur an: "Was hast du mit dem Kind getan, Dämon?!"

Munia streckte ihm den blutgefüllten Hostienkelch entgegen.

"Ich möchte eine Messe abhalten, und Sie bezeichnen mich als ein gottloses Ungeheuer?"

"Einen Diener des Herren werde ich dich gewiss nicht nennen!"

"Sie täuschen sich in mir, Thomas", sagte Munia und erneut schwappte purpurnes Wasser ihre Lippen hinab, "ich will Ihnen nichts Böses. Aber ich brauche den Leib des Sohnes, um ihn im schmutzigen Blute meiner Gattung zu baden. Dies wird die nächste Sünde sein, die ich auf mich lade, um die Ketten, die mich an die diesseitige Scheinwelt binden, zu kappen, und weiter in die darunterliegenden Ebenen vorzudringen, in welchen ich von den Schatten der Sternenkinder und Engelmacher gekrönt werde. Helfen Sie mir, Thomas, helfen Sie mir auf dieser heiligen Prozession in meinen Abgrund hinein."

"Oh Herr im Himmel, Jesus Maria und Josef …"

"Dies ist keine dämonische Fügung, Thomas, es geschieht aus meinem eigenen Willen heraus. Ich will es Ihnen erläutern:

"Begonnen hat es damit, dass ich mich nicht mehr gewaschen habe. Meinen Eltern ist es anfangs kaum aufgefallen, blind und taub, wie sie durch die Welt wandeln. Als sie es endlich bemerkten, hat Mutter versucht, mich in die Dusche zu zerren und mir eigenhändig den Schmutz von der Haut zu kratzen."

"Sie war sehr verstört, als es nicht funktioniert hat, haben mich eingesperrt, sind zu ihren Ärzten gelaufen, weil sie sich nicht mehr zu helfen wussten. Keiner hat ihnen geglaubt, Vater und Mutter waren sehr wütend an diesem Abend …"

"Eingekerkert in meinem Zimmer versuchte ich, mir das Essen und Trinken abzugewöhnen, was bedeutend schwieriger war. Irgendwann hielt ich den Hunger nicht mehr aus, habe die Wände aufgerissen und nach den Asseln und Spinnen zwischen den Mauern gegraben."

Thomas rannte zur anderen Seite des Kirchenschiffes, fort von dem Wesen und seiner zischenden Rattenmeute. Beinahe wäre über einen Schemel gestolpert und schrie panisch auf, als die Nager ihm entgegenliefen, über den kalten Stein rollend und krabbelnd.

"Bald konnte ich kein sauberes Wasser mehr trinken. Vom Durst getrieben bin ich in den Garten geklettert und habe erst unseren Teich und dann die Regentonne ausgeschöpft. Ich habe die Schnecken aus ihren Häusern gelutscht, den Fröschen ihren Laich gestohlen und die Muscheln aufgebrochen, die im Schlamm lagen. Unseren Hund habe ich nicht mehr zu fassen bekommen, er ist uns davongelaufen."

Die Ratten schnappten nach Thomas, zornig zirpend und fiepend. Angsterfüllt kletterte er über die Kirchenbänke, schlug eine der Ratten, die ihm zunahe gekommen war, mit seinem Kreuz hinfort und sah, wie der Körper des Tieres zerplatzte und zu einem Schwarm aus Schaben und Ungeziefer wurde.

"Meine Eltern haben es aufgegeben, als sie erkannten, dass es keinen Sinn mehr hatte. Es wird sie nicht allzu sehr geschmerzt haben, denke ich, sie haben ja noch andere Kinder, und eines Nachts bin ich gegangen."

"Wa-warum?!"

Von allen Seiten umzingelt, packte er das Kruzifix und schwang es wie eine Streitaxt, um die schnappenden Scheusale abzuwehren.

"Weil mir dieses Leben gleich geworden ist, Thomas", würgte Munia und schwarzes Pech floss ihr aus dem Maul. "Und weil ich hinter den Schleier dieser Welt gesehen habe. Helfen Sie mir, Thomas, transfigurieren Sie den Leib Ihres Herrn und eröffnen mir den nächsten Schritt ins Abnorme hinein."

Sein Fuß rutschte ab.

Kreischend fiel er in das Rattenmeer.

Die Kirchentür wurde aus den Angeln gehoben, eine Explosion erschütterte das Gotteshaus. Thomas schlug gegen Stein und Holz, schmeckte Blut, ein scharfer, hässlicher Schmerz fuhr ihm durch den Schädel.

Schreie und Lärm, das Knallen von Pistolen und Gewehren, kräftige Hände packten ihn und zogen ihn hinfort.

Da waren Menschen, gepanzert und mit schrecklichen Waffen ausgerüstet stürmten sie in die Kirche, auf einen großen, gewaltigen Schatten hinzu, der die Halle auszufüllen begann.

Grauenerregtes Kreischen, verängstigtes Heulen und entsetzte Schreie erfüllten die Luft, und das letzte, was Thomas erblickte, bevor er das Bewusstsein verlor, waren die Ratten, die aus der Kirche in die Nacht hinausströmten und im Dunkel verschwanden.
















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