Das letzte Mal bei Nexus:
Der Herold des Zerbrochenen, Teil 1
Allmählich füllte sich der Platz vor Mekhanes Tempel. Chloe hatte sich nie eine Vorstellung darüber gemacht, was das Wort Religion überhaupt bedeutete. Sie war durch ihre Umwelt zur Atheistin geworden, auch wenn Dinge wie Ku, der Grigori1 und die Ereignisse in Mujin City2 diese Weltanschauung auf die Probe gestellt hatten. Aber, so erkannte Chloe jetzt, Religion war nicht einfach der Glaube an irgendwelche Götter.
Religion war eine Lebenseinstellung.
Man hatte eine große Bühne aufgebaut, die mit allerhand Symbolik und heiligen Texten verziert worden war. Zahlreiche Stadtbewohner standen darum herum und tuschelten aufgeregt. Der Rest des Platzes wurde von zahlreichen Ständen beansprucht, die alles Mögliche anboten. Es ging zu wie auf dem Weihnachtsmarkt.
"Was wird das hier?", fragte Chloe.
"Der oberste Geistliche wird in einigen Momenten aus dem Tempel kommen und seine Predigt halten. Ist so ähnlich wie die Osterpredigt vom Papst", erklärte Dean. Er hob Chloe auf seine Schultern, damit sie besser sehen konnte.
Die Tore des Tempels öffneten sich und eine kleine Prozession kam heraus. Drei Menschen in kupfernen Ganzkörperrüstungen und Masken vor dem Gesicht liefen in Dreiecksformation und nahmen dabei eine mit schwarzem Stoff vermummte und ebenfalls maskierte Gestalt in ihre Mitte.
"Nanu, ham die reformiert?", fragte Elli von unten. "Die sind aber nich original …"
"Elli, werd du zur obersten Geistlichen, dann kannst du bestimmen, was getragen wird", erwiderte Dean genervt.
Die Prozession erreichte die Bühne und trat hinauf. Applaus wurde laut. Menschen, die direkt vor dem großen Podest standen, hielten die Hände oder Köpfe auf das Holz.
Der Vermummte trat vor und berührte einzeln die dargebotenen Körperteile mit der linken Hand. Eine unheimliche Verwandlung fand statt. Das Fleisch verblasste und machte einer mechanischen Prothese Platz. Im Falle von Köpfen erfasste das Phänomen zwar nicht das ganze Gesicht, aber einen Teil davon. Menschen wurden zu Cyborgs.
"Dass iz auch neu …", lallte Elli verwirrt.
"Meine Brüder und Schwestern", begann er. "Heute begehen wir den eintausendundfünfzigsten Jahrestag unseres Sieges über Ion, den Zauberer-König von Adytum. Unseres Sieges über die Korruption des Fleisches!"
Jubel wurde laut, bevor der Mann mit einer Geste wieder um Stille bat.
"Doch was für ein Opfer mussten wir erbringen. Unser Reich fiel, die Unseren wurden von den Ungläubigen verfolgt, um an unsere Geheimnisse zu kommen und bis zu diesem Tag dauert die Verfolgung der Unseren außerhalb von Amonis Mauern an."
Betretenes Schweigen folgte auf die Pause, die er einlegte.
"Aus dem Südosten dringt eine neue Gefahr zu uns herauf. Die Hebräer, Juden, die Verehrer eines Gottes, von dem sie in ihrer Torheit sagen, er hätte den ganzen Kosmos geschaffen, und seines Sohnes Jesus, dem Wunder nachgesagt werden, wenn er sich doch in Wahrheit der Mächte des Fleisches bedient hat!"
Buh-Rufe wurden laut und verstummten mit einer Geste wieder.
"Wahrlich, in dieser heraufkriechenden Dunkelheit ist Amoni das letzte Leuchtfeuer Mekhanes, das letzte Licht, das der Feind zu ersticken versucht. Selbst meine Gesandte Sophia wurde durch ihre schändliche Magie zur Hure der Hebräer. Doch ich sage euch, Amoni wird sich dieser Finsternis nicht ergeben!"
