Verloren und Gefunden, Teil 2
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Letztes Mal bei Nuri:
Verloren und Gefunden, Teil 1

Nuri hatte schon bei ihrer ersten Begegnung mit dem Geistermann Angst gehabt. Nicht wegen der Gespenster, Nuri hielt sich für mutig genug, um ihnen zu trotzen. Es war der Mann selbst, der ihr die Knie weich werden ließ. Sie konnte nicht sagen, woran es lag, aber er schien mehr zu sein als nur sein Körper. Etwas wie eine Präsenz, die alle anderen Einflüsse in seiner Umgebung erstickte. Wenn der Geistermann in der Nähe war, übermannte etwas unsagbar falsches Nuris Sinne. Es war wie der Schauer, den man empfand, wenn man auf extreme menschliche Missbildungen schaute, nur dauerhaft.

Und nun hielt er die einzigen Leute gefangen, die Nuri nach Hause bringen konnten. Dean richtete sich zwar bereits wieder auf, aber er konnte unmöglich etwas bekämpfen, das er nicht sehen konnte.

Er entschied sich daher anscheinend, zu bekämpfen, was er sehen konnte. Er stampfte auf Damm zu. Der zog nur ein Messer aus seinen Taschen und ließ Elli zu sich schweben.

"Vorsicht, Großer", warnte er gelangweilt. "Ich kann deine Freundin hier zwar auf Befehl vom Boss nicht töten, aber er hat praktischerweise nichts davon gesagt, dass ich sie nicht verletzen darf. Ich an deiner Stelle würde-"

Er wurde von Dean unterbrochen. Der war trotz der Warnung weiter auf ihn zugelaufen und versetzte dem Agenten unvermittelt einen Kinnhaken. Der Spezialagent sah die Faust gerade noch kommen und lehnte sich zurück, doch Dean nutzte die Position, in der sich seine Rechte nun befand und den Schwung, um in die Luft zu springen und sich mit dem Ellenbogen voran auf Damm zu werfen. Wäre Nuri in Wrestling versiert gewesen, dann hätte sie gewusst, dass Dean einen Ellbow Drop ausführte. Der Spezialagent jedenfalls wurde von dem Manöver völlig überrumpelt und stand als Folge kurz davor, unter Dean begraben zu werden. Nuri erwartete halb, dass die Erde unter dem Aufschlag erzitterte, aber nichts dergleichen geschah. Dean begann in der Luft zu schweben, bevor er Bodenkontakt herstellen konnte, dafür erhob die Schwerkraft allerdings Anspruch auf Elli und wartete dabei nicht auf die Zustimmung anderer physikalischer Einflüsse.

"Uff!", machte sie, als sie aufkam.

Damm glotzte derweil ungläubig Dean an, bevor der plötzlich von der unsichtbaren Macht weggeschleudert wurde. Er rappelte sich auf.

"Okay, ich habe versucht, das schmerzlos über die Bühne zu bringen, aber gut, dann ziehe ich die Samthandschuhe eben aus …"

Irgendwas flutete über Nuri hinweg. Sie konnte nicht sagen, was es war, nur, dass es mit der unangenehmen Aura des Mannes in Verbindung stand. Es schien auf Elli abzuzielen, die kurz verwirrt blinzelte, als sie getroffen wurde.

Dann fing Damm zu Nuris Überraschung an, wie am Spieß zu schreien und fiel zuckend zu Boden.

"Was hat er denn?", fragte Dean, der sich wieder aufrichtete.

"Der Kerl hat gerade versucht, von mir Besitz zu ergreifen", erklärte Elli. "Bloß gut, dass meine Gedankenmatrix viel zu komplex für ihn ist … Oh, jetzt verstehe ich, wie seine Fähigkeit funktioniert. Seine Seele ist zu groß für seinen Körper, dadurch kann er sie als Poltergeist improvisieren."

Dean besah sich das Spektakel, währen Nuri verwirrt vor dem gequälten Spezialagenten zurückwich. Sie hatte keine Ahnung, was gerade passiert war, aber offenbar hatte Elli den Geistermann außer Gefecht gesetzt. Die Aura um ihn herum flackerte, als ob sie die Schmerzen ihres Besitzers teilte.

"Hm", meinte Dean derweil, "soll ich oder willst du ihm in die Kronjuwelen treten?"

