Doppelt Gemoppelt, Teil 1

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Das letzte Mal bei Nexus:
Die Anderen, Teil 3

Irgendwo auf dem westlichen Pazifik, 1595

Irgendwo in den blauen Weiten des Pazifiks liegt eine kleine Insel. Sie ragte wie die Spitze eines Berges aus dem Meer. Viele Riffe umgaben die Insel, sodass sie kaum angesteuert werden konnte. Die Menschen die auf dieser Insel lebten, waren vor Jahrtausenden auf diese Insel gekommen und hatten unabhängig vom Rest der Welt ihre eigene Kultur und Sprache entwickelt.

Die Mui, wie sich dieses kleine Volk nannte, lebten in ständiger Alarmbereitschaft, denn die Insel beherbergte einen wertvollen und mächtigen Schatz.

Viele hatten versucht, sich ihm zu bemächtigen, aber sie alle waren von den Kreaturen des Meeres, den unerbittlichen Riffen und den Mui selbst zurückgeschlagen worden.

Bis heute.

Fünf chinesische Dschunken waren an der Insel angelandet und spien Tod und Feuer auf das Land und das Meer.

Soldaten waren über dem ganzen Eiland ausgeschwärmt, brannten Dörfern nieder, stahlen Kunstschätze und metzelten die Bevölkerung nieder.

Huahua, der Hohepriester, schaute vom Tempel an der Spitze der Insel mit Entsetzen auf das, was mit seinen Leuten geschah. Er war braun gebrannt und wettergegerbt und nur sein langer Bart ließ erkennen, dass er weiße Haare hatte.

Ein Schwert wurde ihm an die Kehle gesetzt.

Er verstand nicht, was der Chinese ihm zu sagen versuchte, aber er konnte sich denken, was er wollte. Er krallte die Finger in seine blaue Toga, während er sah, wie das schlichte Steinhaus, welches den Tempel darstellte, durchsucht wurde.

Und sie kamen mit der Kiste heraus.

Huahua starrte die Räuber hasserfüllt an, während ein Befehl gebrüllt wurde.

Und dem Hohepriester wurde die Kehle durchgeschnitten …

Deutschland, Dresden, Gegenwart

Elli hatte ihren ersten Elternabend.

Das Problem war, dass sie sich in einer eher unvorteilhaften Position befand. Nämlich der der Lehrerin. Die meisten Personen waren normal, freuten sich über die Erfolge die ihre Sprösslinge bei Elli verbuchen konnten und nahmen Ellis Ratschläge scheinbar ernst. Aber manche Eltern konnten sich über alles aufregen, stellte sie fest. Außer über ihre eigenen Kinder. Sie musste beinahe darüber lachen, mit welch unglaublichen Erklärungen manche Väter und Mütter zu Fehlverhalten und schlechten Noten aufwarten konnten.

"Ihre Leistungskontrollen sind viel zu streng!", erboste sich gerade ein untersetzter Herr mit einem Schnurrbart wie eine Schuhbürste.

Herr Klete, wie Elli inzwischen wusste.

"Kein Wunder, dass unser Ferdinand da nicht mitkommt. Solchen Schund bringen Sie den Leuten bei. Er ist ein praxisorientierter Junge."

"Mhm", kam es genervt und kurz angebunden von Elli. "Würde erklären, wie er es geschafft hat in Chemie das größte Reagenzglas das er finden konnte mit Wasserstoff zu füllen. Ernsthaft, wenn ich ihn nicht erwischt hätte, hätte er seinen Tisch gesprengt."

"Sie hätten ihm klare Anweisungen geben müssen!"

"Ich kann nicht viel klarer werden als 'verwendet nur das, was auf eurem Tisch steht', Herr Klete", erwiderte Elli trocken. "Ich würde es ja gerne darauf schieben, dass er strohdumm ist, aber leider ist er tatsächlich relativ clever. Nur wendet er seine Intelligenz nicht an, wenn es darum geht in der Schule voranzukommen. Kurz, er ist eine faule Socke und gehorcht nur dann, wenn ich ihm auf die Finger trete, Herr Klete. Ich schlage vor, Sie nehmen ihm seine Videospiele weg und ändern das Wifi-Passwort ohne es ihm zu sagen. Wenn er sauer ist, werde ich leichter mit ihm fertig und die Klasse hat was zu lachen. Mal sehen ob dadurch der Schalter in seinem Kopf umgelegt wird. Auf Wiedersehen."