Lautes Rumpeln drang aus dem Tempel. Der Boden erbebte.
"Mit Seinen Schemata werden wir die Dunkelheit zurückdrängen! Mit unserem Hammer werden wir jeden Feind auf unserem Amboss zerschlagen oder für unsere Zwecke zurechtschmieden. Und ich zeige euch jenen Hammer, den ich zusammen mit dem Zerbrochenen ersonnen habe!"
Das Rumpeln wurde lauter, als ein gewaltiges Gestell aus dem Tempel rollte. Daran befestigt war ein blitzblank polierter Colossus. Er ähnelte einem Menschen mehr als die anderen Modelle, der Oberkörper war tatsächlich breiter als der Unterkörper und er hatte richtige Schultern. Ein Hammer und ein Amboss waren in seine Brust gestochen und er trug einen Helm, der wie eine Gasmaske wirkte.
Und anstatt bronzefarben war er grau.
Die Menge oh-te und ah-te. Geflüster wurde laut.
"Das ist Ultra", erklärte der Geistliche. "Gebaut, um der Stärkste von allen zu sein. Er wird der erste Colossus sein, der keine Piloten braucht, die ihm ihre Lebenszeit opfern. Nein! Dieser Colossus wird heute, wenn die letzte Stunde des Tages schlägt, wie die Apparati allein durch Seine Worte gelenkt werden."
Bewundernde Rufe wurden laut.
"Was sind Apparati?", fragte Dean Elli.
Sie zuckte nur hilflos mit den Schultern.
"Keine Annung. Die kenn ich nich. Unn der Grosse da iz auch neu …"
Der Vermummte sprach inzwischen weiter.
" …verzeiht mir, aber mir fällt auf, dass wir zu dieser wundervollen Feier heute Gäste begrüßen dürfen. Ihr da, tretet hervor!"
Er deutete direkt auf Chloe, Dean und Elli. Moment, sie hatten doch Anti-Aufmerksamkeits-Talismane dabei. Er müsste sie übersehen!
Dean zeigte fragend mit dem Finger auf sich, während sich ihnen überraschte Gesichter zuwandten. Der Mann auf der Bühne nickte.
Stirnrunzelnd traten sie aus der Menge. Dean ließ Chloe dabei wieder von seinen Schultern.
"Willkommen in Amoni", begrüßte sie der Maskierte. "Der Stadt der Wunder des menschlichen Geistes."
Nachdem er sie vor der Menge begrüßt hatte, verbeugte sich der Heilige ansatzweise. Elli, Dean und Chloe hielten es für eine gute Idee, es ihm gleich zu tun. Zumindest Chloe war noch immer verwirrt darüber, wie er sie gesehen hatte.
"Zumindest würde ich das gerne sagen …", sagte der Heilige dann. "Doch was für ein Grund hat euch dazu bewegt, euch Magie zu bedienen, die die Sinne betäubt und euch ungesehen macht?"
Er wusste es!
"Seid ihr etwa Spione von außerhalb? Seid ihr gar von den Hebräern geschickt worden, damit ihr sie vor Ultra warnen könnt? Sprecht!"
Aus dem Publikum wurden unflätige Bemerkungen und wütendes Geschrei laut, bis der Vermummte sie mit einer herrischen Geste verstummen ließ.
"Äh", begann Dean. "Eigentlich sind wir nur Touristen. Wie ihr sehen könnt, ziehen meine Frau und meine Tochter dank ihrer Haare alle Augen auf sich, darum haben wir Talismane erworben, sodass wir eurer Feier beiwohnen können, ohne euch zu stören. Ich entschuldige mich dafür, dass es nicht geklappt hat."
