Verloren und Gefunden, Teil 1
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IMBW.

Nuri kannte die Buchstaben nur als Symbole, denn sie konnte nicht lesen. Irgendjemand hatte mal versucht, ihr zu erklären, was sie bedeuteten, aber sie hatte diese komplizierten Worte nie begriffen.

Immerhin war sie vor ein paar Tagen gerademal vier geworden …

Nuri war ein für ihr Alter durchschnittlich großes Mädchen mit sehr langen, glatten Haaren und asiatischen Gesichtszügen. Im Moment trug sie eine Art weißen Schlafanzug. Er biss sich fürchterlich mit dem Hellbraun, dass man in ihren Augen sehen konnte. Grün stand auf dem Hemd auch diese Symbolfolge, die I-Em-Be-We bedeutete.

Ihr war herzlich egal, wofür das stand. Sie mochte es hier nicht. Die Erwachsenen hier betrachteten sie nur als eine unter vielen, Kinder gab es kaum und wenn, dann nicht in ihrem Alter. Dafür gab es hier sehr merkwürdige und gruselige Leute. Nuri hielt sich daher die meiste Zeit in ihrem Raum auf, auch wenn sie ihn jederzeit verlassen konnte. Der Einzige hier, der sie mit ehrlicher Freundlichkeit zu behandeln schien, war ein Mann, der sich ihr als Professor Voss vorgestellt hatte. Nuri durfte den braunhaarigen Mann Alex nennen. Sie mochte Voss, auch wenn er komisch roch und einen sehr merkwürdigen Herzschlag hatte. Eher sowas wie ein Ticken. Nur leider schien der Professor der Boss des I-Em-Be-We zu sein, denn er schaute nur selten vorbei. Die beiden Erwachsenen in ihren weißen Kitteln, die sie jetzt zum Murmelraum führten, verankerten sich nur unzureichend im Gedächtnis des kleinen Kindes. Ihre Freundlichkeit war aufgesetzt, für das Mädchen fühlte sie sich falsch an. Als würde man mit Robotern reden. Nuri wollte nach Hause … Sie vermisste ihre Mama …

Der Murmelraum enthielt eine Art große, tonnenförmige Maschine. Ein Loch mit einem Bullauge war darin und dahinter sah man eine Halterung aus langen, mit Gelenken versehenen Stäben. Nuri musste bei dem Anblick immer an zwei Spinnen denken, die sich gegenseitig mit vier Beinen gleichzeitig abklatschen wollten. Die beiden Erwachsenen hielten mit Nuri vor dem Gerät an.

"Na dann, bist du bereit, Nuri?", fragte die Frau von den beiden.

"Hrm …", machte Nuri.

Sie mochte nicht, was als nächstes kommen würde …

"Na komm schon, Kleine, du kriegst auch was Süßes hinterher", sagte der Mann der beiden.

Es dauerte ein wenig, aber dann rang sie sich schließlich dazu durch, zu gehorchen, was man aber nur bedingt an Nuris Gesicht erkennen konnte. In ihrer Brust setzten sich einige besondere Muskeln in Bewegung und zogen sich zusammen, bis Nuri schließlich den Grund auf ihrer Zunge spürte, weshalb sie das Zimmer den Murmelraum getauft hatte. Sie holte eine weiße, matt leuchtende Perle aus ihrem Mund, vielleicht so groß wie eine Haselnuss und gab sie der Frau. Sie nahm das mit Spucke behaftete Kleinod mit spitzen Fingern entgegen.

Nuri mochte es nicht, wenn man ihr diese Perle wegnahm. Es kam ihr falsch vor, als würde sie die eigene Hand, oder ihren Fuß weggeben. Die Perle wurde mittlerweile in die Halterung eingesetzt und das Bullauge geschlossen. Weißes Licht konnte durch das Bullauge gesehen werden, das zäh in der Form von Fäden oder Würmern auf die Perle abgegeben und von der Kugel absorbiert wurde.

