Der Verkäufer sah sie schon von weitem über die Felder kommen, trat unter seiner roh gezimmerten Holzbude hervor und wartete dann geduldig, bis sie ihn erreicht hatten. Der Kerl war ihm auf Anhieb unsympathisch, wie er selbstgefällig vor- und zurückwippte, was wohl lässig wirken sollte. Und wie er sich in gekonnter, nun, Verkäufermanier sofort an seine Tochter wandte.
"Hallo, meine Hübsche. Was könnte dich wohl herführen? Suchst du etwa einen von denen hier? Du bist ja ziemlich spät dran!"
Dabei wies er ausladend über das abgezäunte Fleckchen Erde, auf dem seine Prachtstücke lagen. Zur Genugtuung des Vaters der Hübschen ging diese nicht darauf ein, sondern fragte sehr direkt:
"Ich such mir dann mal einen aus. Ist doch in Ordnung, Papa?"
Er nickte und seine Tochter entfernte sich. Der Schleimbeutel musterte ihn unverhohlen von oben bis unten. Der Blick blieb an seinem Abzeichen hängen.
"Ein Ordnungshüter? Meinen Respekt, schätze ihre Arbeit sehr.", machte er, doch Ironie schwang in den Worten mit, unverkennbar.
"Aber? Stimmt etwas nicht?"
Der Verkäufer blickte über die Schulter, um zu prüfen, ob das Kind außer Hörweite war.
"Bitte verstehen Sie mich nicht falsch,- aber finden Sie nicht, dass das da langsam überhand nimmt?", fragte der Verkäufer und wies wieder über die Felder, diesmal in Richtung der hochstehenden Oktobersonne. Ausladende Gesten schienen ein Steckenpferd dieses Typs zu sein.
"Was meinen Sie? Die Melonen?"
"Ja, die meine ich. Die haben mir das ganze Jahr über das Wasser abgegraben. Wer braucht die überhaupt? Glauben Sie etwa, mein Zeug gießt sich von selber? Alles wird hier teurer!", blaffte der Mann, und fügte hinzu:
"Wird doch mal Zeit, dass die Polizei da etwas unternimmt?"
Lächerliche Vorstellungen von einer lächerlichen Person, dachte er. Als ob nicht klar wäre, dass höhere Wasserpreise sich auf den Preis der Ware auswirken würden. Der Kerl würde solange an der Preisschraube drehen, bis der Gewinn wieder stimmte. Er seufzte, bevor er antwortete:
"Ihnen ist hoffentlich klar, dass wir uns um weitaus wichtigere Dinge kümmern müssen? Aber, bitte melden Sie sich gerne einmal in Zukunft auf dem Amtswege, das ist Ihr gutes Recht."
"Klar, wenn es um den kleinen Mann…", begann der Mann, unterbrach sich aber, als er merkte, dass das Mädchen neben ihm stand. Er zuckte sogar ein wenig zusammen.
"Mensch, Kleines, du bist wohl auch ein großartiger Schleicher, wie dein Vater, das hat er dir schon gut beigebracht."
"Den da drüben. Den Größten, bitte. Würden Sie den bitte für mich abschneiden?", fragte sie. Der Verkäufer grunzte, zog ein geradezu obszön überdimensioniert wirkendes Messer, dessen Griff nicht auf die Ausmaße der Klinge hatte schließen lassen, aus dem Vorderschlitz seiner Schürze.
"Und Leckereien haben Sie auch, wie ich sehe, da nehme ich auch einen Sack mit!", rief ihm ein innerlich erzürnter Vater hinterher.
Schleicher, dachte er. Nur knapp war der Mistkerl gerade noch einer saftigen Strafe entgangen. Und der Preis war dann seiner Ansicht nach tatsächlich unverschämt hoch, selbst für so ein gewaltiges Exemplar.
"Teuer, zugegeben, aber die Wasserpreise… Halloween ist ja nur einmal im Jahr, oder?", grinste der Verkäufer.
Als sie gingen, begnügte er sich mit einem knappen Nicken zur Verabschiedung. Nicht so seine Tochter. Beinahe beiläufig öffnete sie im Vorbeigehen alle drei Pumpen, die zum Feld des Verkäufers gehörten. Da keine Schläuche angeschlossen waren, spritzte das Wasser ungehindert und unter hohem Druck in unterarmdicken Strahlen heraus.
"BALG, VERDAMMTES!", schrie der Kerl hinter ihnen, aber sie drehten sich nicht mehr um. So dumm, einen Schleicher anzugehen, war nicht mal dieser ekelhafte Idiot.
