Das Wunderland, Teil 1
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Letztes Mal bei Nuri:
Verloren und Gefunden, Teil 2

Elli versuchte verzweifelt, mit Dean zu reden, der wie ein Puma im Käfig im Kosmoskopraum auf und ab ging.

"Dean, wir- Wir können doch nicht-"

"Elli", unterbrach Dean sie. "Darf ich dich daran erinnern, was das letzte Mal passiert ist, als du einem Mädchen etwas für ihr weiteres Leben sehr Wichtiges nicht gesagt hast? Fast gestorben ist es1. Und das schließt noch die Möglichkeit aus, dass sie uns an der Nase herumführt und nur Gedächtnisverlust vortäuscht."

"Dean, sie ist vier", versuchte es Elli erneut. "Ich hätte es gemerkt, wenn sie lügt, aber ich kann gerne ihr Gedächtnis scannen, wenn du mir nicht glaubst. Und wir können ihr nicht einfach sagen, dass ihre Eltern tot sind. Weißt du, was das mit ihr anstellen kann?"

Dean hielt vor ihr an.

"Elli, andere Kinder verlieren ihre Eltern durch Kriege oder bei der Geburt, denen wurde das auch jemand mitgeteilt. Und auf dem Scan bestehe ich!"

"Andere Kinder haben ihre Eltern nicht während eines instinktgetriebenen Amoklaufs umgebracht!", hielt Elli dagegen und verzichtete auf eine Bestätigung von Deans Bitte. "Was soll ich ihr sagen? 'Tja sorry, du hast leider deine Alten umgeholzt.'"

"Wäre vielleicht das Beste", mutmaßte Dean. "Je eher sie weiß, wozu sie im Stande ist, umso besse-"

"NEIN, DEAN!", hielt Elli dagegen. "Du hast keine Ahnung von der Psyche eines Kindes. Solcher Druck kann sie in den Wahnsinn treiben, oder schlimmer."

"Tja, irgendwas wirst du ihr erzählen müssen", beharrte Dean. "Du kannst Nuri schlecht zu Eltern zurückbringen, die nicht mehr am Leben sind …"

"Und was?", fragte Elli gereizt.

"Tja, lass dir was einfallen", entgegnete Dean schulterzuckend. "Entweder du sagst es ihr oder ich tue es."

"Ist- Ist ja gut …", gab sich Elli kleinlaut geschlagen. "Ich sage ihr, dass ihre Eltern tot sind … Aber … ich sage ihr nicht, wie sie gestorben sind …

Es dauerte einige Stunden, bis Nuri wieder aufwachte. Dean bekam das Gespräch nur aus der Entfernung mit und hörte nicht alles, was gesagt wurde, aber er sah, wie Nuri schließlich große Augen bekam und wieder in ihr Zimmer zurückrannte. Er hörte die Tür knallen. Und wie Nuri weinte …


Professor Voss war im Moment eher traurig. Zwar hatten sie es geschafft, Astra am Ausbrechen zu hindern, allerdings waren ihre anderen Forschungssubjekte verschwunden, nachdem der Notstrom ausgefallen und die Sicherheitsmaßnahmen damit außer Kraft gesetzt worden waren. Die Mächtigeren hatten sich offenbar zusammengetan, um alle Bewohner der Einrichtung zu befreien. Das war ein herber Schlag für einige Projekte des IMBW, aber hatte auch einige erstaunliche Daten über soziologische Aspekte im Umgang mit den Begabten geliefert. Also war es kein kompletter Verlust gewesen. Sie würden sich wieder aufrappeln und weiterforschen.

Der Professor in seiner wahren Gestalt war ein wahrhaft riesiges Individuum, das vollständig unter Lederkleidung vermummt war. Sogar sein Kopf war unter einem Motorradhelm verborgen. Er sah alles auf der Welt als potentielles Versuchskaninchen an, das schloss ihn selbst mit ein und die Jahrzehnte der Tests und Experimente hatten seinen Körper derart entstellt, dass er sich verhüllen musste und lieber mit von einem Chip in seinem Hirn aus ferngesteuerten Androiden, den RTI-Titanen, mit anderen Menschen interagierte, um sie nicht zu beunruhigen.

Normalerweise wandte er diese Methode auch bei Kunden an, aber diese hier hatte ihn direkt sprechen wollen. Und so wartete er in seinem Büro/Labor/Arbeitszimmer, dessen Operationstisch im Moment gerade durch einen noch gerade so lebenden, gehörnten Dämon belegt war, ein nettes Geschenk von einem anderen Gast.