Nuri fand den Anblick langweilig, aber sie wollte ihre Murmel wiederhaben, darum wartete sie ungeduldig. Treten durfte sie den Apparat nicht, das hatte sie schon versucht. Da wurden die Leute in den Kitteln nur böse. Aber die Maschine wurde irgendwann fertig und Nuri bekam ihre Murmel mit spitzen Fingern zurück und verschluckte sie hastig wieder. Sie wusste nicht, warum sie das tat, allerdings ergab es für sie Sinn, dass etwas, das sie hervorwürgen konnte und dabei ein Gefühl von Leere in ihr verursachte, besser wieder zurückbefördert wurde. Jedes Mal, wenn sie aus der Maschine kam, schien die Murmel aber ein klein wenig schwerer zu sein …

"Na also, geht doch", seufzte der Mann. Er zog einen Schokoriegel aus der Tasche und gab ihn Nuri. "Denk' dran, dir die Zähne zu putzen", mahnte er.

Nuri nickte nur und wurde dann wieder aus dem Raum geleitet.


Spezialagent Kurt "Freigeist" Damm saß gelangweilt im Überwachungsraum der IMBW-Einrichtung, der er zugewiesen war. Er besaß, anders als die meisten Spezialagenten kein Talent für Kampfeinsätze oder Infiltration. Seine Fähigkeiten eigneten sich besser zum Bezwingen unkooperativer Elemente. Deswegen war er hier zuständig, in dieser Einrichtung, die Personen beherbergte, denen man nicht durch rohe Gewalt Herr werden konnte, wenn sie aufmüpfig wurden.

Er schüttelte den Kopf, während er das Papier las, das man ihm hatte zukommen lassen. Seine roten Locken, die über seinem schmalen Gesicht thronten wie ein ausgefranster Pinsel, wackelten dabei hin und her.

"Ihr wisst schon, dass ich den Kerl nicht unter Kontrolle halten kann, wenn er aufmuckt", sagte er zu der Frau und dem Mann, die neben ihm standen.

Sie hatten gerade ein neues Studienobjekt geliefert.

"Du bist nicht der einzige hier, Freigeist", entgegnete Magma-M und nutzte ihre rechte Armprothese, um sich die Haare zu richten. "Dieser Schurke mag gegen deine Kräfte immun sein, aber dafür kann man ihn mit traditioneller Haue stoppen."

Der braunhaarige, dünne Mann mit der Fliege neben ihr nickte nur.

"Auch wenn ich es nicht so grob ausgedrückt hätte wie unsere bezaubernde Magma-M hier", begann Professor Voss, "stimmt es doch, was sie sagt. Dieses bemerkenswerte Exemplar wurde größtenteils deswegen hierhergeschafft, weil die Infrastruktur hier am widerstandsfähigsten ist. Dieser Mann stellt keine Gefahr dar, solange man ihm keine Möglichkeit zum Ausbruch gibt. Er war erstaunlich einsichtig, was das anging. Ich werde die Nacht über hierbleiben, um morgen mit den ersten Untersuchungen zu beginnen."

"Ich werde mich wieder auf den Weg machen", verkündete Magma-M derweil. "Gute Nacht, ihr beiden, und bitte, Professor, seien Sie vorsichtig mit diesem Mann. Er ist gerissener als es den Anschein macht. Wir haben ewig gebraucht, um ihn zu fangen, Sie waren dabei."

"Selbstverständlich", entgegnete Voss lächelnd. "Ich glaube, uns erwartet jede Menge Spaß morgen."

Freigeist lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grinste humorlos.

"Der arme Kerl tut mir jetzt schon leid …"


Willst du die Haare wirklich so lang lassen, Nuri?", fragte ihre Mama, während sie ihr das Haar kämmte.

"Ja!", hielt sie kategorisch fest. "Ich will mal eine Prinzessin werden und Prinzessinnen haben lange Haare!"