"Ne, lass mal, wir lassen ihn für das IMBW liegen, wir müssen hier raus", widersprach Elli. "Wir gehen in die andere Richtung, aus der hier wird wahrscheinlich gleich jemand wegen dem Geschrei kommen."

"Und warum bist du dir so sicher, dass es hier noch einen anderen Ausgang gibt?", fragte Dean.

"Brandschutzvorschriften?", versuchte es Elli.

Dean seufzte und setzte sich in Bewegung, während Nuri vorrannte, um neben Elli zu laufen.

"Wie bist du eigentlich hier gelandet?", fragte Elli, während sie liefen.

Nuri hatte sich das schon lange gefragt, denn sie wusste keine Antwort darauf.

"Ich weiß nicht", antwortete sie wahrheitsgemäß. "Ich bin irgendwann ins Bett gegangen und dann bin ich bei bösen Leuten aufgewacht. Aber ich will wieder nach Hause! Meine Mama macht sich bestimmt schon Sorgen!"

Sie sah Elli bittend an.

"Moment, heißt das, du warst da noch nicht beim IMBW?", fragte Elli.

"Nein. Ich wurde erst später hergeschickt. Von einer gemeinen Frau. Die hat mich gehauen …"

"Ich werde dazu später Nachforschungen anstellen müssen", meinte Elli. "Wie heißen denn deine Eltern mit Vor- und Zunamen?"

Nuris Miene hellte sich auf.

"Oh, Mama ist Jihe Jeong und Papa ist Minho Jeong", sagte sie fröhlich.

"Das macht dich zu Nuri Jeong", schloss Elli und zuckte mit den Schultern. "Damit kann ich arbeiten."

Nuri stellte die Ohren kerzengerade auf, als sie ein fernes Geräusch hörte. Schritte!

"Da kommt jemand!", flüsterte sie.

Elli legte mit gerunzelter Stirn die Hand ans Ohr.

"Ich höre nix. Dein Gehör ist absolute spitzenklasse."

"Wahrscheinlich wurden sie von dem Geschrei angelockt", mutmaßte Dean.

Sein Blick wanderte über die Türen an den Wänden.

"Vielleicht sollten wir ihnen aus dem Weg gehen. Sind diese Türen offen?"

Nuri wusste, dass sie zumindest eine von ihnen betreten konnte.

"Kommt mit!"

Sie ging vor und öffnete einige Meter weiter die Tür eines bestimmten Raums.

"Was ist denn das?", fragte Elli, als sie das Zimmer betrat. Ihr Blick war auf die große Maschine gefallen, die darin stand und durch ein Gitter gegen Zugriff geschützt war.

"Das ist der Murmelraum", erklärte Nuri, während Dean hinter ihnen die Tür schloss.

"Murmelraum?", wiederholte Dean leise. "Wie eine Murmelbahn sieht das nicht gerade aus."

"Ich nenne ihn so", hielt Nuri trotzig fest.

"Wa-", begann Dean, brach allerdings ab, als scheinbar auch er die Schritte auf der anderen Seite der Tür hörte.

Es dauerte eine Weile, die die drei in angespannter Stille verbrachten, bis sich das Getrampel weit genug entfernt hatte, um wieder frei reden zu können.

"Was für eine Murmel, Nuri?", fragte Elli alarmiert.

Nuri würgte ihre Murmel hoch und öffnete den Mund, um sie vorzuzeigen.

"Gie hieah", sagte sie mit offenem Mund.

"Du hast sie … in diese Maschine gesteckt?", fragte Elli vorsichtig.

"Nein?", antwortete Nuri und verschluckte die Kugel wieder. "Da waren zwei Leute in weißen Kitteln, die das gemacht haben. Ich musste hier immer wieder rein und sie ihnen geben."

"Äh, Nuri", begann Elli etwas schockiert. "Das ist deine Fuchsmurmel. Du hast nur eine und diese eine enthält den größten Teil deiner Essenz. Sie jemandem anzuvertrauen, bedeutet in etwa, vier Fünftel deiner Lebenskraft abzugeben. Lass' niemals wieder zu, dass sie dir jemand wegnimmt!"

Nuri schluckte ob dieser Offenbarung nochmal furchtsam, um sicherzugehen, dass ihre Murmel auch wirklich drin blieb.