Sie lächelte zuckersüß, während sich Herr Klete wutschnaubend erhob und grummelnd den Raum verließ.

Ihr nächster "Patient" war nicht viel besser.

"Ich sehe nicht ein, warum Lydia so schlechte Noten in Sport bekommen hat!", ereiferte sich eine relativ junge Mutter mit einem Gesicht, das Haare auf den Zähnen vermuten ließ.

Elli mochte solche Frauen, sie gingen immer so unterhaltsam wie geräuschvoll an die Decke.

"Frau Paschulke", begann sie langsam und freute sich insgeheim schon auf das Ergebnis. "Ich kann mich da nur auf das beziehen, was mir Frau Kessel zugetragen hat, da ich selbst keinen Sport unterrichte, aber ihre Erklärung erschien mir so einfach wie einleuchtend. Sie lautete, wenn ich mich recht erinnere, und ich zitiere hierbei: "Das Mädel ist fett wie zwei Mastschweine". Ich bin aus gesundheitlicher Sicht dazu geneigt, mich ihrer Meinung anzuschließen, auch wenn ich es nicht so brachial ausge-"

"JETZT HÖREN SIE MAL ZU, SIE TEILZEITPAUKERIN! MEINE LYDIA IST NOCH IM WACHSTUM UND ENTWICKELT SICH GUT! WAS KANN ICH DAFÜR, WENN IHRE SCHULE SOLCHE HOHEN ANFORDERUNGEN AN DEN KÖRPER STELLT!"

Elli war über das Organ erstaunt, das eine solche Lautstärke zustande brachte. Sie war sogar sicher, dass es genug Wind erzeugt hatte, um ihre Haare fliegen zu lassen.

"Frau Paschulke", merkte Elli vorsichtig an, "Ihr Kind entwickelt sich vor allem in die Breite. Satte 110 Kilo, Frau Paschulke, das ist mehr als das Doppelte von dem, was sie in dem Alter eigentlich wiegen sollte."

"Ja und?", entgegnete die Mutter uneinsichtig. "Manche Kinder wachsen eben anders als andere."

"Durchaus, aber sogar Lydia selbst hat schon vor einer Weile gemerkt, dass da was gewaltig schiefläuft. Sie hat nach meinen Klassen bei mir als ihrer Bio-Lehrerin nach Diättipps gefragt."

"Wa- Sie sind der Grund, warum sie nicht mehr richtig essen will? Haben Sie sie noch alle!? Mein Kind verhungert noch, wenn das so weitergeht."

Elli legte ihre Hände auf die ihren, sah ihr fest in die Augen und lächelte ein eiskaltes und Schmerzen versprechendes Lächeln, das sie sich normalerweise für Serienmörder und Kinderschänder aufhob. Es reichte, um Frau Paschulke die Gesichtszüge einschlafen zu lassen.

"Passen Sie auf, gute Frau", sagte Elli mit einer Stimme, so scharf und kalt wie ein Skalpell. "Ich kann Sie zwar nicht davon abhalten, Ihre Tochter zu überfüttern, aber wenn sie wegen ihrer Fettleibigkeit an Herzversagen stirbt, hetze ich Ihnen die Polizei und das Jugendamt wegen vorsätzlichem Mord oder vielleicht auch nur wegen unterlassener Hilfeleistung auf den Hals. Alles klar?"

Frau Paschulke floh regelrecht aus dem Zimmer.

Elli verbuchte das als gute Tat und beschloss, demnächst die Polizei wegen möglicher Misshandlung auf den Fall anzusetzen, wenn es nicht besser wurde.