Nuri spielte mit einigen Strähnen ihres Haares, während ihre Mutter weiterarbeitete. Schließlich wurde sie fertig.

"So, das wär's. Und jetzt komm', wir wollen noch auf den Rummel."

Sie gab Nuri einen Kuss auf die Stirn.

"Hab' dich lieb."

Nuri besaß ein sehr feines Gehör, mit dem sie sogar die Vibrationen wahrnehmen konnte, die manche Elektrogeräte von sich gaben, wie etwa die Neonlampen vor ihrer Tür. Sie schreckte daher mitten in der Nacht aus dem Schlaf, als diese normalerweise allgegenwärtigen Geräusche plötzlich abwesend waren.

Sie setzte sich verschlafen auf und versuchte, mit ihren Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Ein Notausgangsschild in der Ferne spendete noch ein Minimum an Licht, das unter ihrer Tür hineinflutete. Für Nuri war das genug, sie sah sehr gut bei Nacht.

Sie öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus. Bis auf das leuchtende Schild war kein Licht mehr zu entdecken.

Halt, das stimmte nicht. An den weißen Wänden reflektierte sich der Strahl eine Taschenlampe aus einem Seitenkorridor. Leise Schritte deuteten an, dass sich jemand näherte. Nuri überlegte, ob sie zurückgehen sollte, allerdings stieg ihr plötzlich ein völlig neuartiger Geruch in die Nase. Er erinnerte sie entfernt an eine Tankstelle, aber da waren extrem viele andere Noten mit drin.

Die Schritte kamen näher. Nuri wartete gespannt, wer da um die Ecke kommen würde.

Und tatsächlich, eine blonde Frau kam, oder präziser, torkelte aus dem Gang. Sie quiekte erschrocken, als das Licht ihrer Lampe in Nuris Gesicht fiel. Nuri schloss prophylaktisch kurz die Augen, um nicht geblendet zu werden.

"Du kannst mich doch nicht so erschrecken, du siehst hier im Dunkeln aus wie eine Keramikpuppe aus einem Horrorfilm!", zischte die Frau aufgeregt.

Nuri verstand nur die Hälfte von dem, was die Frau ihr sagte. Sie hatte noch nie einen Horrorfilm gesehen. Darunter stellte sie sich eigentlich nur Männer mit Eishockeymasken und einem großen Messer vor.

"Dich kenne ich nicht", hielt sie fest. "Wer bist du denn?"

"Niemand, an den du dich großartig erinnern musst", war die Antwort. "Je weniger wir miteinander zu tun haben, umso besser für dich. Eine Sache allerdings, hast du gesehen, wie hier ein großer Typ mit schwarzen Haaren reinbugsiert wurde? Hat sich wahrscheinlich über mangelnde Sauberkeit beschwert. Klingelt da was bei dir?

Nuri dachte kurz nach, aber schüttelte dann den Kopf.

"Ne, gesehen haben ich den nicht. Aber ich kann ihn bestimmt finden. Meine Nase ist sehr gut."

"Nase?", fragte die Frau verwirrt. "Du meinst, wie ein Spürhund?"

Nuri nickte.

"Warum willst du mir helfen?", fragte die Unbekannte weiter und zog eine Augenbraue hoch. "Hat dir niemand beigebracht, nicht mit Fremden zu reden?"

"Hier sind doch nur Fremde", hielt Nuri perplex fest.

Das entsprach der Wahrheit. Wenn Nuri ehrlich war, fühlte sie sich in der Nähe dieser Frau sogar sicherer. Sie sah schöner aus. Und sie guckte Nuri sogar an beim Reden. Genau wie Mama und Papa.

Die Frau legte den Kopf schräg.