"Was macht diese Maschine überhaupt?", fragte Dean.

"Ich werde das jetzt herausfinden", kündigte Elli an. "Wo ist denn mein Taschenmesser …"

Elli kramte in ihrer Tasche und holte schließlich etwas hervor, das wie ein Schweizer Taschenmesser aussah. Nuri kannte das Werkzeug nicht, dass Elli hervorholte, aber wer in der Industrie arbeitete, wusste sofort, was sie vorhatte.

Sie hatte den Plasmaschneider ausgeklappt …

Mit einer Schweißerbrille schnitt Elli durch das Schloss, bis Dean schließlich das geschwächte Gitter aufriss. Sofort war Elli an dem Gerät, schaltete es ein und tippte darauf herum. Nebenbei nahm sie einen Schwung aus einem schwarzen Flachmann, den sie aus der Tasche zog. Und Nuri wusste endlich, woher der Geruch nach Tankstelle kam.

"Hm, das ist eine Ladestation für abstrakte Energieformen. Aber wo kriegt er seine Energie her? Die Technologie zur künstlichen Erzeugung von Essenz sollte in dieser Zeit noch nicht existieren …"

Sie tippte ein wenig mehr auf dem Gerät herum.

"Hm, anscheinend gibt es eine Quelle in einem anderen Teil des Gebäudes, aber das Teil muss riesig sein. Wenn nur Nuri an dieser Maschine gesteckt hat, hat man ihr die Essenz von Zentausenden eingeflößt. Warum sollte das IMBW sowas machen?"

"Vielleicht werden sie dafür bezahlt?", mutmaßte Dean. "Nuri wurde ja von irgendwem anders hierhergebracht, vielleicht wollen die sie irgendwann wieder zurück?"

Nuri bekam Angst, als sie das hörte und hielt sich an Ellis Hose fest.

"Ich will nicht zurück zu der bösen Frau!"

"Ich arbeite daran", entgegnete Elli, bevor sie aufhorchte. "Hm. Hört einer von euch noch Damm schreien?"

Nuri und Dean lauschten kurz und schüttelten dann den Kopf.

"Also, sie werden wissen, dass wir raus wollen. Mit nur ein wenig Voraussicht werden daher die Ausgänge oben verschlossen sein", hielt Elli fest, während sie überlegte. "Ich kann die Realitätsanker nicht abschalten, da es zu viele sind und sie Notstromaggregate haben. Die Sicherheitskameras haben wahrscheinlich noch nicht gebootet. Wie kommen wir hier also raus?"

"Können wir ihnen vorgaukeln, dass wir Nuri als Geisel haben?", schlug Dean vor.

"Ich will keine Geisel sein!", widersprach Nuri erschrocken.

"Keiner will das", sagte Elli. "Und wenn Damm auch nur ein Fünkchen Verstand hat, wird er das sofort durchschauen, immerhin haben wir Nuri in keiner Form festgehalten. Urgh, dass ist fast wie damals, als wir Chloe-"

Plötzlich schlich sich ein breites Grinsen auf ihr Gesicht.

"Dean? Was hältst du von der guten alten Kaper-den-Gott-Taktik?"

"Ich möchte dich daran erinnern, dass wir in diesem speziellen Fall, der dir diese Idee gegeben hat, fast gestorben wären", hielt Dean dagegen1.

"Eh", winkte Elli ab. "Dieses Mal habe ich dazugelernt."


Spezialagent Damm rieb sich mit unterdrücktem Knurren die Wange.

"Professor, mussten Sie wirklich so hart zuschlagen?"

"Es tut mir schrecklich leid, Herr Damm", entschuldigte sich Voss erneut. "Aber kleinere Schocks mit An-den-Schultern-Rütteln und Ohrfeigen haben nichts gebracht und Sie standen kurz davor, wegen dieser neuralen Endlosschleife einen Schlaganfall zu erleiden. Entweder mein Schlag oder jemand hätte Ihnen in den edelsten Teil treten müssen."

"Mrm …"

Die beiden waren zusammen mit einem Aufgebot von Wachleuten auf dem Weg durch die Gänge. Offenbar hatte Trupp D die Eindringlinge verfehlt, als sie sich Damm genähert hatten. Beim Rückweg hatten sie festgestellt, dass sich jemand Zugriff zum Essenzkonverter verschafft hatte. Und sie hatten das Fuchsmädchen dabei …

"Müssen wir uns Sorgen machen, dass wir plötzlich mit irgendwelchem japanischen Monsterquatsch konfrontiert werden?", fragte er.