Das Nächste was sie vor sich hatte, war ein Paar. Sie hatte eine ähnliche Aufmachung wie Elli selbst, allerdings ging aus ihrem Gesicht hervor, dass tatsächlich nicht viel dahinter war. Er sah eigentlich ganz normal, wenn auch overdressed aus, mit ergrauendem Haar und einem Geschäftsanzug. Er ging vermutlich fremd, so vermutete Elli.

"So, was habt ihr für Sorgen?"

"Das fragen wir Sie", kam es von dem Mann.

"Nun, Herr Ullich, Ihr Sohn macht sich was die Noten in meinen Fächern angeht ganz gut, da ist nur diese klitzekleine Sache mit seinem Benehmen. Letzte Woche musste einer unserer Hausmeister dem kleinen Tim aus der Fünften helfen, seinen Rucksack aus der Mülltonne zu holen. Raten Sie, wer ihn dort hineingesteckt hat."

Die Frau holte Luft um zu antworten, aber der Vater war schneller.

"Da wurde ihm etwas angehängt!"

"Möglich", entgegnete Elli schulterzuckend. "Aber wenn ich mir die Menge an Vergehen anschaue, die ihm "angehängt" wurden, wie Sie es ausdrücken, halte ich es für sehr unwahrscheinlich. Die Graffiti in der Treppenhalle war da nur das Harmloseste. Ich habe ihn mir zur Brust genommen, nachdem er versucht hatte, unserer Chloe das Essensgeld abzunehmen, seitdem benimmt er sich zumindest in meiner Gegenwart."

Die Mutter hob den Finger und wollte etwas sagen, aber wurde wieder im Keim erstickt.

"Waren Sie der Grund, warum er letztens so verstört war? Er kriegt immer noch Angstzustände, wenn er Hackepeter sieht. Was haben Sie angestellt?!"

Das waren doch mal erfreuliche Neuigkeiten …

"Keine Ahnung, wovon Sie reden", log sie ohne rot zu werden. "Ich bin nur gut darin, Kindern zuzureden, das ist alles. Macht meinen Job unglaublich einfach."

Die Mutter holte zum dritten Mal Luft, aber ihr Gatte plusterte sich auf.

"Haben Sie denn irgendwelche Beweise für Ihre Anschul-"

"Hababap!", unterbrach ihn Elli.

"Lassen Sie den Quatsch, ich-"

"Hap!"

"Was soll-"

"Babap!"

"HÖREN-!"

"BAP!", quackte Elli unbeeindruckt.

Der Mann funkelte sie still an.

"Dankeschön", sagte Elli süffisant und zeigte mit beiden Zeigefingern auf seine Gattin. "Sie wollten uns was sagen, Frau Ullich?"

"Äh, ja?", sagte sie, verdutzt darüber, zum Sprechen aufgefordert zu werden.

Elli gab ihr ein aufmunterndes Nicken.

"Nun, öhm, können Sie nicht was dagegen machen? Ich meine, Sie haben selbst gesagt, dass er sich in Ihrer Gegenwart benimmt."

"Ich mache da ganz bestimmt nichts", entgegnete Elli abwehrend und leicht beleidigt. "Den Burschen zu erziehen ist euer Job. Ich soll ihm nur genug Wissen einhämmern, sodass er beim Studium oder bei der Berufsausbildung nicht sofort rausgeworfen wird. Und was meine Gegenwart betrifft, wenn er weiß, dass es mich nicht betreffen wird, legt er sofort wieder los."

"Agathe, du wirst doch wohl deinem Sohn mehr Vertrauen entgegenbringen als dieser Frau."

"Naja, was sie sagt könnte stimmen, immerhin beschwert sich meine Mutter auch ständig wegen ihm."

"Ach, deine Mutter …"

Das Ganze wogte sich allmählich zu einem Streit auf, bis Elli die beiden nachdrücklich hinauskomplimentierte. Das lief ausnahmsweise mal nicht wie vorgesehen … Vermutlich würde sie ein paar juristische Hebel betätigen müssen, damit der Junge im Falle einer Scheidung beim weniger gefährlichen Einfluss, sprich der Mutter, landete.