"Erstaunlich gutes Argument … Also gut, warte kurz …"

Die Frau kramte ein wenig in einer Handtasche herum, die sie mit sich führte und holte schließlich einen menschlichen Arm heraus. Nuri wich zuerst erschrocken zurück, aber der Arm war offensichtlich nicht echt. Drähte hingen aus dem Ende, das normalerweise aus der Schulter hing. Nuri war stolz auf sich, ganz allein zu dieser Erkenntnis gelangt zu sein.

"Das hat mal an ihm dran gesteckt. Frag' nicht", sagte die Frau und reichte Nuri den Arm zum Schnuppern.

Nuri tat das dann auch und runzelte verwirrt die Stirn. Sie roch Metall, Plastik, Schmiermittel und Gummi, aber nichts, was sie zurückverfolgen konnte. Der merkwürdige Duft, den das Mädchen zuvor bereits gerochen hatte und nun als den Mundgeruch der Fremden erkannte, machte es nicht einfacher. Sie drehte sich um, um die Witterung aufzunehmen, aber ihr stieg nur dieser Geruch nach Tankstelle in die Nase.

Sie lief ein paar Schritte von der Frau weg und versuchte es nochmal. Der Geruch war immer noch da. Es brachte nichts. Die Fahne von der Dame war zu stark.

Dann setzte sich Nuri trotzdem in Bewegung. Nicht weil sie etwas roch, sondern weil in der Ferne irgendwas rhythmisch gegen eine Metalltür klopfte.

Der Schein der Lampe folgte ihr, was ihr sagte, dass die Frau das ebenfalls tat. Durch die Gänge hindurch führte Nuri sie dem Klopfen entgegen, das aus dem Trakt kam, in dem die ganzen Maschinen standen. Auch der Murmelraum war dort.

Die Fremde blieb plötzlich stehen.

"Klopft der Kerl wirklich It's Not Unusual?"

Sie bleiben vor der Tür steht, hinter der das Klopfen erklang. Sie war abgeschlossen und bestand aus widerstandsfähig aussehendem Metall.

"Hm, da gucke ich doch mal in meinen Sack", murmelte die Blondine und kramte in ihrer Handtasche herum, bis sie den wahrscheinlich merkwürdigsten Schlüssel hervorzog, den Nuri je gesehen hatte. Er schien flüssig zu sein, aber nichts von der metallisch-grauen Flüssigkeit tropfte herunter. Der Schlüssel ließ sich ohne Widerstand in das Schloss einführen und drehte sich von selbst.

"Einweg-Türöffner", erklärte die Frau. "Sobald sie einmal erstarrt sind, kann man sie nur noch für die Tür benutzen, die man mit ihnen geöffnet hat."

Die Tür schwang auf. Nuri hatte hier schon mehrere riesige Typen gesehen, aber der hier sah wenigstens aus wie jemand, vor dem sie nicht sofort weglaufen wollte. Er hatte schwarze Haar und trug wie Nuri einen Schlafanzug.

"Wird aber auch Zeit, Elli", brummte er. "Hab' hab schon gedacht du hörst mich nicht."

"Hab' ich auch nicht, Dean", entgegnete die nun als Elli identifizierte Frau. "Du wurdest erschnüffelt."

Sie deutete mit dem Finger nach unten auf Nuri.

"Gehört habe ich ihn. Gerochen nicht, du hast Mundgeruch", erwiderte Nuri wahrheitsgemäß.

"HA! Gut gebrüllt, Flaschenbürste!", komplimentierte Dean erfreut.

"Flaschenbürste?", fragte Elli verwundert und schien Nuri nach einem Hinweis auf diesen Spitznamen abzusuchen. "Warum Flaschenbürste?"

Dean zog eine Augenbraue hoch.

"Elli? Hast du nicht gemerkt, dass du mit einem Dämonenfuchs unterwegs bist?"


"Das ist höchst ungewöhnlich", sagte Professor Voss, während er zusammen mit Spezialagent Damm und einigen Wachen zur zentralen Steuereinheit eilte.