"Erstens, Herr Damm, unsere bezaubernde Nuri ist koreanischer Abstammung", hielt Voss mit Nachdruck fest. "Und zweitens, ich glaube nicht. Sie hat während ihres gesamten Aufenthalts hier noch keine weiteren Fähigkeiten neben dem Hervorwürgen ihrer Fuchsmurmel gezeigt. Ich bin mir dabei sicher, immerhin lasse ich sie dahingehend studieren."

Damm rollte mit den Augen über Voss' Forscherelan.

"Was das angeht, Herr Damm", fuhr der Direktor des IMBW fort, "ich würde sie gerne bitten, Nuri mithilfe ihrer Gabe wieder-"

"Abgelehnt, Professor", schnitt ihm Damm entschieden das Wort ab.

Voss blinzelte überrascht.

"Oh? Ich habe keine Absicht, Sie zu etwas zu zwingen, aber wie kommen Sie zu dieser abrupten Antwort?"

"Standards, Professor", war die Antwort. "Mir wird körperlich unwohl bei dem Gedanken, die Kontrolle von kleinen Kindern zu ergreifen."

"Oh, das ist nachvollziehbar", stimmte Voss grübelnd zu.

"Wo denken Sie, sind sie jetzt, Professor?", wechselte der Spezialagent das Thema.

"Nun, sie sind nicht verschwunden, sonst hätten sie es bereits getan, als sie den Androiden aufgelesen haben. Nach oben sind sie offenbar nicht gegangen, denn dann wären sie den Wachposten in die Arme gelaufen. Damit bleibt nur die Flucht nach unten."

Der Spezialagent horchte auf.

"Meinen Sie ganz unten?"


"Ein großes stählernes Tor", beschrieb Dean das, was sie vor sich sahen. "Warum musst du immer den Horrortrip machen, Elli? Hinter großen stählernen Toren verbirgt sich nie was Gutes."

Sie befanden sich am Ende eines sehr weiten Korridors mit einem Lastenaufzug am anderen Ende. Die Wände bestanden aus kahlem beton. Nuri guckte fasziniert dabei zu, wie Elli den Kontrollkasten neben dem Tor abgeschraubt hatte und an den Drähten rumfummelte. Schließlich öffnete sich das Tor mit mechanischem Dröhnen.

Für eine Weile sagte keiner von ihnen etwas, als sie sahen, was dahinter lag.

"Was. Ist. DAS!?", brachte Dean schließlich hervor.

In dem großen Raum hinter dem Tor befand sich eine wahrscheinlich metertiefe Absenkung, die von einem futuristisch wirkenden Stahlkäfig weiträumig umschlossen war. Und in dieser Vertiefung pulsierte und wandte sich … Nun ja, was eigentlich? Nuri hatte noch nie so etwas gesehen. Es erschien eine Art kolossaler Klumpen aus verwachsenem Fleisch und Knochen zu sein. Knochen und verkümmerte Gliedmaßen standen in alle Richtungen von der Abscheulichkeit ab.

Elli näherte sich der wabernden Masse vorsichtig. Nuri folgte ihr und wurde einem normalgroßen Auge gewahr, das sie durch das Gitter hindurch beobachtete. Der Blick entbehrte jeder Form von Seele oder Intelligenz.

"Elli, was ist das?", fragte sie ängstlich, darauf gefasst, dass sich der Koloss gleich auf sie stürzen würde.

"Etwas, dem wir nicht helfen können", antwortete Elli und zog eine Art Game Boy aus ihrer Tasche, von dessen Bildschirm sie etwas ablas.

"Ja. Wer auch immer das war, Voss hat ein Astralwesen, ein Monster nicht von dieser Welt, in dieses arme Mädchen gesteckt und offenbar ist der Neuankömmling verrückt geworden. Warum kriege ich hier Katzen-DNS angezeigt?"

"Mädchen?", wiederholte Nuri verwirrt. "Das ist doch kein Mädchen."

