Das letzte Mal bei Nexus:
Schnittlauch und Beifuß, Teil 3
Die Anonym-Augen GmbH ist ein multinationales Unternehmen, das ein sehr spezielles Klientel mit sehr spezieller Ware bedient. Es nutzt nämlich seine zahlreichen Geheimagenten in der ganzen Welt, um Informationen über anomale Phänomene, Personen und Gruppen zu ergattern. Es gab genug zahlungskräftige Zeitgenossen, die dafür ein Vermögen hinblätterten und damit dafür sorgten, dass das Spionagegeschäft auch weiter boomte.
Pablo Guerra war einer dieser Agenten und Leiter einer ganzen Operation. Auch wenn es größtenteils nur Recherchearbeit war. Er sah an sich völlig unverdächtig aus. Ein hagerer Mann mit brauner Halbglatze, Bart und einem langweiligen, karierten Hemd und Jeans und einer falschen Fahrradbrille.
Ein einzelnes Individuum hatte seine Firma beauftragt, Daten zu einer gewissen "Elli" zu sammeln. Es gab sogar eine Beschreibung der Frau und ihre Charakteristiken machten es einfach, echte Infos von Blindgängern zu unterscheiden.
Sein Team hatte ziemlich schnell festgestellt, dass diese Frau eine Zeitreisende war. Das machte die Erstellung einer einheitlichen Biografie schwierig, denn erstens reiste sie in keiner Weise chronologisch und zweitens lagen Teile ihres Lebens noch in der Zukunft. Nichtsdestotrotz tat Guerra, wofür er bezahlt wurde, fürstlich sogar, dank seines Auftraggebers. Das machte die Knoten, die er sich täglich ins Hirn machen musste, um den Werdegang dieser Elli zu verstehen, etwas erträglicher.
Im Moment befand er sich in seinem kleinen Büro/Versteck in Lissabon. Es war eine weiträumige Suite, die gleichzeitig auch als sein Domizil diente. Wände und Boden zeigten Holzmaserungen und hinter ihm gab es ein großes Fenster. Zimmerpflanzen gab es keine, denn Guerra schien die Fähigkeit zu haben, auch noch jedes noch so widerstandsfähige Grünzeug verdorren zu lassen.
Im Moment studierte er eine Abschrift eines alten Textes, eine Abschrift, die sein Team aus den Archiven des Vatikans entwendet hatte. Der Text lautete übersetzt etwa wie folgt:
Wir schreiben das Jahr 1484 anno Domini, dies ist eine Zusammenfassung des Vorfalls der weißen Hexe in Florenz, niedergeschrieben von Francesco Belvini, einem der örtlichen Geistlichen.
Es begab sich am fünfzehnten Juni, dass Alcide Mattarella, ein Kaufmann aus Florenz, ein Mädchen zur Santa Maria del Fiore zerrte. Er behauptete, dass das Mädchen eine Hexe sei und für die Unglücke verantwortlich sei, die seine Lebensmittel den Bewohner der Stadt beschert hatten, inklusive der Erkrankung mehrerer Messdiener an Magenbeschwerden. Ich wurde zusammen mit meinen Kammerdienern gerufen.
Das Mädchen trug zu diesem Zeitpunkt ein rotes, wertvolles Kleid, sie schien eine Adlige zu sein, doch was Mattarella überzeugte war das weiße Haar des Kindes. Wohl hatte sie im Tausch gegen Hexenkräfte ihre eigene Haarfarbe an den Teufel verkauft.
Das Mädchen, das sich nun als Chloe Inverno vorstellte, bestritt diese Behauptung natürlich und behauptete, mit diesem Haar geboren worden zu sein.
Nun kamen aber von weitem eine junge Frau mit blondem Haar und einem blauen Kleid sowie ein hünenhafter Herr mit einem schrecklich roten Wams an, beide dem Aussehen nach ebenfalls Adlige.
Was der Tumult sollte, fragte die Frau sichtlich erbost. Mir schien als hätte sie Mattarella am liebsten geohrfeigt.Ich fragte sie, wer sie denn sei und sie stellte sich lediglich als Elli vor.