"Touristen?", wiederholte der Mann. "Wisst ihr denn nicht, dass Amoni im Moment abgeschottet ist? Außer denen, die Nahrungsmittel, Stein und Erze aus dem Umland herbeischaffen ist es niemandem erlaubt, diese Stadt zu betreten. So muss ich euch fragen. Wie habt ihr es an den Torwächtern vorbeigeschafft?"
Dean warf einen fragenden Blick auf Elli, die wieder nur mit den Schultern zuckte und mit ihrem Gesicht zum Ausdruck brachte, dass sie davon keine Ahnung hatte.
"Da muss ein Missverständnis vorliegen", versuchte Dean, die Situation zu entschärfen, aber er wurde unterbrochen.
"Ich denke nicht. Apparati, ergreift sie!"
Die Gerüsteten sprangen von der Bühne und kamen mit einem merkwürdig metallisch klingenden Geräusch auf. Ihr Meister selbst hob die rechte Hand und schickte ihnen einen Sturm aus Flammen entgegen. Seine Ziele wichen hastig davor zurück.
"Sur nächsen Tür!", befahl Elli und die drei setzten sich in Bewegung. Mehrere Stadtbewohner wollten ihre Flucht verhindern, doch Dean, der vorneweg lief, rannte sie einfach über den Haufen. Hinter ihnen näherten sich die Apparati mit mechanisch wirkenden, aber erstaunlich schnellen Bewegungen.
Vor ihnen kam die Tür eines Hauses in Sicht. Elli bekam plötzlich große Augen.
"Dean, halt an!"
Dean kam nicht mehr schnell genug zum Stehen und krachte gegen die Tür.
"Ich krieg den Nexus nicht auf!", rief ihm Elli zu.
Dean machte genervt kehrt, lief auf sie zu und fuhr seine Faust aus.
Sie rauschte an Ellis Gesicht vorbei und traf den Apparatus, der sie gerade hatte packen wollen, mitten in die Maske. Sie wurde durch den Schlag eingedellt und zeigte einen großen Riss, als Dean den Arm zurückzog.
Dahinter war nicht etwa ein Gesicht, sondern Zahnräder und Glasgestelle zu erkennen.
Und der Schlag hatte den Bronzemann nicht davon abgehalten, Elli an den Armen zu fassen. Sie wurde weggezogen, während sich die anderen beiden, ein Metallmann und eine Metallfrau, gemeinsam auf Dean stürzten.
Da der aber nun wusste, dass er es nicht mit Menschen zu tun hatte, entfesselte er seine Kräfte.
Chloe befreite sich von ihrem Schock über diese Demaskierung und versuchte, Elli zu helfen, indem sie alles daran setzte, die Finger des Apparatus aufzubiegen, während Elli zog und zerrte.
Doch hinter ihnen kam schon der Vermummte, gefolgt von einer Menge wütender Mekhaniten. Einer von ihnen war schneller als die anderen und versuchte nach Chloe zu greifen, jedoch wurde er von einem großen Stein an der Brust getroffen, den Dean aus einer bröckeligen Mauer gerissen und geworfen hatte. Der Mann prallte zurück und gegen den Heiligen. Dabei riss er ihm versehentlich die Maske vom Gesicht.
Elli erstarrte, als sie das Antlitz erblickte.
Chloe hatte schon mehrmals Entsetzen auf ihrem Gesicht gesehen, aber bei Weitem noch nie so extrem wie jetzt. Sie war leichenblass. Und ihre Knie zitterten!
"CHLOE, DEAN! FLIEHT! KÜMMERT EUCH NICHT UM MICH!", brüllte sie den beiden zu, in einer solchen Lautstärke, dass Chloe, die immer noch direkt neben ihr stand, die Ohren klingelten.
Dean brach seine Versuche ab, den Apparati mit einem weiteren Stein den Kopf einzuschlagen, rannte auf Chloe zu und klemmte sie sich unter heftiger Gegenwehr ihrerseits unter den Arm. Dann rannte er weg, so schnell er konnte, schneller als ihm die Apparati mit ihren beschädigten Beinen folgen konnten.