"Stimmt", bestätigte Elli. "Sie war ein Mädchen. Das hier ist, was Professor Voss zu tun bereit ist, um seine endlose Neugier und Ambition zur Verbesserung des Menschen zu befriedigen", erklärte Elli. "Ich habe viele gesehen, die so geendet sind. Einige von ihnen haben nicht mal mehr den Luxus, sterben zu können."

Elli nahm einen Schluck aus ihrem Flachmann.

Nuri dachte an die Momente zurück, die sie mit Voss verbracht hatte. Er war immer so nett gewesen …

"Bist du sicher, dass er das mit Absicht macht?"

Elli lachte humorlos.

"Ich bin mir sicher, dass er es nicht will, aber er macht es trotzdem als Teil seiner extremen Experimente. Er ist ein verrückter Wissenschaftler, Nuri. Charmant, liebenswürdig, vielleicht, wenn man ihn nicht kennt, aber darunter liegt sein Irrsinn, der ihn dazu antreibt, immer weiter zu forschen ohne Rücksicht darauf, was seinen Versuchskaninchen widerfährt. Vermutlich denkt er, dass er ihnen einen Gefallen tut …"

Nuri hatte Schwierigkeiten, sich Voss als böse vorzustellen. Allerdings ließ er sie hier in der Obhut von Menschen, bei denen Sie sich unwohl oder gar bedroht fühlte. Anders als Elli, die ihren Ruf nach Hilfe sofort angenommen hatte. Sie beschloss, ihr zu glauben.

"Wird er das auch mit mir machen?", fragte Nuri mit dem Blick auf die zuckende Masse aus Fleisch und hielt sich erschrocken an Ellis Hose fest.

"Nicht, wenn du eine Leihgabe bist, aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht null. Immerhin haben sie dich mit der schier endlosen Essenz dieser Kreatur gefüttert."

"Ich habe sie gegessen?", wunderte sich Nuri und ging mental ihre letzten Mahlzeiten nach verdächtigen Zutaten durch.

"Nein, Nuri", verneinte die Blondine. "Ich meine deine Fuchsmurmel. Sie wurde mit der Essenz dieses Wesens angereichert. Und wie es aussieht, treibt es mit seiner schieren Energie die Notstromaggregate im Gebäude an. Hm. Wenn ich die ausschalte …"

Elli schaute sich in dem Raum um und fand schließlich einen Tisch, auf dem ein Laptop stand, daneben verlief vom Käfig aus ein wahrer Urwald an Stromkabeln und verschwand in einer Wand.

"Genug Power um den Landkreis einzuäschern und sie haben nichtmal ein spezialisiertes Terminal …", kommentierte sie und holte einen mit Kätzchenstickern bekleben USB-Stick aus der Tasche.

"Was hast du vor?", fragte Dean, der ebenfalls herantrat.

"Ich hatte gehofft, dieses Wesen für meine Zwecke benutzen zu können, aber wir haben es hier mit einem gottartigen Wesen ohne jeden Verstand oder Seele zu tun. Deswegen muss ich wieder improvisieren. Ich werde mich dazu in den Rechner hacken und die Stromzufuhr zu allem unterbrechen, was die Realität hier stabil hält. Wenn dabei noch ein paar Insassen entkommen, umso besser."

Sie steckte den USB-Stick an, aber …

"Ich fürchte, das ist etwas, das ich nicht zulassen kann. Elli war der Name, korrekt?"

Nuri kannte die Stimme. Als sie sich umdrehte, erkannte sie Voss, zusammen mit Damm und einigen anderen Männern, die den Raum betraten. Sie ging hinter Elli in Deckung.

Elli derweil stellte sich mit dem Körper vor den Computer und verbarg die linke Hand hinter ihrem Rücken. Dean bezog neben ihr Aufstellung. Sie kramte mit der Rechten in ihrer Tasche.

"Voss!", begrüßte sie den Professor mit aufgesetzter Freundlichkeit und dazu passendem Lächeln. "Es ist wirklich schön, Sie mal zu treffen, aber meine Wenigkeit zu treffen ist ein Privileg. Ich muss sagen, ich war nicht sehr begeistert, als Sie meinen Kollegen hier entführten. Und ihm dem Überzug ruiniert haben. Wissen Sie, was das kostet?"

"Ich kann nur mutmaßen", gestand Voss. "Ich verstehe zwar, warum Sie eingebrochen sind, aber ich muss Sie darauf hinweisen, dass sie immer noch Eigentum des Instituts beschädigen. Wir haben den Schaden zwar erstmal notdürftig geflickt, aber wir werden einen Haufen Kabel ersetzen müssen."