Mattarella erklärte, das Mädchen habe die Seelen von zwölf Leuten auf dem Marktplatz genommen und in eine kleine Kiste gesperrt, nicht größer als ein Stück Seife. Tatsächlich hatte er dieses wunderliche Ding entwenden können und gab es an mich weiter. Es war ein merkwürdiges Ding, glänzend schwarz wie der Rücken eines Mistkäfers und von ähnlicher Beschaffenheit, nur viel härter. Er hatte einen Knopf, der, wenn gedrückt, eine Seite des Kastens aufleuchten ließ. Es war ein mildes Licht, das in Weiß elf Kreise mit den Zahlen null bis neun sowie ein mir unbekanntes Symbol und ein leeres Rechteck präsentierte. Verwundert berührte ich einen dieser Kreise, spürte allerdings keine Wärme. Doch wo mein Finger einen der Kreise berührte, da begann dieser Kreis weiß aufzuleuchten und in dem Rechteck erschien ein Punkt. Verwundert wiederholte ich diese Handlung und füllte das Rechteck mit vier Tasten mit vier Punkten. Dann knurrte er mich plötzlich kurz an.
Erschrocken ließ ich dieses merkwürdige Ding zu Boden fallen. Ich sah das Gesicht des Mädchens, als das Kästchen aufschlug und schien sowas wie Angst darin zu sehen. Angst um dieses sonderbare Ding.
Die blonde Frau wollte den Kasten aufheben, aber einer der Kammerdiener vertrat ihr den Weg. Sie erklärte, es handle sich um eine Kuriosität, die aus dem fernen London stammte, aber ich vermochte ihr nicht zu glauben.
Ich befahl, die Drei festnehmen zu lassen, doch vor allem der Hüne wehrte sich mit einer Kraft, die ich noch bei keinem Mann gesehen habe. Fast im Alleingang überwältigte er meine Dienerschaft und befreite Elli. Guido, einer meiner Diener, war besonnen und warf sich die Hexe über die Schulter. Zusammen zogen wir uns hinter die Tore der Santa Maria del Fiore zurück. Das Mädchen beteuerte noch immer, keine Hexe zu sein und wir hatten leider den sonderbaren Kasten nicht mehr, um das den höheren Autoritäten zu beweisen. Aber den Christen sind genug verlässliche Methoden bekannt um Hexen zu enttarnen.
Mir ist bewusst, dass vor solchen Proben ein strukturiertes Verfahren stehen muss, aber wir waren uns sicher. Die Kathedrale war leider nicht für solche Prozesse ausgelegt. Wir dachten an eine Wiegeprobe, hatten aber nicht genug Gewichte. Wasser kam auch nicht in Frage, da wir hörten, wie der Hüne versuchte das Tor der Kirche aufzubrechen. Wir ließen ihn gewähren in der Hoffnung, dass er so die Stadtwache anlocken würde.
Schließlich entschieden wir uns für die Tränenprobe, denn diese war am einfachsten zu bewerkstelligten und narrensicher, schließlich können Hexen keine Tränen vergießen. Wir forderten die Hexe also zum Weinen auf.
Und sie begann augenblicklich in Tränen auszubrechen und nach Elli zu rufen.
Ich sah meinen Messdiener an und sah gerade noch, wie er von einer Bratpfanne niedergeschlagen wurde. Der Angreifer war die blonde Frau, die bereits mit der Pfanne auf mich losging und niederschlug, als ich sie erblickte.
Ich war unfähig mich zu bewegen, doch behielt genug meiner Sinne, um zu hören, wie die Frau der Hexe zu ihrem Ablenkungsmanöver gratulierte. Danach nichts mehr.
Die Stadtwache konnte später keinen der Drei mehr finden. Alles was von ihnen geblieben war, waren Beulen an unseren Köpfen und eine beachtliche Delle im Tor der Kathedrale, verursacht durch Faustschläge.
Später stellten die Messdiener fest, dass außerdem ein Fass guten Messweins entwendet worden war.