"Ist mir bewusst, Professor", entgegnete Damm genervt. "Wenn das ein EMP von Ihrem neuen Prachtstück war, dann sitzen wir richtig in der Tinte."

"Unwahrscheinlich, das hätte ich mitbekommen, RTI-Titanen registrieren sowas", widersprach der Professor.

Spezialagent Damm musste sich wieder in Erinnerung rufen, dass er hier nicht mit dem echten Voss sprach. Okay, er sprach mit dem echten Voss, aber er war nicht physisch anwesend. Was hier mit ihm rumlief war eine Roboterpuppe, die der echte Voss wahrscheinlich aus hunderten Kilometern Entfernung steuerte. Damm hatte den wahren Körper des Professors nur zweimal gesehen, er war riesig und vollständig unter Kleidung und einem Vollschutzhelm verborgen, angeblich weil er kaum noch Menschliches an sich hatte.

Sie erreichten den zentralen Schaltraum. Im Inneren fand der Spezialagent durchgeschnittene Hauptkabel vor, nachdem er aufgeschlossen hatte.

"Auch das noch …", murmelte er.

"Lassen Sie mich mal ran", bat der Professor und stieg an seinem Untergebenen vorbei. Seine linke Hand faltete sich zusammen und verschwand im Ärmel, um einer schweißbrennerartigen Vorrichtung Platz zu machen, die nach Aktivierung geschmolzenes Kupfer abgab. Damit lötete er die Kabel wieder zusammen. Nach und nach sprang das Licht im Gebäude wieder an.

"Warum haben Sie einen Lötkolben in Ihrem Arm verbaut?", fragte Damm perplex.

"Diese Körper sind modulierbar. Das hier ist ein Langzeittest für Arbeitsprothesen", erklärte Professor Voss freundlich. "Ich habe noch einen Haufen andere Werkzeuge hier drin, sie ist wie ein Schweizer Taschenmesser der Schwerindustrie. Haben Sie es übrigens mitbekommen, als Sie den Raum aufgemacht haben?"

Der Spezialagent runzelte die Stirn.

"Was denn?"

"Sie mussten aufschließen", erklärte Professor Voss lächelnd. "Wir haben nur zwei Schlüssel zu dieser Tür und wir wissen bei beiden, wo sie sind. Was diesen Raum auch immer betreten hat, hat nicht die Tür benutzt. Kommen Sie, ich wette, unser kleiner Einbrecher ist noch im Gebäude."

Damm rollte mit den Augen. Voss hatte gerade was Neues zum Spielen gefunden …


Elli runzelte die Stirn. Sie hatte leichte Realitätsschwankungen von dem kleinen Mädchen wahrgenommen, aber sich nichts dabei gedacht, immerhin war das hier das IMBW. Jetzt aber verschwammen Teile von Nuri für einen Augenblick, bevor sie sich wieder konsolidierten. Auf ihrem Kopf thronten nun zwei spitze, lange Fuchsohren und zwischen Hemd und Hose ragte ein dazu passender schwarzer Schweif mit weißer Spitze aus ihrem Steiß. Weiterhin waren die Pupillen ihrer nun roten Augen nicht mehr rund, sondern schlitzförmig. Eine Kumiho, wie Elli erkannte. Bekannt dafür, Menschen auszuweiden und ihre Leber zu verspeisen …

"Oh", machte sie trocken und war insgeheim froh darüber, dass dieses Exemplar hier offenbar noch zu jung war, um mörderische Instinkte zu entwickeln. Ehrlich gesagt, waren Dämonenfüchse ganz niedlich, wenn sie klein waren, aber das galt Ellis Ansicht nach für die meisten Säugetiere im jungen Alter.

"Wie hast du das nicht gemerkt?", fragte Dean. "Sie hat Ohren und einen Schwanz."