"Das tut mir aber leid", meinte Elli sarkastisch. "Aber Sie haben versucht, Elli ans Bein zu pinkeln, aber Elli lässt sich nicht ans Bein pinkeln. Wenn hier jemand pinkelt, dann ich!"

"Ist uns mittlerweile bewusst", hakte Damm ein.

Nuri spürte, wie die die merkwürdige Aura auf sie zu floss. Allerdings wurde keiner von ihnen erfasst. Stattdessen fuhr der Computer plötzlich runter, den Elli mit der linken Hand hinter dem Rücken bedient hatte.

"Netter Versuch", hielt der Mann fest. "Zieht die Waffen!"

Seine Untergeben kamen dem Befehl nach und zielten auf Elli, die peinlich berührt die Lippen zusammenpresste.

"Äh, ihr wisst, dass da ein kleines Kind hinter mir steht, oder?"

"Die reicht Ihnen gerade Mal zu den Oberschenkeln", konterte Damm. "Wir wissen, wie man auf Leute schießt und ich nehme Ihnen den Fast-Schlaganfall von vorhin immer noch übel. Männer! Fe-"

"AGENT Damm", unterbrach ihn Professor Voss kopfschüttelnd. "Bevor Sie etwas extrem Dummes tun, möchte ich darauf hinweisen, dass ich ein eigenartiges Kraftfeld um die Dame herum wahrnehme. Was haben Sie denn da in der Handtasche, Frau Elli?

"Öhm, Reflektorschild2?", entgegnete Elli erstaunt und zog eine Grimasse.

"Heute läuft's", seufzte Dean.

"Gentlemen, bitte nehmt unsere Werten Gäste und auch Nuri von Hand fest", bat Voss sein Team höflich. "Möglichst ohne Gewalt, unser Start ist bereits schlecht genug."

"Wenn Sie meinen", stöhnte Damm.

Seine Aura bewegte sich und hob Elli von den Füßen, die das Ganze mit einem überraschten Laut quittierte, während sie meterhoch in die Höhe schoss. Nuri versteckte sich hinter Dean, der vom Rest der Mannschaft und Voss angegriffen wurde. Zu Packen bekam ihn keiner und Schlagstöcke, die zu Einsatz kamen, waren ineffektiv. Stattdessen verteilte er selbst Fautschläge, die Getroffene zurücktaumeln ließen und einige schlichtweg K.O. schlugen. Aber dann kam Voss in Reichweite, der sich zu Nuris Entsetzen von Deans Attacken unbeeindruckt zeigte. Dean landete eine Treffer an Voss' Schläfe und zwang ihn so dazu, kurz nach dem Gleichgewicht zu suchen, mehr aber auch nicht. Im Gegenteil, er lächelte.

"Sie und ihre blonde Freundin hören nicht auf, mich zu faszinieren, wissen Sie das? Zeigen Sie mir mehr!"

Ein stummer Faustkampf entbrannte zwischen Dean und Voss. Das einzige Geräusch, das man hörte war das der Schläge, die sich seltsam dumpf anhörten, egal wer getroffen wurde. Von den Wachleuten traute sich keiner einzugreifen, als das Tempo zunahm und ein Level erreichte, das für normale Menschen unerreichbar war. Nuri für ihren Teil war von Dean zurückgewichen, da er Stück für Stück nach hinten getrieben wurde. Voss war zwar kleiner als er, aber er schien mehr Ahnung von Kampfkunst zu haben, zumindest wirkten seine Bewegungen koordinierter und flüssiger als die von Dean, Nuri hatte keine Ahnung von sowas. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Wachmänner versuchten bereits, sie zu ergreifen und sie wich nur um Haaresbreite aus. Dann wurde sie von der Aura des Geistermanns erfasst und unter erschrockenem Quieken in die Luft gehoben in die Luft gehoben. Elli hing kopfüber neben ihr.

"Oh, Nuri, dass ich dich hier treffe", kommentierte sie.

"Elli, was machen wir denn jetzt", fragte Nuri panisch.