Wir müssen davon ausgehen, dass beide Frauen Hexen gewesen sind. Ich empfehle daher, eine Suche einzuleiten und Steckbriefe zu verteilen.
Pater Francesco Belvini
Guerra legte den Bericht kopfschüttelnd beiseite. Keine neuen Infos. Sie wussten inzwischen, dass Elli gegenüber dem Individuum Chloe Winter sowas wie einen Beschützerkomplex zu besitzen schien, das war ihnen bereits bekannt. Ebenso ihre Vorliebe für Ablenkungsmanöver und den Einsatz ihrer Bratpfanne.
Das nächste was er sich vornahm war die Abschrift eines alten Berichts der Stadtwache der englischen Stadt Chester, ein Eintrag, der im Jahre 1501 angefertigt worden war.
Und wieder spielten die Männer draußen diesen Sport, der inzwischen Fußball genannt wurde. Nur Geraufe und Gekloppe und zerschlagene Fensterscheiben1. Zu Beginn waren die Mannschaften ungefähr gleichstark und der Ball kam mal hier hin und mal da hin. Die Wachen, die meisten von ihnen Freunde dieses merkwürdigen Spiels, ließen es durchgehen.
Dann aber geschah etwas Absonderliches. Ein wahrer Gigant von einem Mann hatte sich dem Spiel angeschlossen und fegte wie eine Lawine durch die gegnerische Mannschaft. Viele stellten sich ihm zwar in den Weg, aber genauso gut hätten sie versuchen können einen wütenden Stier aufzuhalten. Keiner hatte ihn hier je zuvor gesehen. Nach einer Weile fiel mir aber auch eine blonde Frau auf, die sich offenbar einen ziemlich hohen Punkt auf den Dächern Chesters ausgesucht hatte und von dort aus scheinbar das Geschehen kommentierte. Dabei trank sie ausgiebig aus einer mitgeführten Rumflasche und hielt sich zwei seitlich miteinander verbundene Röhren vor die Augen. Wir konnten nur erkennen, dass in ihrem Inneren Glas zu sein schien. Sie benutzte sehr merkwürdige Worte, sowas wie "Foul" oder "Elfmeter" oder "Schwalbe", aber trotzdem sammelten sich unter ihr jede Menge Zuhörer, die herzlich darüber lachten.
Auf dem Marktplatz gab es einen Wechsel zum jungen Henry Walls, der durch die heftige Gegenwehr der gegnerischen Mannschaft allerdings in den Kingsley-Gemüseladen gedrängt wurde. Jedoch, anstatt weiterzuspielen, wie es normalerweise üblich ist, behielt der Neuankömmling unter Einsatz aller Kräfte den Ball ein und verlangte von den Spielern aufzuräumen, bevor das Spiel weitergehen würde. Tatsächlich wurden schließlich einige Spieler dazu bewegt, Kingsley dabei zu helfen, seine Waren wieder einzusammeln und auszulegen. Sobald das geschehen war, lief der Neue in die Mitte des Marktplatzes und warf den Ball hoch in die Luft. Es dauerte nicht lange, bis der Ball ohne weitere Schäden zu verursachen den Platz verlassen hatte. Auf der Hauptstraße angekommen, nahm der Hüne ihn wieder aus der raufenden Menge auf, rannte auf das Stadttor zu und warf sich mit dem Ball hindurch, wobei er gleich fünf Verteidigern, die sich ihm entgegenstellten durch den Aufprall mehrere Knochen brach.
Während seine Mannschaft noch jubelte, verschwand er zusammen mit der blonden Frau. Ein Spieler gab an, er hätte ihn gefragt warum er überhaupt an dem Spiel teilgenommen hat. Die Antwort lautete offenbar, dass er eine Wette verloren hatte.
Nein, auch nichts wirklich Neues … Dieser Dean schien ein Kraftpaket sondergleichen zu sein und dazu latent mysophob. Guerra legte den Bericht ab und zog einen kleinen Notizbucheintrag hervor, den seine Leute durch reines Glück ergattert hatten.