Eine Asiatin mit hohen Wangenknochen und merklichen Mengen an schwarzer Wimperntusche und Eyeliner im Gesicht betrat den Raum. Sie trug einen schwarzen Blazer mit einem weißen Hemd darunter, dazu Hosen mit schwarz-goldenem Nadelstreifenmuster. Der Blazer war an der linken Hüfte etwas ausgedellt.

Voss ignorierte das aus Höflichkeit, ebenso wie das, was da mit in dem Raum kam.

"Ah, Frau Sato", begrüßte der Professor die Frau, die vor ihm die Hände auf den Tisch knallte.

Das wäre vielleicht einschüchternd gewesen, wäre Voss nicht im Sitzen immer noch größer gewesen als die meisten Leute im Stehen.

"Wo ist es?", zischte die Frau und hielt sich nicht mit so etwas banalem wie einer Begrüßung auf. Voss entnahm ihrer Miene, dass sie relativ aufgebracht war.

"Oh?", begann er freundlich. "Meinen Sie unsere bezaubernde Nuri Jeong? Ich kann mich nicht erinnern, dass wir von ihnen irgendein Obj-"

"Wo. Ist. Das Mädchen?", wiederholte Sato durch zusammengebissene Zähne.

"Wollen Sie sich nicht vielleicht erstmal setzen?", bot Voss an. "Ich erzähle Ihnen alles, was ich weiß, aber Sie helfen niemandem, wenn Sie durch die Decke gehen. Wollen Sie einen Kaffee? Plätzchen? Ich habe auch Schokolade da."

Nachdem die Dame zu merken schien, dass sie Voss nicht einschüchtern konnte, atmete sie tief durch und ließ sich in den Ledersessel vor Voss' Schreibtisch sinken. So wie sie da saß wirkte sie wie das Cover eines Business-Zeitschrift., fand Voss. Oder das eines BDSM-Magazins, er hatte einige Studien dazu geführt …

"Ich brauche nichts", zischte sie.

"Nun gut", schloss Voss die Angelegenheit ab und ging mit der Freundlichkeit eines Vertreters, der den Inuit eine Gefriertruhe verkaufen will, zum eigentlichen Problem über. "Also, wie wir Ihnen bereits mitgeteilt haben, gab es einen Ausbruch, bei dem sich leider auch Nuri verdünnisiert hat."

"Was ist mit ihrem Ortungschip?", schnappte Sato. "Wir haben euch einen Empfänger dagelassen."

"Der aber scheinbar nicht funktioniert", schloss Voss an und legte das besagte Gerät auf den Tisch. "Sie können ihn gerne ausprobieren. Nuri erscheint nicht darauf. Entweder wurde der Ortungschip zerstört oder sie befindet sich an einem Ort, von dem aus das Signal des Chips uns nicht erreichen kann."

Sato nahm den Empfänger entgegen und runzelte die Stirn, als sich die Aussage des Professors bestätigte.

"Das ist unmöglich", entfuhr es ihr. "Es müsste an jedem Ort im Universum erfasst werden können. Habt ihr sofort nach der Flucht danach gesucht?"

"Nicht sofort, wir mussten leider verhindern, dass Mitteleuropa durch einen sehr großen und hässlichen Krater bereichert wird. Selbstverständlich haben wir aber sofort, nachdem das Problem unter Kontrolle war, die Suche begonnen, aber bereits da hatten wir kein Signal. Waren vielleicht anderthalb Stunden. Nun, gegeben dem, was Sie gerade gesagt haben, erscheint es mir jedoch plausibel, dass Nuri nicht erfasst werden konnte."

"Warum?", blaffte Sato.

Sie versuchte mit der Schminke zwar, Weiblichkeit zum Ausdruck zu bringen, aber ihr Gesichtsausdruck erinnerte den Professor an eine englische Bulldogge. Wenn auch mit wesentlich weniger Falten. Dabei hätte die Frau umwerfend ausgesehen, wenn sie nur gelächelt hätte …

"Sie wurde zuletzt in der Obhut einer bestimmten Person gesehen, alles war wir zu ihr gefunden haben identifiziert sie lediglich als Elli, aber soweit wie-"

"ELLI!?", fuhr Sato auf und hob sich aus ihrem Sitz. "Sie haben unsere Leihgabe an diese Tussi verloren?"

"Ich hätte sie nicht direkt so beschrieben, aber das kommt hin", bestätigte Voss schulterzuckend. "Kennen Sie die?"

"Oh ja", knurrte Sato. "Vielen ranghohen Mitgliedern bei uns ist sie wohlbekannt … Und da wir unser Investment wahrscheinlich nicht wiedersehen werden, brauchen wir einen Ersatz … HEKATE! FASS!"