Sie lehnte sich seufzend an die Wand. Hatte sie wirklich über zehn Stunden am Stück gearbeitet? Und diejenige, auf die sie eigentlich gewartet hatte, war nicht gekommen. Sie hatte sich völlig umsonst freiwillig gemeldet …

"Ich brauch Urlaub", stöhnte sie wehklagend.


China, Macau, 1597

Es verstand nicht. Es war nur dem Ruf gefolgt, aber nun war es gefangen. Diese riesigen Wesen mit den vier Armen taten ihm weh. Alles was es noch hatte war etwas Sand in einem Ding aus durchsichtigem Stein. Es hatte Angst. Es wollte wieder an Land.

Einer der Riesen kam in die Höhle, in der es gefangen war. Es versuchte zurückzuweichen als es in sein Gefängnis griff, aber es nützte nichts. Es wurde gepackt.

Und durch ein kleines Loch aus der Höhle geworfen?


Macau ist eine chinesische Hafenstadt etwa 50 Kilometer westlich von Hong Kong. Sie ist bekannt für ihre Spielhallen und ist ein Touristenmagnet, vor allem wegen seiner Nähe zu Hong Kong.

Nun, relativ zu Chloe betrachtet, würde Macau das einmal werden, gegeben dem Jahr, in dem sie sich befand. Macau war wie ein Bienenstock.

Überall waren Leute, lieferten Waren, erledigten Einkäufe oder errichteten oder reparierten irgendwas.
Sowas wie Faulheit schien hier ein völlig unbegreifliches Konzept zu sein.

Sie war erstaunt, dass der Antiaufmerksamkeits-Talismann hier funktionierte, denn trotz der ära-gerechten Kleidung, im Prinzip besseren Bademänteln, hellblau für Elli, schwarz mit weißen Verzierungen für Chloe und tiefgrün für Dean, fielen Chloe und Dean unter den Chinesen auf wie bunte Hunde. Sie wegen ihrem weißen Haar, das sich klar von den schwarzen Haarschöpfen in ihrer Nähe abhob und Dean, weil er fast doppelt so groß war wie der durchschnittliche Macauer.

"Elli?" fragte sie. "Warum sind wir hier?"

"Ich habe einen kleinen Entspannungsurlaub organisiert", erklärte Elli. "Ich kenne hier jemanden, der uns in die feine Gesellschaft einlädt. Mit tollem Essen. Und Ausblick auf das Meer, als es in der Gegend noch halbwegs sauber war."

"Bist du sicher, dass wir hier sein sollten? Ich meine, wir sehen nicht so aus wie die meisten hier. Wenn der AAT versagt-"

"Wird er nicht, solange du ihn nicht verlierst, Chloe", unterbrach sie Elli. "Und selbst wenn, dann sagst du einfach du kommst aus Portugal.

"Portugal", vergewisserte sich Chloe.

"Ja", bestätigte Elli. "Sie haben hier eine Diözese."

Chloe sah nicht sehr begeistert aus. Allgemein hatte sie festgestellt, dass sie sich lieber in europäischen oder amerikanischen Gebieten bewegte. Dort musterte man sie nicht als wäre sie irgendeine seltene Tierart. Nun, man musterte sie zumindest weniger …

Dean enthielt sich jedes Kommentars.

Es dauerte nicht lange, bis sie eine chinesische Villa in der Nähe des Meeres erreichten.
Zwei Wachen, deren Rüstungen aus mehr Stoff und weniger Metall bestanden, als Chloe erwartet hatte, standen davor und die Linke erschrak sichtlich, als Elli ihr auf die Schulter tippte.

"HA! Wer da!"

Er rückte seinen eierförmigen Helm zurecht und schaute verwirrt auf die Neuankömmlinge, denen er erst jetzt gewahr wurde.

"Tag auch ", begrüßte ihn Elli. "Könnten Sie nach Li Mang schicken?"

Der Wächter legte die Hand an sein Schwert, zog es aber nicht.