Als sie den Weg durch den Wald, der für sie schon oft als Abkürzung zwischen Markt und Haus gedient hatte, betraten, und er das Gewicht auf seinen Armen deutlicher spürte, erlaubte er sich zu fragen:
"Warum hast du das Wasser aufgedreht? Das war nicht in Ordnung."
Er fand es durchaus in Ordnung, aber Pflicht war Pflicht. Sie sah ihn ernst an.
"Der Mann ist ein Arschloch und ein Betrüger, Papa."
Darüber würde er nicht mit ihr streiten. Und heute ohnehin nicht. Wenn der Betrüger in einem Punkt die Wahrheit gesagt hatte: Halloween war nur einmal im Jahr, oder? Themawechsel.
"Also, was hast du für ein Kostüm gekauft?", wollte er wissen. Eine Soldatenuniform, oder so etwas ähnliches hatte er zu Hause gesehen. Sie kramte in ihrem Rucksack und zeigte ihm kurz darauf einen Streifen Haare, den sie sich über den Mund klebte.
"Gestatten, Josef Wissarionowitsch, Genosse!"
"Wie bitte?"
"STALIN!", lachte sie.
Durch die Wipfel schien das goldene Herbstlicht gesprenkelt auf sie herab. Stalin. Er dachte an sein Halloween zurück. Er selbst war als "Jack the Ripper" losgezogen, also deutlich harmloser. Aber jetzt war alles moderner und… extremer, warum also nicht auch die Horrorgestalten?
"Da hätte ich aber Geld sparen können, der Bart hätte deutlich…", fing er an, kam aber nicht weit:
"Die kleineren Bärte sind doppelt so teuer, Papa.", lachte sie noch mehr.
Wie schnell sie groß wurde. Und schlau. Und morgen würde er ihr sagen müssen… Morgen war morgen, heute war heute. Wie sehr er sie liebte.
Einige Zeit später legte er endlich seine Last vor ihrem Glashaus ab, seine Tochter warf schnaufend ihren Rucksack daneben.
"Wir hätten echt früher anfangen sollen. Also, du holst folgendes: Ein Messer, gezähnt, eine Glasschüssel und die Kerzen, plus Feuerzeug. Zwei Stunden bevor es langsam dunkel wird, würde ich sagen, haben wir noch. Und bitte ein Glas Wasser für deinen Alten."
Er war sich sicher, sie würde zuerst das Kostüm anziehen und sich im Spiegel begutachten. Ihm blieb ein wenig Zeit zum Durchatmen. Der Oktober war seiner Ansicht nach zu warm, wenn es so etwas wie zu warm überhaupt gab. Jedenfalls sah das Ding neben ihm erbärmlich vertrocknet aus. Sehr groß zugegeben, aber es hatte ganz klar zuwenig Wasser abbekommen und zuwenige Nährstoffe. Sein Telefon klingelte. Die Leute von der Arbeit. Er bejahte die freundliche, aber eindringliche Erinnerung und legte dann auf. Gründlichkeit und Kontrolle, selbst gegenüber den eigenen Mitarbeitern. Seine Tochter kam aus dem Haus zurück und reichte ihm die gewünschten Gegenstände, dazu eine Flasche Wasser. Wie vermutet trug sie die leicht absurde, khakifarbene Uniform. Es zeigte sich, dass es sehr viel schwieriger war, den Deckel zu entfernen, als er gedacht hatte. Aber schließlich machte er das Ganze ja zum ersten Mal. Zum einzigen Mal. Bald lagen fünf Minuten hingebungsvollem Herumsäbelns hinter ihm.
"Kommst du klar?", fragte sie.
Wenigstens hatte sie das Wasser nicht vergessen. Endlich löste sich der auszusägende Teil. Plopp! da ist der ganze Spaß, dachte er, und schob alles in Richtung seiner Tochter. Die aber zeigte auf die makellosen Ärmel ihrer Uniform und schüttelte den Kopf, nicht ohne ein schadenfrohes Lächeln zu zaubern. Also griff er seufzend hinein in den ekeligen Matsch, zog ihn ein ums andere Mal hervor, bis endlich alles ausgehöhlt war. Was für eine Sauerei. Die Schüssel hatte bei Weitem nicht alles fassen können. Zwischen ihren Füßen lief der widerliche Saft in die Ritzen, versickerte zum Teil; verklumpte aber auch bereits.