"Äh, Dean, Dämonenfüchse haben einen Glamour, wenn sie ihre Kräfte nicht benutzen", erklärte Elli. "Jetzt, da ich weiß, was Nuri ist, verliert er seine Wirkung, aber bis gerade eben sah sie wie ein Mensch für mich aus."

"Was?", fragte Nuri verwirrt und schaute auf ihre Hände. "Wie sehe ich denn aus?"

"Äh, Nuri, richtig?", begann Dean. "Wie ich gerade gesagt habe, du hast zwei paar Ohren und einen Schwanz."

Nuri presste mit traurigem Gesicht ihre Fuchsohren an den Kopf und versteckte ihren Schwanz hinter ihrem Rücken.

"Toll gemacht, Dean", knurrte Elli ärgerlich. "Du kannst einem kleinen Mädchen nicht einfach sagen, dass es einen Schwanz und vier Ohren hat!"

"Entschuldigung", murmelte Dean.

Elli ging auf, dass Dean keine Erfahrung mit kleinen Kindern hatte, da er bisher kaum mit welchen interagiert hatte. Nuri derweil entspannte sich wieder und schaute Elli erwartungsvoll an.

"Und jetzt?"

Das Licht sprang plötzlich wieder an.

"Jetzt gehen wir", sagte Dean. "Elli, würdest du bitte?"

"Äh, ja, was das angeht …" begann Elli und lächelte entschuldigend. "Das IMBW hält hier realitätsbeugende Personen fest, es gibt hier überall Anker …"

Dean rollte mit den Augen.

"Du hast keinen Plan, oder?"

"Nein?", antwortete Elli wahrheitsgemäß. "Wir machen in solchen Fällen doch immer einen auf Indiana Jones.

"In einer Einrichtung in der Gegenwart von einem der gestörtesten Männer Europas?", fragte Dean weiter. "Elli, der Kerl hat mich überwältigt. Und mir Arme und Beine zusammengeschweißt."

Er rollte die Ärmel hoch und präsentierte Linien seines verbrannten Hautüberzugs, unter denen das Metall zum Vorschein kam, aus dem sein Körper bestand. Nuri betrachtete den Schaden mit kindlicher Faszination.

"Boah! Du bist ein Roboter?", fragte sie mit leuchtenden Augen.

"Äh, Androide", korrigierte Dean und schien unsicher zu sein, wie er mit Nuris Begeisterung umgehen sollte.

Normalerweise folgte auf die Offenbarung seiner nicht-menschlichen Natur Schock, Angst oder vorsichtiges Erstaunen, Nuris Entzücken musste eine völlig neue Erfahrung für ihn sein.

"Öhm, Dean, sollten wir nicht allmählich aufbrechen?"

"Was? Oh ja. Weißt du, wo es raus geht?"

Dean folgte Elli, als sie den Raum verließen. Nuri bildete das Schlusslicht.

"Solltest du nicht wieder zurück in dein Zimmer?", fragte Dean das Mädchen.

"Ich will nicht", erwiderte die und schüttelte den Kopf. "Ich will nach Hause zu Mama und Papa."

"Hrm", machte Elli. "Dean, sie hat uns geholfen, ich denke es ist nur fair, wenn wir sie hier rausholen."

Dean wandte sich betont leise an sie, sodass die Dämonenfüchsin sie nicht hören konnte.

"Du willst eine für seine Bösartigkeit und Brutalität bekannte Kreatur auf die Welt loslassen, nur weil sie dir einmal geholfen hat?"

"Dean, sie ist vielleicht vier, fünf, wenn's hochkommt", gab Elli ärgerlich zurück. "Sie hat uns nicht angegriffen und wir beide haben bereits eine andere Kumiho getroffen, die uns nicht ans Leder wollte1. Wir haben keinen Grund, ihr unsere Hilfe zu verwehren, nur weil ihre Spezies als blutrünstig bekannt ist."

"Und wenn sie älter wird?", fragte Dean.