"Hmph. Selbst wenn ich es tun würde, wen soll ich denn überhaupt anmelden?"

"Wenn Sie es nicht tun, verpasst Ihnen mein Kollege hier einen neuen und völlig unnötigen Darmausgang", erklärte Elli freundlich und höflich. "Sagen Sie Ihrer Herrin einfach, dass Elli da ist. Sie kennt mich von früher."

Der Wachmann schaute erst zu Dean, der nur mit den Schultern zuckte, dann zu seinem Kollegen, der ebenfalls mit den Schultern zuckte und dann zu Chloe, die mit den Schultern zuckte, weil auch sie dazugehören wollte. Das Trendsetting schien zu wirken, denn der Wächter zuckte ebenfalls mit den Schultern und lief durch den Vorgarten in die Villa.

"Du hast uns nicht angemeldet?", fragte Dean, als er weg war.

"Keine Sorge, Dean, Li kennt mich. Sie ist selten hier und ich komme nicht ohne Weiteres in die Verbotene Stadt. Erinnere dich an unser tête-à-tête mit Kaiser Hóngwǔ1. Mal davon abgesehen, dass ich Li mit einer Anmeldung in Schwierigkeiten gebracht hätte, egal von wo ich sie schicke."

"An der Sache mit dem alten Hóngwǔ warst du selbst schuld. Du hast versucht, einem Eunuchen den kaiserlichen Alkohol abzukaufen. Und ihn flachzulegen."

Chloe runzelte die Stirn.

"Äh, wurden Eunuchen nicht die-"

"Ja, Chloe", erwiderte Dean trocken. "Aber das hat Elli noch nie aufgehalten."

Chloe lief leicht rosa an und es folgte betretene Stille.

"Dean, wer ist diese Li überhaupt?", flüsterte Chloe dann.

"Keine Ahnung", gab Dean zu. "Elli geht immer wieder streunen, wenn ich nicht hingucke. In der Regel werde ich nur dazugerufen, um was Ekliges aufzuwischen."

Chloe biss sich auf die Lippen …

Dann kam die Wache zurück.

"Sie können reinkommen", sagte er grimmig.

"Was hat sie gesagt?", fragte Elli.

"Entschuldigen Sie meine Wortwahl, aber sie sagte wortwörtlich 'Ach du Scheiße, die hat mir gerade noch gefehlt'."

Elli drehte sich strahlend zu ihren Begleitern um.

"Ich hab es euch doch gesagt, sie kennt mich."


Der Gelehrte Hé, ein alter Mann, dessen Glatze sich unter einem schwarzen, trapezförmigen Hut verbarg, schaute mit ausgeglichenem Gesicht auf das leere Aquarium. Man sah es durch seine weite schwarze Uniform mit den weißen Rändern nicht, aber der Forscher des Abnormalitäteninstituts des Kaiserreichs China war fassungslos und bebte vor Zorn. Mit ihm im Raum war seine Dienerin Min und die beiden Soldaten Zhèng und Wu. Min war eine junge zierliche Frau in einer schlichten Dienertracht, die dem Ganzen mit der Gleichgültigkeit beiwohnte, die Dienern zu eigen ist. Zhèng, der zu seiner Schande merklich kleiner war als Min, rechnete seinem Gesichtsausdruck nach vermutlich schon damit gefeuert zu werden, weil er es nicht gepackt hatte, dieses Wesen zu bewachen. Wu, ein Hés Meinung nach minderbemittelter Riese, besah sich den bis auf das Wasser und den Sand leeren Glaskasten und versuchte offenbar noch zu ermitteln, was überhaupt fehlte. Vermutlich war er nur durch den Einfluss irgendeines mächtigen Bekannten ins Abnormalitäten-Institut aufgenommen worden …

Der Glaskasten ruhte auf einem schweren Tisch, daneben stand ein Operationstisch mit allem Besteck, das dazugehörte. Ansonsten war der graue Raum bis auf einen Wassereimer leer.