Das zuvor für normale Augen unsichtbare Wesen wurde plötzlich sichtbar. Voss, der sowas schon geahnt hatte, sah nur einen Wirbel aus weißem Fell und mehreren Schwänzen, bevor er ohne aufzustehen die deformierte Schnauze des Wesens mit der Rechten packte. Er hatte allerdings keinen Halt und wurde in seinem Stuhl rückwärts gerollt, bis er gegen die Wand stieß. Loslassen oder wenigstens die Haltung verändern tat Voss zu Satos sichtlicher Bestürzung trotzdem nicht.

"Ich schätze, ich werde Ihnen nochmal den Vertrag erklären müssen", sinnierte er.


Nuri war in dem kleinen Ort Leimen in der Pfalz aufgewachsen, umgeben von Pfälzer Wald. Die Umstände, unter denen sie nun zurückkehrte, waren überhaupt nicht die, die sie wollte. Ellis Portal öffnete sich in einer Tür nahe dem örtlichen Friedhof. Nuri hatte sie darum gebeten. Mit ihrem Alter hatte sie ein unzureichendes Verständnis vom Konzept des Todes, aber auch sie wusste, dass man die Toten an ihrem Grab besuchen sollte. Und das hier waren ihre Eltern.

Elli war zuvor kurz losgegangen, um noch ein paar Sachen für Nuri zu besorgen, da sie keine Kleidung in Nuris Größe verfügbar hatte. Nuri trug nun ein schwarzes Hemd mit gleichfarbigen Hosen und Schuhen. Ihr Schwanz ragte durch ein Loch auf der Rückseite. Dean trug einen grauen Beerdigungsanzug, Elli ein schwarzes Kleid mit hohem Beinschlitz und einen schwarzen Hut mit breiter Krempe.

Die Sonne war im Untergehen begriffen, als Elli für Nuri die entsprechenden Grabsteine fand, denn sie selbst konnte, wie bereits erwähnt, noch nicht lesen. Man hatte ihre Eltern offenbar eingeäschert, so erklärte ihr Dean, denn das Gemeinschaftsgrab, dass sich Mama und Papa mit drei ihr völlig Fremden teilen mussten, war viel zu klein, um fünf Körper aufzunehmen, außer man beerdigte sie übereinander.

"Mama, Papa, ich bin da …"

Tränen rollten ihr über die Wangen und sie begann wieder zu weinen. Dean und Elli standen stumm hinter ihr, während Nuri vor Gram in die Knie ging.

Es war nicht fair. Es war nicht in Ordnung! Sie wusste nicht mal, wie sie bei den Bösen gelandet war. Bestimmt waren die es gewesen, die ihre Eltern tot gemacht hatten. Denn das war es, was Schurken tun.

Die Nacht war hereingebrochen, als Nuri sich endlich wieder beruhigte.

Elli und Dean standen immer noch geduldig hinter ihr.

"Können wir-", sie schniefte kurz. "Können zum Waldrand gehen?"

"Zum Waldrand?", wiederholte Dean verwirrt? "Nicht zu deinem Haus? Um diese Uhrzeit?"

"Ich will nicht in das Haus", widersprach Nuri. "Wir sind im Sommer immer zu den Wiesen beim Wald gegangen."

Elli und Dean wechselten einen Blick und zuckten dann synchron mit den Schultern.

Sie liefen zu Fuß, denn der Friedhof lag direkt neben dem Wald. Die Straßenlaternen des Orts sprangen mittlerweile an und spendeten weißes Licht. Der Wald selbst lag aber in Dunkelheit. Anders als die Wiesen davor.

"Oh", machte Dean überrascht. "Jetzt verstehe ich, warum du hier hinwolltest.

Über der Wiese schwärmten unzählige Glühwürmchen. Am Boden leuchteten sie ebenfalls, verborgen im Gras. Mama und Papa hatten Nuri schon die Jahre zuvor hierhergebracht. Sie hatte immer versucht, die kleinen Käfer zu fangen, bis ihre Eltern sie zurückgehalten haben, damit sie nicht auf die Tiere am Boden trat. Der Anblick hatte offenbar auch Elli und Dean in seinen Bann gezogen, denn sie waren am Rand der Wiese stehen geblieben.

Ein besonders stark leuchtendes Exemplar fiel ihr ins Auge, das auf dem Boden geblieben war. Elli und Dean hinter ihr ließen weiter das Bild auf sich wirken und beachteten Nuri im Moment nicht, als sie sich dem Insekt näherte. Und verschwand …


"Die in Südamerika leuchten besser, aber europäische Glühwürmchen haben ihren ganz eigenen Charme", merkte Elli an.