"Willst du sehen, was Voss mit ihr oder den Erkenntnissen anstellt, die er mit ihr gewinnt?", hielt Elli dagegen.

"Okay, das ist ein Argument."

"Hey, bin ich mit der bösen Kreatur gemeint?", ereiferte sich Nuri plötzlich und schien sich dabei stark zurückhalten zu müssen, nicht zu weinen. "Ich bin nicht böse! Ich hab' immer aufgegessen und bin ins Bett gegangen, wenn der Sandmann zu Ende war!"

"Du- du konntest uns hören?", fragte Dean erschrocken.

Elli für ihren Teil war eher darüber verblüfft, dass Nuri als offensichtliche Koreanischstämmige deutsches Fernsehen referenzierte. Aber gut, sagte sie sich, Nuri sprach akzentfreies Deutsch, vermutlich war sie das Kind von Ausgewanderten.

Das Mädchen derweil nickte ärgerlich. Elli sah mit Erstaunen, wie Dean unter ihrem Blick schrumpfte. Das hatte seitdem Elli ihn aufgenommen hatte keiner mehr geschafft!

"Entschuldigung", sagte Dean. "War nicht so gemeint …"

"Das glaubt dir keiner", ertönte es hinter ihnen.

Nuri ging hastig hinter Elli in Deckung. Sie zitterte am ganzen Körper. Wem auch immer diese Stimme gehörte, das Mädchen hatte eine Heidenangst vor ihm. Als sich Elli umdrehte, wurde sie einem Mann in einer Taktikausrüstung gewahr. Er hatte rote Haare.

"War nicht gerade nett, uns den Strom abzudrehen", kommentierte er. "Voss hat alle Hände voll damit, die Kabel wieder zu flicken."

"Sie hätten meinen Kumpel nicht entführen dürfen", gab Elli zurück und zuckte mit den Schultern.

"Touché", erwiderte der Mann mit einem unglücklichen Lächeln. "Wenn's nach mir ginge, ich würde Sie laufen lassen, wer bis hierher kommt, ohne bemerkt zu werden, macht mehr Probleme als ich gewillt bin zu lösen."

Er kratzte sich am Hinterkopf.

"Aber leider hat der Prof ein reges Interesse an Ihnen. Mein Beileid, wirklich, aber wenn wir das ohne Gewalt hinter uns bringen könnten, das wäre reizend, ich schiebe bereits Überstunden."

"Nuri, wer ist das?", fragte Elli den Dämonenfuchs, der sich an ihr festklammerte.

"Er ist gruselig. Der hat Geister. Er hat damit Leute gehauen. Ich mag ihn nicht …"

"Geister?", fragte Elli.

"Geister?" echote Dean.

"Weißbrot", stieg der Mann trocken mit ein.

Irgendwas Unsichtbares packte Elli an den Fußknöcheln und hob sie hoch. Bevor sie sich versah, baumelte sie kopfüber in der Luft. Nuri quiekte erschrocken und ging stattdessen hinter Dean in Deckung. Nur wurde der von derselben Unsichtbaren Macht am Kinn getroffen, von den Füßen gehoben und krachte der Länge nach auf den Boden. Nuri stand da mit schlotternden Knien.

"Uwah!", machte Elli derweil verblüfft.

Sie hatte keine Veränderung der Realität wahrgenommen und es fühlte sich nicht wie Wald-und-Wiesen-Psychokinese an. Dieses Phänomen musste also anderer Natur sein. Befehligte der Kerl tatsächlich Gespenster?

"Okay, das ist neu …"

"Mein Name ist übrigens Kurt Damm", stellte sich der Spezialagent des IMBW vor und grinste. "Willkommen in meiner Einrichtung. Genießen Sie ihren Aufenthalt, denn Sie kommen hier nicht mehr raus …"

Das nächste Mal bei Nuri:
Verloren und Gefunden, Teil 2

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