Er baute sich mit unter seinen weiten Ärmeln verschränkten Armen vor seinen Wächtern auf. In der Rechten, von außen nicht sichtbar, hielt er eine golfballgroße Jadeperle, eine kleine Trophäe von seiner Arbeit. Sie konnte alles im Gleichgewicht halten, perfekt ausbalanciert. Hé merkte bereits, wie sogar sein Zorn ganz langsam abzuflauen begann und sich sein Gemütszustand seinem Gesichtsausdruck anpasste.

"So, Zhèng, dann erklären Sie mal, wie jemand den einzigen Eingang passieren konnte, den dieser Raum hat …", sagte der Gelehrte mit der Gelassenheit eines Buddha. "Während Sie und Wu Dienst hatten …"

"Äh, mein Herr, der Raum hat auch Fenster", merkte der Wächter mit seiner raspelnden Stimme an. "Wir sind hier im zweiten Stock, ist es möglich, dass jemand draußen an der Wand hochgeklettert und durch das Fenster gekommen ist?"

Ja, winde dich nur raus, wie du es immer tust, du kleine Ratte, dachte sich Hé. Seit seiner Einstellung hatte dieser Aal versucht, einen möglichst angenehmen Posten zu erreichen. Aber nicht mit ihm.

"Keines der Fenster wurde eingeschlagen und so weit öffnen, dass man hindurchklettern könnte, kann man sie nicht. Schon gar nicht von außen. Ihr zwei habt bei eurer einzigen Aufgabe versagt."

Hé besann sich. Vom Rest des Abnormalitäten-Instituts wusste keiner von diesem kleinen … Projekt. Er konnte also nicht einfach Leute losschicken um nach dem Ding zu suchen. Obwohl, vielleicht konnte er auch einfach ein Neues besorgen. Und dabei ein paar Klötze von seinen Beinen abschütteln …

Ihm kam eine gute Idee …

"Aber zu unserem Glück, Zhèng und Wu, will ich nochmal gnädig sein", sagte er mit diesem Gedanken im Hinterkopf. "Vorausgesetzt, ihr zwei fangt das Tier wieder ein."

Zhèng leckte sich unsicher die Lippen.

"Äh, Herr, Ihr wisst doch, dass dieses Wese-"

"Ich weiß es und es ist mir gleich, Zhèng", unterbrach ihn Hé. "Entweder es kommt wieder oder ihr geht. Oder werdet getragen, wenn ich es einrichten kann. Wir verstehen uns?"

Zhèng wurde leichenblass und nickte steif.

"Gut", sagte Hé. "Komm, Min, lassen wir die beiden Herren allein, damit sie sich einen Plan ausdenken können.

Die Dienerin nickte mit gesenktem Kopf und beide verließen den Raum.


Zhèng und Wu waren allein. Der kleine Mann wartete kurz bis die Schritte verklungen waren, dann noch etwas länger, bis diese unsägliche Balance ebenfalls weg war, die den Gelehrten auf Schritt und Tritt begleitete und Emotionen wie mit einem Kopfkissen erstickte, wo auch immer er war.

Dann ging er an die Decke.

"Himmel, Wu, wo hast du uns da reingeritten!?"

"Äh, warum?", fragte Wu.

"Das kann nur passiert sein, während ich kurz zum Pinkeln weg war. Wen hast du reingelassen?"

"Niemanden", antwortete der Große.

Zhèng wusste, dass er log. Hatte sich vermutlich mit was zu essen bestechen lassen. Oder einem schönen Lächeln, falls es eine Frau gewesen war.

"Was machen wir denn jetzt?", fragte Wu.

"Wir?", knurrte Zhèng angestrengt, bevor er sich entspannte. "Wir, Wu, sehen zu, dass wir dieses Ding wieder einfangen. Es lebt normalerweise im Wasser, es kann noch nicht weit sein.

"Aber wo suchen wir denn danach?", fragte Wu.

"Überall, wo sich dieses Mistvieh befinden könnte. Streng deinen Kopf an."