Sie mochte diese Insekten, denn ihr Tanz besaß seine eigene Geometrie, die Menschen nicht nachahmen konnten.

Soll En dich doch holen!

Elli schaute sich verwirrt um.

"Hast du was gesagt, Dean?"

Dean schüttelte mit dem Kopf.

Elli legte verwirrt den Kopf schräg. Sie war sich sicher, dass sie gerade jemanden reden, nein, fluchen gehört hatte …

"Nuri, hast du was- Nuri?"

Elli blickte sich alarmiert um. Es war nicht so dunkel, dass sie Nuri nicht hätte sehen können, vor allem vor dem Hintergrund der Leuchtkäfer, aber sie war weg. Dean, der ebenfalls gemerkt hatte, dass sich Elli hektisch umsah, begann ebenfalls zu suchen.

"Gerade eben war sie noch hier", wunderte er sich und lief über die Wiese.

Elli folgte ihm, bis Dean plötzlich stehen blieb.

"Ugh", machte er angewidert.

"Bist du in einen Haufen gelaufen?", fragte Elli und nahm vorsichtshalber einen Schritt Abstand.

"Ganz so schlimm ist es nicht", entwarnte Dean. "Ich bin auf einen Pilz getreten."

"Oh, puh", machte Elli.

Dann runzelte sie die Stirn, als sie das Gras betrachtete.

Neben Deans Fuß sprossen weitere Pilze aus dem Boden, links wie rechts. Sie bildeten einen ganzen Ring.

"Ein Hexenring?", murmelte sie und kramte in ihrer Tasche.

Hexenringe waren an sich nichts Außergewöhnliches, das Einzige, was einen überraschen konnte war der Fakt, dass sie meist ein einziger Organismus waren, ein Pilz, dessen Myzel sich kreisförmig in alle Richtungen ausgebreitet hatte und an dessen Grenzen nun Fruchtkörper sprossen. In diesem besonderen Zusammenhang aber war es der zweite Name, den diese Gebilde trugen, der Elli Sorge bereitete.

Feenringe.

Und tatsächlich, sie konnte Reste thaumaturgischer Energie nachweisen.

"Das ist ein Feentor!", entfuhr es ihr.

"Denkst du, Nuri hat es geöffnet?", fragte Dean stirnrunzelnd.

"Nein, das kann sie gar nicht. Ich bin sogar der Ansicht, dass es bis vor ein paar Minuten noch gar nicht existiert hat", widersprach Elli.

Ärger kochte in ihr hoch.

"Bewegen wir uns hier in ihrem Territorium?" wunderte sich Dean und sah sich um.

"Nein, Dean. Die Feen haben diesen Ort aufgeben, die meisten von ihnen vertragen das Eisen nicht, das in der Stadt existiert. Ich schätze, wir werden der Gemeinde im örtlichen Wald einen Besuch abstatten müssen …"


Nuri fand sich plötzlich auf einer Waldlichtung wieder. Über ihr hing ein voller Mond, und die Pflanzen um sie herum floureszierten in mattem Türkis.

"Harter Tag, hm?", fragte eine kratzige Stimme hinter ihr.

Als sich Nuri umdrehte, wurde sie einer hochaufgeschossenen alten Frau gewahr. Sie war spindeldürr und trug ein grünes Kleid mit dazu passendem Hut, der mit einigen Wachsfrüchten geschmückt war. Ihr graues Haar war zu einem Knoten gebunden.

"Wer sind sie?", fragte Nuri und sah sich um. "Und wo bin ich hier?"

"Ich bin deine gute Fee.", erklärte die alte Frau lächelnd. "Und du bist hier im Wunderland. Hier kommen alle Kinder hin, die alles verloren haben."

Nuri sah sich wieder um.

"Wo sind die anderen Kinder?"

Die alte Frau zuckte mit den Schultern.

"Du bist seit langem die Erste, die's erwischt hat", erklärte die Frau mitfühlend. "Heutzutage findet sich immer jemand, der sich um Kinder kümmert, die allein gelassen wurden. Ich habe schon überlegt, das Wunderland zu schließen."

Sie setzte ein merkwürdig gehetztes Lächeln auf, das allerdings völlig an Nuri vorbeiging.

"Aber jetzt bist du ja hier."

"Danke, aber ich möchte lieber wieder zurück zu Elli", erwiderte Nuri etwas beunruhigt.

"Aber warum, wir sind doch hier?", sagte da eine vertraute Stimme hinter Nuri.

Sie sog vor Schock die Luft ein.

"MAMA!"

Mit neuerlichen Tränen fiel sie ihrer Mutter in die Arme, die hinter ihr gestanden hatte.

Das nächste Mal bei Nuri:
Das Wunderland, Teil 2

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