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Keine Ahnung, wo das aufgegabelt worden war, aber der Verfasser lieferte endlich wieder eine neue Information. Guerra machte sich Notizen. Vielleicht ein Druckmittel …
Solche Suchen waren immer frustrierend. Erst ging es wunderbar einfach, aber dann begannen sich Informationen zu wiederholen, sie wurden verdreht oder konkretisiert, widerlegt oder aufgeweicht.
Sein Telefon klingelte.
"Wer stört?", fragte er genervt.
"Äh, Sir? Wir haben ihn", kam es aus dem Telefon.
Die Stimme klang verzerrt, Sicherheitsmaßnahmen.
"Wen habt ihr?", fragte Guerra. "Verdammt, Cortez, wir haben fünfzehn Leute auf unserer Liste, Tendenz steigend …"
"Den, äh, Künstler, Sir."
Guerra überlegte kurz bevor ihm einfiel, was heutzutage alles als "Kunst" galt.
"Ach, den meinst du. Spanien?"
"Spanien, Sir."
"Ough!"
Er hasste Spanien.
"Pass auf, ich komme morgen rüber. Wir machen das ganz klassisch."
Er legte auf. Mann, was für ein Rumgewurschtel. Naja, wenigstens mussten sie nicht um den halben Globus fliegen …
Als letztes genehmigte er sich etwas Einfaches. Eine Überwachungsaufnahme.
Zu sehen waren vier Kamerabilder, die offenbar verschiedene Bereiche filmten. Es waren Aufnahmen in schwarz-grün, jene Art, die immer wieder von Flimmern durchlaufen wurde und in denen menschliche Augen als weiße Kreise erschienen.
Zu sehen war etwas, das wie ein Bunker aussah, drei Korridore und ein Raum. Kaum verwunderlich, immerhin war das Material der GRU Division "P" entwendet worden und diese Leute mochten Bunker.
Viel war in den ersten Minuten nicht zu sehen. Mehrere Personen in sowjetischer Soldatenuniform patrouillierten die Gänge, aber nichts was irgendwo aufregend gewesen wäre. Der normale Beobachter wäre nach kurzem Anschauen weggedöst, aber Guerra war darin geübt, sich langweilige Dinge anzusehen, ohne seine Aufmerksamkeit schweifen zu lassen.
Nach einer Weile kam eine kleine Truppe durch eines der Bilder gelaufen. Sie führten eine Art Sackkarre mit sich, die allerdings ziemlich groß und darauf ausgelegt war, Menschen mit Gurten auf sich zu fixieren und zu transportieren. Im Moment beförderten sie eine Frau mit, die Guerra als Elli identifizierte. Sie war geknebelt und rührte sich nicht. Die Wachen brachten sie in den Raum und stellten sie so ab, dass sie die Kamera direkt ansah. Dann verließen sie den Raum wieder.
Eine Weile lang geschah nichts, bis plötzlich auf den Korridoren hektische Aktivität ausbrach. Soldaten flohen, während Blinklichter irgendeinen Alarm andeuteten.
Etwas später kam ein alter, bärtiger Mann ins Bild und schlurfte, scheinbar von einer unsichtbaren Macht gezogen, die Korridore hinunter. Was er tat, konnte nicht gesehen werden, doch in Ellis Raum verzerrte sich plötzlich das Kamerabild. Guerra meinte, eine schemenhafte Gestalt in einem schwarzen Umhang auszumachen, die sich plötzlich in dem Raum materialisierte, bevor der Videofeed ausging. Wenig später zeigten die restlichen Kameras einen weißen Blitz, der sie überbelichtete, bevor auch ihr Feed abbrach.
Die Aufnahme endete.
Guerra kratzte sich am Kopf. Da würden weitere Nachforschungen nötig sein.
Er streckte sich, als er aufstand. Er würde etwas zu Abend essen und sich anschließend ins Bett legen, denn zu seinem Leidwesen würde er morgen nach Spanien fahren müssen. Aber er war neugierig, was ihn da erwarten würde …
Das nächste Mal bei Nexus:
Die Anderen, Teil 2