Das Innere des Hauses war kunstvoll dekoriert mit Vasen, Blumen und chinesischen Gemälden. Chloe sah sich neugierig um, während Dean den blank polierten Holzboden mit einem anerkennenden Blick betrachtete.

Ein Bediensteter führte sie derweil durch die Räumlichkeiten.

Ein prächtiger Garten erstreckte sich im Hof. Eine Frau in einem roten Gewand und kunstvoll hochgesteckten Haaren ließ ihn auf der Veranda kniend auf sich wirken, als Elli und ihr Gefolge selbige betraten.

Die Frau stand auf und schenkte Elli ein mildes Lächeln. Chloe sah, dass sie einst eine wahre Schönheit gewesen sein musste. Jedoch machte sich der Zahn der Zeit allmählich an ihr bemerkbar. Erste Falten hatten sich in das Gesicht gegraben und sie meinte, das eine oder andere graue Haar im tiefen Schwarz ihrer Frisur zu erkennen.

"Herrin, ich bringe die Besucher", meldete der Bedienstete an und verbeugte sich.

"Vielen Dank", erwiderte Mang mit einer Stimme, die Männern runtergehen musste wie Öl. "Bitte lass uns allein und sag der Küche Bescheid, dass sie etwas zu Essen vorbereiten sollen."

Der Diener verbeugte sich wortlos und ging.

"Chloe, Dean, das ist Li Mang", stellte Elli sie vor. "Eine der Konkubinen seiner Majestät Wanli, dem amtierenden Kaiser von China."

"Deine Manieren sind wesentlich besser als letztes Mal, Elli", kommentierte Mang amüsiert. "Ich hatte schon befürchtet du rülpst in Gegenwart der Diener. Du solltest öfter in Begleitung unterwegs sein, würde ich meinen."

"Der Effekt ist minimal, Hochwohlgeboren", bemerkte Dean trocken.

Mang winkte ab.

"Lasst die Ehrentitel, wir sind hier unter uns. Lass dich ansehen, Elli. Es ist ziemlich lange her."

Sie ließ Elli auf sich wirken und runzelte verwirrt die Stirn.

"Du lieber Himmel, du bist ja um keinen Tag gealtert", sagte sie mit ungesund klingender Ehrfurcht. "Eigentlich hatte ich angenommen es sei nur Gewäsch, was unsere Religion erzählt, aber jetzt sehe ich ein, dass du tatsächlich eine Unsterbliche bist."

Sie kniete vor Elli nieder.

Diese zog kurz unwillkürlich eine Grimasse und bedachte Dean und Chloe mit einem Blick, der sagte "Spielt einfach mit".

"Äh, ja, Li, allerdings sind für mich seit unserer letzten Begegnung trotzdem viele Jahre vergangen. Ich mag eine Unsterbliche sein, aber dennoch bin ich nicht mehr als eine gewöhnliche Frau."

Mang stand etwas verwirrt wieder auf, schien kurz zu überlegen und beugte sich dann nahe an Elli heran.

"Wenn du mir in Bezug auf langsameres Altern ein paar Tipps gegen könntest, wäre ich dir sehr dankbar", flüsterte sie.

"Ich müsste noch etwas Hautcreme im Schrank haben", raunte Elli zurück.

Chloe fiel auf, dass sie Elli nie nach ihrem Alter gefragt hatte. Oder nach dem von Dean. Sie verschob derartige Erkundigungen auf später. Was sie eher beschäftigte war das Amt von Mang.

"Nehmt doch Platz", bat die Konkubine betont freundlich.

Alle knieten sich gehorsam hin. Für Chloe als Europäerin war diese Haltung allerdings extrem unangenehm. Mang schien das zu bemerken.

"Hm, du scheinst nicht daran gewöhnt zu sein. Setz dich am Besten so hin, wie es dir bequem erscheint. Du hast ja eine so reizende Tochter, Elli."

Wieder schnitt Elli eine unwillkürliche Grimasse, während sich Chloe erleichtert hinsetzte.
"Chloe ist nicht meine Tochter, Li. Ich habe sie aufgelesen."