"Dean, was ist los! Warum rennst du weg!"
"Weil Elli es gesagt hat", antwortete er im Laufen.
"Aber, wer ist dieser Mann?", fragte Chloe.
Sie sprach abgehackt durch die Erschütterungen, die Deans Schritte durch ihren Körper fahren ließen.
"Ich habe keine Ahnung, Chloe. Aber wenn er es schafft, dass Elli bei seinem bloßen Anblick vor Angst zu zittern anfängt, kannst du Gift drauf nehmen, dass er mordsgefährlich ist."
Elli befand sich auch weiterhin im kalten Griff des Apparatus, während sie zurück zur Bühne und Ultra geschleift wurde. Der Vermummte hatte seine Maske wieder aufgesetzt und ging neben ihr, gefolgt von den beiden ramponierten Metallmenschen.
Wie hatte er überlebt!, war alles, was Elli durch den Kopf ging.
"Meine Brüder und Schwestern", begann er, "zwei Spione sind noch auf der Flucht. Lasst euch nicht von ihrem Aussehen täuschen, denn sie sind vom niederträchtigsten aller Schläge. Lasst sie die Stadt nicht verlassen, bringt sie zu mir, ob tot oder lebendig. Eunasses, du hast das Kommando!"
Zustimmende Rufe kamen aus dem Mob und ein alter, wichtig aussehender Mann in der Menge verbeugte sich. Wie zäher Schleim schwärmte die Menge vom Platz, um Jagd auf Chloe und Dean zu machen.
Elli derweil wurde auf den neuen Collossus zugezerrt. In dem Rahmen in dem er hing war ein Fahrstuhl eingebaut, der sie bis zum Eingang im Brustbereich beförderte.
Im Inneren der gigantischen Maschine war niemand. Sie beide waren die einzigen Menschen hier. Und dann waren da natürlich noch die Apparati. In dem großen, von Fackeln erhellten Raum mit den zahlreichen Metalltreppen und Brücken gab es jede Menge Zahnräder, aber auch jede Menge verkleidete Stromkabel.
Dann sah Elli das, was vermutlich Ultras Herzstück war. Alle Kabel liefen dort zusammen. Es sah aus wie ein zwei Meter durchmessender, dicker Ring aus weißem Plastik.
Ein Energieportalgenerator …
Und etwas weiter oben, dort wo der Kopf des Collossus an den Torso anschloss, war eine etwa einen Meter durchmessende Metallkugel an den Stromkreis angeschlossen. Das war eine hochentwickelte KI, wie Elli erkannte, fähig mindestens hundert solcher Collossi auf einmal zu steuern.
"Ich bin sicher, du hast einige Fragen an mich", sagte der Mann, während er Maske und Kutte ablegte.
Darunter kamen ein futuristisch anmutender Ganzkörperanzug, ein kurzrasierter Bart und dreckig blonde Haare zum Vorschein. Sie waren in einem Pferdeschwanz gebunden3.
"Du weißt ja, wäre es nach dir gegangen, ich hätte … verschwinden sollen, so wie der Rest. Aber im Leben läuft nicht alles wie man es sich wünscht, nicht war, I773?"
Ihr Name … Er nannte sie bei ihrem alten Namen … Elli bekam sich weit genug unter Kontrolle, dass sie ihm antworten konnte.
"Diesen … Diesen Namen habe ich abgelegt, Lawrence …", sagte sie leise.
"Ah ja", sagte er, als hätte Elli ihn an einen Geburtstag erinnert. "Du nennst dich selbst ja nun 'Elli'. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, musst du wissen. Aber, clevere Idee mit diesem Dean, ich habe dich sogar abgekupfert, wie du sehen kannst."
"Warum kann ich den Nexus nicht benutzen?", fragte Elli.
Lawrence grinste manisch.
"Du weißt, dass die Realität mein Spielplatz ist", sagte er und ließ ein paar Flammen aus seinem Ärmel schießen.