"Bist du sicher, dass ich nicht mitgehen sollte?", fragte er, während sie, nun plötzlich nicht mehr so sehr auf die Ärmel bedacht, sich das Messer schnappte und mit den Verzierungen begann. Sie hatte eindeutig künstlerisches Talent, der Effekt war tatsächlich schaurig.
"Du bleibst schön daheim, ich zieh ja schließlich nicht alleine los. Aber da kann ich dich nun wirklich nicht mitnehmen…"
"Schon klar.", resignierte er.
Schließlich setzte sie die Kerzen in die fertige Laterne und musterte das Ergebnis kritisch.
"Deckel noch drauf, dann ist es ganz ok."
"Das wird fürchterlich stinken, Schatz… Aber du machst ja doch, was du willst."
Als Kompromiss kürzte sie die Kerzen ein wenig. Es begann langsam zu dunkeln, als die Freundin seiner Tochter vorbeikam. Mittlerweile tobten wahre Schwärme von dicken, schwarzen und grünschillernden Fliegen durch den Garten. Sie ließen sich auch nicht von dem leicht verbrannten Geruch abhalten, zu verlockend war das Angebot.
"Und als wer gehst du?", fragte er, denn die Verkleidung des anderen Mädchens wirkte verdächtig unscheinbar.
"Ted Bundy. Sieht man das nicht?"
Lieber Himmel, dachte er, aber kreativ war das, keine Frage.
"Ah, ok. Na, dann viel Spaß! Vergiss deine Tüte nicht und denk bitte an die Zeit!"
Die Antwort war ein Augenrollen, natürlich. Wie jeder Vater saß er wie auf glühenden Kohlen, während er wartete. Wenigstens hatte er eine Ablenkung durch viele andere Kinder, die seinen Garten besuchten (und meist ihre Eltern bei sich hatten, wie er zerknirscht feststellte). Leider ließ der Inhalt der Tüte, die er heute erstanden hatte, sehr zu wünschen übrig und es war ihm fast peinlich, den Kindern dieses Zeug anbieten zu müssen. Große, ranzige Stücke Fettgewebe, Gallenblasen, Darm und ähnliches Gekröse. Aber als seine Tochter endlich nach Hause zurückkehrte, stellte er fest, dass sie nicht viel Besseres bekommen hatte. Vielleicht kauften ja alle bei dem Kerl auf den Feldern. Natürlich war ihre Uniform nun in einem desolaten Zustand und starrte vor Blut. Aber das Mädchen wirkte zufrieden, wenn auch müde. So erwachsen war sie wohl doch noch nicht.
"Ich glaub, ich wasch mich, Papa, und dann geh ich ins Beet."
Und das tat sie. Er sah ihr zu, wie sie kurz darauf in ihrer Ecke des Glashauses wohlig die Ranken in den Boden bohrte und, hochzufrieden mit ihrem Erfolg, ihre "trick or treat"-Beute um sich herum verteilte.
"Willst du das Zeug, was hier übrig geblieben ist, auch noch haben?", fragte er lächelnd, während sie die menschlichen Eingeweide sorgfältig mit Erde bedeckte.
"Hab genug. Nacht, Papa!"
"Nacht, mein Schatz!"
Die Kerzen in dem Schädel waren fast herunter gebrannt. Morgen würde er also mit ihr sprechen müssen. Würde ihr sagen müssen, dass Menschen nicht blind und stumm zur Welt kamen. Dass sie widernatürliche Kreaturen waren, die, wenn man sie gewähren ließ, nichts taten, als danach zu streben, die Welt zu vernichten. Dass sie sich sogar gegenseitig umbrachten, mit Waffen, die sie aus ihrer anomalen Welt mitgebracht haben mussten, obwohl niemand wusste, wo sich diese befinden mochte. Man musste sie finden, zusammentreiben, blenden, die Zunge entfernen und die Ohren punktieren, um sie ruhig zu stellen. Außerdem wurden sie unvorstellbar alt. Ja, das Alter… wenigstens darüber wusste seine Tochter bescheid. In spätestens zwei Monaten würde er eines Morgens nicht mehr aufstehen. Dann würde seine Tochter einen Kern aus seinem Kopf entnehmen und trocknen, bevor sie sich zur Winterruhe begab. Im Frühling würde sie den Kern einpflanzen und bald selbst Kinder haben. Und sie würde kämpfen müssen. Er nahm sein Abzeichen zur Hand. Kupferne Buchstaben auf Menschenleder.
SCP, stand darauf, und: Securitas Cucurbitum Protego.
Seine Tochter würde das Abzeichen weiterführen. Seufzend blies er die nur noch schwach flackernden Kerzen aus.