"Wir warten", entgegnete Elli. "Ich dachte eigentlich, es ginge schneller, aber offenbar hat die Große hier eine ziemlich lange Leitung …"

Nuri bedachte Elli mit einem verständnislosen Blick, doch dann kam plötzlich Bewegung in die Masse aus amorphem Fleisch hinter dem Gitter. Das Wesen gab ein Geräusch von sich, das eigentlich niemals von einer lebenden Kreatur ausgestoßen werden sollte.

Damm unter ihnen sah ungläubig dabei zu, wie sich der Kollos zu Winden begann. Blaue Funken begannen über den Käfig zu springen. Voss hielt mitten im Schlag inne und drehte sich zu dem Ungetüm.

"Oh? Astra? Was haben Sie denn? So aktiv habe ich Sie ja lange nicht mehr erlebt."

Sein merkwürdigerweise freudig erstaunter Blick fiel auf Elli.

"Dafür sind Sie verantwortlich, nicht wahr?"

"Yep!", grinste Elli zurück.

"Was? WIE!?", entfuhr es Damm ungläubig. "Ich habe den Computer abgeschaltet!"

"Ich habe der Software nur einen einzigen Befehl gegeben: 'Notabschaltung'", erklärte Elli zufrieden. "Das dauert keine zwei Minuten. Der Rest war nur Zeitspiel bis sich der Rückstau der Energie bemerkbar macht."

"Oh, Sie wollen Astras Käfig überladen?", schloss Professor Voss wie ein Lehrer, der sich einen interessanten Hausaufgabenentwurf eines Schülers anschaut. "Sehr einfallsreich, aber sobald der Laptop wieder hochgefahren ist, können wir dieses Problem sofort beheben."

"HA!", lachte Elli. "Ich operiere auf einem völlig anderen Level, Voss. Sie haben Dean völlig aus den Augen verloren."

Nuri schaute dahin, wo sie Dean zuletzt gesehen hatte, aber er war tatsächlich weg.

"Wuh!", machte sie verwirrt und sah sich suchend um. Dean war nirgendwo zu entdecken.

"Ich wollte nur eure nervigen Anker ausstellen", kicherte Elli derweil. "Bye!"

Die gesamte Halle unter Nuri wurde von Schwärze verschlungen, aus der heraus Deans Arme nach ihnen griffen und sie hinein und hindurch zogen, während unter ihnen der Käfig des Astra-Monsters unter der energetischen Belastung allmählich zu glühen begann. Nuris Gleichgewichtssinn wurde durcheinandergebracht, als die Gravitation plötzlich um neunzig Grad versetzt an ihrem Körper ansetzte. Sie fand sich auch einer grünen Wiese wieder. Über ihnen befand sich ein strahlend blauer Himmel und in der Ferne erblicke Nuri das unmöglichste Haus, dass sie je gesehen hatte. Merkwürdiger Anstrich inklusive. Sie hatte zwar wenig Ahnung von Architektur, aber sie war sich sicher, dass beispielsweise Türme keinen Looping machten.

"Weißt du wie verdammt schwierig es ist, deine Pläne zu antizipieren, wenn man selbst Teil davon sein soll?", mokierte sich Dean.

"Ich weiß nicht, was du hast, hat doch alles geklappt", freute sich Elli.

"Wo sind wir hier?", fragte Nuri. "Ist Voss weg?"

"Das hier ist der Nexus", erklärte Elli. "Mein eigenes Reich. Niemand außer mir kann ein Tor zu diesem Ort öffnen, der Professor kann uns hier nicht erreichen, keine Sorge."

Nuri fühlte sich plötzlich, als wäre ihr eine große Last abgenommen worden. Sie konnte nach Hause, zu Mama und Papa. Ihre Knie wurden wackelig und sie fühlte sich plötzlich sehr müde. Elli fing sie auf, bevor sie umkippen konnte.

"Oh, das ist … gut … Ähm, aber, können wir … irgendwas machen, die Polizei rufen oder so?"

"Die Polizei gegen das IMBW?"

Elli kicherte freudlos.

"Die wissen nichtmal, dass es sie gibt."

"Falls es dich tröstet, ich glaube, sie haben von uns einen ziemlichen Denkzettel bekommen", fügte Dean hinzu.