Es verbrannte ihn nicht.
"Solche Maschinen zu erschaffen ist ein Leichtes für mich. Was auch immer ich will, passiert. Ich könnte deinen Kumpanen einfach hierher teleportieren, aber das wäre erstens nicht was du verdienst und zweitens will ich mit dir erstmal allein sein. Es gibt so viel, was ich dir heimzahlen muss …"
Elli hatte verloren …
Die Anwesenheit dieses Mannes reichte aus, um alles, was sie an Chancen hatte, hier heil rauszukommen, zu Staub werden ließ, das war ihre Gewissheit … Nicht einmal ihre Fähigkeiten anderer Leute Realitätsmanipulationen auszunutzen half ihr hier weiter, denn sie konnte aus irgendeinem Grund nicht mehr spüren, wann Lawrence die Wirklichkeit verzerrte. Auf Hilfe konnte sie nicht vertrauen, nicht mal Dean konnte sich gegen eine ganze Stadt zur Wehr setzen.
Sie konnte nur noch auf ein Wunder hoffen …
"Und jetzt?", fragte sie daher tonlos. "Du hast mich, was nun? Willst du die Mekhaniten in den Krieg gegen die Hebräer führen und dafür sorgen, dass sie gewinnen? Das ist eine zu große Einmischung in den Zeitstrom, Lawrence. Du wirst das Universum entzwei spalten, damit die Geschichte in wenigstens einer Version ihren vorbestimmten Lauf nehmen kann. Und wenn beide nach der Spaltung zu instabil werden und kollabieren, dann hast du nichts gewonnen. Dann bist du nicht nur tot, du hast nie existiert, weil es nichts gibt, in dem du existiert haben könntest."
"Sei nicht dumm", lachte Lawrence. "Natürlich habe ich mir eine Zeit und ein Universum ausgesucht, das eine Spaltung verkraften kann. Erspar mir also deinen Vortrag, ich war immerhin dein Aufseher. Ich hätte fast gefragt, ob du das vergessen hast, aber wir wissen ja beide, dass keine Info, die du erhältst, deinen Kopf je wieder verlässt."
Er wurde bitter.
"Obwohl das wahrscheinlich dein sehnlichster Wunsch ist, damit sich deine Heuchelei besser für dich anhört, gegeben der Mengen die du trinkst, um besser verdrängen zu können. Logos, lass sie los und nimm ihr die Tasche ab."
Der Metallmann, der Elli hielt, öffnete schlagartig seine Hände, schloss sie um ihre Tasche und trat mit ihr einen Schritt zurück.
"Was soll das?", fragte Elli. "Ich könnte dich hier und jetzt angreifen."
"Kannst du nicht", entgegnete Lawrence knapp. "Selbst wenn ich dich nicht einfach zur Salzsäule erstarren lasse, Orthos und Pneuma stehen hinter mir um mich zu verteidigen."
Er deutete auf die beiden Apparati, die sich hinter ihm positioniert hatten. Elli merkte, dass seine Hände zuckten. Teils vor Wut, teils vor Vorfreude.
"Ich habe dich nicht ohne Grund hier rein verfrachtet, Elli. Kaum Platz um großartig wegzurennen, umzingelt von allen Seiten, isoliert von allen Verbündeten, und selbst wenn du es irgendwie an die Steuereinheit schaffen solltest, der Collossus ist eine Waffe. Er dient einzig dem Zweck, Leben zu nehmen. So ähnlich wie das hier …"
Er zog ein Kampfmesser aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert aus seinem Gürtel und warf es vor Elli auf den Boden.
"Nur zu, versuch, es aufzuheben."
Elli betrachtete das Messer mit Abscheu und wandte sich flehend an Lawrence.
Sie wollte sie nicht hören. Sie wollte sie nicht sehen …
"Lawrence, bitte …"
"HEB ES AUF!", donnerte er.