"Oh, heißt dass, der feine Herr da ist noch zu vergeben?", fragte die Konkubine mit Blick auf Dean.

"Sie würden an mir weniger Spaß haben als Sie sich vorstellen, Frau Mang", entgegnete Dean verbindlich.

"Bestätige", fügte Elli griesgrämig hinzu.

"Darf ich was fragen?", erkundigte sich Chloe.

"Aber sicher doch", antwortete Mang lächelnd.

"Ist es als Konkubine überhaupt zulässig, sich einen anderen Mann zu nehmen?"

Mang winkte wieder ab.

"Wanli hat im Laufe der Zeit neue Favoritinnen auserkoren. Deswegen kann ich ja gerade so frei nach Macau reisen. Für Regierungsangelegenheiten, versteht sich. Er würde mich zwar vermutlich enthaupten, wenn ihm sowas zu Ohren käme, aber ich habe die nötigen Beziehungen um sowas im Notfall zu verhindern."

"Regierungsangelegenheiten?", vergewisserte sich Chloe.

"In China können Eunuchen und Konkubinen gewaltigen Einfluss erringen und ausüben, Chloe", erklärte Elli.

Entschuldigend fügte sie für Mang hinzu: "Chloe stammt aus einem fernen Land, in dem Konkubinat eher verrufen ist."

Chloe nahm das einfach mal so hin.

"Wie ist diese Bekanntschaft zwischen euch eigentlich entstanden?", fragte Dean. "Elli hat uns nichts darüber erzählt …"

"Sie hat mir geholfen, meine jetzige Position zu erreichen", erklärte Mang. "Hat es geschafft, unbemerkt die Verbotene Stadt zu betreten, damals nahm ich das als Beweis für ihre Unsterblichkeit. Sie half mir, einen Ring von Soldaten auszuheben, der dem Staat die Steuern und dem Volk die Nahrung vorenthielt."

"Ich nehme an, sie hat sich dafür bezahlen lassen."

"Allerdings …"

Das Gespräch drehte sich eine Weile um Ellis Abstecher und driftete dann allmählich ab. Zwischendurch wurden gefüllte Teigtaschen gebracht. Chloe entschuldigte sich nach einer Weile und beschloss, mit Wegproviant den Garten zu erkunden. Es war ein richtiges Kunstwerk. Überall blühten Blumen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, in den unterschiedlichsten Farben. Riesige Farne, Gräser und fremd wirkende Bäume machten den Garten außerdem perfekt, um darin Verstecken zu spielen.

Chloe fand eine kleine Bank, die so hingestellt worden war, dass man im Sitzen einen Teich voller bunter Seerosen betrachten konnte.

Chloe setzte sich und biss gedankenverloren in ihre Teigtasche.

Ihr Gehör registrierte ein leises Rascheln, beschloss jedoch, die Nachricht erst an die Augen weiterzugeben, bevor das Gehirn darüber in Kenntnis gesetzt wurde.

Ihr Blick fiel auf den Boden. Etwas verschwand gerade noch aus ihrem peripheren Sichtfeld und versteckte sich hinter der Bank.

Chloe stand auf und lugte hinter die Sitzgelegenheit.

Es war ein Hund. Er hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Schäferhund, war aber größer und flauschiger. Er trat langsam rückwärts als er sah, dass Chloe ihn beobachtete. Und sabberte.
Er schien Hunger zu haben.

Chloe schaute kritisch auf ihre Teigtasche. Sie war mit Hackfleisch gefüllt. Vermutlich war sie nicht giftig für Hunde.

Sie hielt sie dem Tier hin.

Der Hund beäugte die Mahlzeit aus mehreren Winkeln, schnupperte daran und leckte sie Chloe schließlich aus der Hand. Sie kraulte ihn hinter den Ohren, während er kaute.

Dann passierte etwas Merkwürdiges.

Chloe klappte die Kinnlade herunter. Zu mehr war sie nicht fähig, bevor sie zu Boden geworfen wurde.

Das nächste Mal bei Nexus:
Doppelt Gemoppelt, Teil 2

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