Nuris Bewusstsein schwand allmählich, aber in der zunehmenden Schwärze vor ihren Augen konnte sie noch erkennen, wie Dean grinsend den Laptop hochhob …


Elli schickte gerade den letzten Crawler los, um die Archive aller Server in Deutschland nach Nuris Eltern zu durchforsten, als Dean den Raum betrat. Sie hatte sich für ihre Arbeit in ihren Kosmoskopraum zurückgezogen und hackte auf einem Hypercomputer rum. Daneben ruhte das große, mit genieteten Platten verkleidete Kosmoskop, das im Moment auf Nuris Realität eingestellt war.

Elli war sich absolut sicher, dass Nuris Eltern in irgendeiner Datenbank der Republik auftauchen mussten, wahrscheinlich sogar beim Einwohnermeldeamt. Dämonenfüchse waren nämlich technisch gesehen keine eigene Spezies, sondern das Ergebnis eines mutierten Allels auf dem X-Chromosom, das rezessiv vererbt wurde. Hatte man nur ein solches Allel, war man ein normaler Mensch, darum waren Dämonenfüchse auch ausschließlich weiblich. Nuris Glamour hatte noch dazu höchstwahrscheinlich, wie bei ihrer Art üblich, seit ihrer Geburt auch auf ihre Eltern und Umgebung gewirkt, wodurch sie nie als Kumiho entlarvt worden war.

"Ich haben sie in einem der Gästezimmer untergebracht, meldete Dean. "Sie schläft wie ein Stein, man könnte meinen, sie sei tot."

"Kumiho hin oder her, sie ist vier, Dean", erinnerte sie Elli. "So viel Stress auf einmal halten sogar viele Erwachsene nicht aus.

Ihr Computer gab ein leises "Bing" von sich. Und dann noch eins. Und noch eins. Und noch ein paar mehr.

"Geht deine Zeitbombe gleich hoch?", witzelte Dean.

Elli schüttelte den Kopf.

"Nein, meine Webcrawler liefern mir nur die ersten Ergebnisse. Sollten nur ein paar dutzend werden, der Familienname Jeong ist nicht gerade weiträumig vertreten in Deutschland. Besonders mit den Vornahmen dazu."

Dann runzelte sie die Stirn, denn der Rechner schien sich als Triangel zu versuchen, immer mehr und mehr Ergebnisse kamen herein, weit mehr als nur "ein paar dutzend". Die Suchmaschinen schafften es auf 1012 Treffer …

Elli und Dean wechselten einen Blick.

Die meisten Treffer stammten aus Polizeiakten und Nachrichtenkanälen, die von verschiedenen Geheimorganisationen wie der Foundation und der GOC zensiert worden waren. Stirnrunzelnd öffnete Elli einen Zeitungsartikel. Die Schlagzeile lautete: BRUTALES MASSAKER. Darauf folgte die Unterzeile: Koreanisches Ehepaar zerfleischt in eigener Wohnung aufgefunden. Von einziger Tochter fehlt jede Spur.

Dean und Elli gingen hastig die Polizeiakten durch. Irgendwas Schreckliches musste passiert sein, was man da auf den Tatortfotos sah, konnte man nur mit viel Fantasie noch als Mensch erkennen.

Die beiden wechselten wieder einen Blick.

"Sollten wir … nachsehen?", fragte Elli.

Dean antwortete nicht. Elli nahm mit zitternden Händen Einstellungen am Kosmoskop vor und richtete es auf Zeit und Ort der Tat aus. Sie hatte sich wegen des Zitterns ein wenig vertan, denn sie landete außerhalb der Wohnung und am Fenster waren bereits Blutspritzer zu sehen. Sie traten sichtbar hervor, denn das Licht brannte im Haus und es herrschte tiefe Nacht. Sie fuhr die Optik durch die Wand und den Flur in die Wohnung hinein und stoppte im Wohnzimmer hinter dem Rücken von Nuri, die regungslos auf das starrte, was von ihren Eltern übriggeblieben war.

"Oh …", machte Elli nur. "Oh nein …"

Nuri drehte den Kopf und die Kamera fing ihre Augen ein. Sie waren nicht braun, sondern leuchtend rot und bar jeder menschlichen Emotion. Was Elli da durch das Kosmoskop sah, war nur ein Raubtier in der Gestalt eines Kindes …

Mit einem Aufschrei schaltete sie das Kosmoskop ab … Sie brauchte einen Drink …

Das nächste Mal bei Nuri:
Das Wunderland, Teil 1

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