Hinter Elli kam es zu einem bedrohlichen, metallischen Schaben, als Logos sein Gewicht etwas verlagerte.
Zitternd beugte sich Elli zu Boden und schloss widerstrebend die Finger um den Griff des Messers.
Dann kamen die Stimmen.
Dean hatte Chloe zwischendurch in den Gamstragegriff gewechselt, wodurch sie einmal mehr realisierte, was er für spitze Knochen hatte. Er war unermüdlich zu einem der Tore gelaufen und schien vorzuhaben, Amoni zu verlassen.
"Dean, sollten wir nicht irgendwie versuchen Elli zu helfen?"
"Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn wir irgendwo sind, wo uns niemand aufspießen will. Dreh dich mal um."
Chloe tat wie geheißen. Aus allen Gassen hinter ihnen schienen Menschen zu fluten. Viele waren mit Fackeln, Schwertern, Speeren, Prügeln und Hämmern bewaffnet. Voran ging, was Chloe für die amonische Stadtwache hielt, Männer mit bronzefarbenen Körperpanzerungen und gasmaskenartigen Helmen, mit denen sie ziemlich gut in eine nukleare Postapokalypse gepasst hätten. Man konnte gut erkennen, wo sich der Mob aufhielt, denn die Fackeln erhellten ihre Position in der heraufziehenden Nacht.
"NIEDER MIT DEN KETZERN!", brüllten sie.
Dean hielt nun auf eines der Stadttore zu. Das sich in diesem Moment unter metallischem Klicken und Gestöhne zu öffnen begann.
Ein Collossus, der das Tor um mehr als zwei Längen überragte, trat hindurch.
Der Boden erbebte unter seinen Schritten, als er die Hauptstraße hinauflief.
Dean entschied sich, von der Straße zu verschwinden und stattdessen die Seitenstraßen zu nehmen, die die Kriegsmaschine aufgrund ihrer Größe nicht betreten konnte.
Nur schien das offenbar geplant gewesen zu sein.
"Im Namen seiner Heiligkeit befehle ich-", bellte ein Soldat, der zusammen mit seinen Kollegen in der Gasse gewartet hatte, bevor Dean ihn einfach über den Haufen rannte.
Einer derer die noch standen warf seine Hellebarde nach ihm, die mit einem lauten "Dong", in Deans Rücken stecken blieb. Er schien das gar nicht zu bemerken, aber Chloe starrte den Schaft mit großen Augen an, während er hin und her wippte und schließlich wieder abfiel.
Sie rasten in einem wilden Zickzackmuster durch die Gassen, denn ihre Verfolger schienen aus allen Richtungen zu kommen.
Dann kam Dean schließlich schlitternd zum Stehen. Die Straße vor ihnen war von Soldaten blockiert. Ein alter Mann mit Halbglatze stand neben einer kesselartigen Apparatur mit einem Lauf und einer Mündung, vor der eine kleine Flamme brannte. Darauf stand ein Soldat mit den Fingern an einer großen Kurbel.
"Ergebt euch", gebot der alte Mann. "Wenn ihr euren Widerstand aufgebt, dann werde ich versuchen, zumindest das Leben des Mädchens zu retten, denn ich kann Kinder nicht wegen falscher Führung verurteilen. Ihr habt das Wort von Eunasses, dem Meisterbauer von Amoni."
"Bei allem Respekt, Meisterbauer", entgegnete Dean, "erwartet Ihr von mir, euch zu glauben, wenn Ihr dutzende Soldaten in eurem Rücken habt?"
"Dean?", fragte Chloe bestürzt. "Du machst sie nur sauer."
"Das ist der Plan", raunte Dean ihr zu.
"Denk dir einen anderen aus!", drängte ihn Chloe.
Dean hörte ihr nicht zu und ließ sie stattdessen von den Schultern.
Eunasses derweil seufzte.
"Ihr werdet mir Alpträume bescheren", tadelte er. "Soldat, im Namen des Zerbrochenen, reinige sie."
Der Soldat fing erst zögerlich, aber dann schneller an zu kurbeln.
Dean schob Chloe hinter sich und kauerte sich über sie, als ihnen ein Sturm aus Flammen aus dem Lauf entgegenschlug.
Die Hitze war unerträglich, aber Dean ragte vor ihr auf wie eine Mauer und schützte sie davor, in Flammen aufzugehen. Sie sah, wie das Fleisch auf seinem Gesicht verbrannte und darunter-
Feuer.
Hitze.
Verbranntes Fleisch.
Glühendes Metall.
Schmerzen.
Chloes Wahrnehmung brach ab, als sich etwas in ihr hochzuarbeiten begann, was sie vor langer Zeit in sich eingesperrt hatte.
"-und die Tage zeigte mir Uriel, der Engel, welchen setzte der Herr der Herrlichkeit, der in Ewigkeit ist, über alle Lichter des Himmels"
In Chloe sah Ku interessiert auf das große schwarze Buch, das zu zittern begonnen hatte.
"Nein …", wimmerte sie …
"am Himmel und in der Welt, dass sie regierten an der Oberfläche des Himmels, und erschienen über der Erde, und würden"
Es zerrte an seinen Fesseln.
"Geh weg …"
"zu Führern des Tages und der Nacht: die Sonne, und den Mond, und die Sterne, und alle Diener des Himmels, welche ihren Umlauf machen mit allen Wagen des Himmels."
Die Ketten zersprangen und das Buch öffnete sich …
Und Chloe begann zu schreien.
Dean versuchte, nach ihr zu greifen, doch sie trat nach seiner Hand und presste ihren Rücken so gut wie möglich gegen das Pflaster.
Kein Feuer mehr …
Keine Schmerzen mehr …
Deans Hand schwebte noch immer über ihr, allerdings erschien sie in dem tobenden Inferno wie die Klaue eines Monsters.
"Geh weg!", weinte sie. "Lass mich in Ruhe …"
"Chloe …", sagte Dean mit einem verzerrten Rauschen in der Stimme.
Er klang nicht besorgt. Er klang enttäuscht.
"FEUER EINSTELLEN", brüllte Eunasses über das Fauchen der Flammen hinweg.
Der Soldat hörte auf zu kurbeln.
Erstaunte Rufe wurden laut, als das Feuer verebbte.
Die Hälfte von Deans Gesicht, ein großer Teil seines Oberkörpers und linken Beins und der komplette linke Arm war von den Flammen verzehrt worden. Zumindest soweit, wie diese Dinge brennen konnten.
Es knackte, während sein Körper wieder abkühlte. Ausnahmslos allen anwesenden Amoniern fielen die Kinnladen herunter. Fassungsloses Gemurmel wurde laut.
Dean erhob sich, während Chloe unter ihm hemmungslos weinte und schrie.
Er sah, wie der Meisterbauer mit unverhohlener Ehrfurcht langsam auf ihn zutrat.
Dean ließ Chloe ungern allein, auch wenn sie ihm gerade sein metaphorisches Herz gebrochen hatte. Aber das hier hatte Vorrang, nicht nur wegen Chloe, auch wegen Elli.
"Was seid Ihr?", fragte Eunasses verdutzt.
Dean begann, mit seiner rauschenden Stimme zu sprechen.
"Es tut mir leid, dass es auf diese Weise geschehen muss", sagte er ehrgebietend. "Aber hier sind wir nun. Ich bin Dean, Abgesandter und Teil des Zerbrochenen höchstselbst."
Er merkte, wie Chloe hinter ihm wegkrabbelte, merkwürdigerweise ohne den Rücken vom Boden zu heben. Aber er musste diese Performance hinbekommen, es fehlte nur noch eine Kleinigkeit …
"Und ich bin gekommen, um euch vor dem VERRÄTER zu warnen …"
Das nächste Mal bei Nexus:
Der Herald der Zerbrochenen, Teil 3