Schnittlauch und Beifuß, Teil 3

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Das letzte Mal bei Nexus:
Schnittlauch und Beifuß, Teil 2

Ihr Weg führte sie an mehreren Passanten vorbei. Einige schauten ihnen stirnrunzelnd nach, andere … verhielten sich merkwürdig …

Chloe erkannte dieses Verhalten schließlich als das wieder, was sie bereits zuvor beobachtet hatte, als der Baum erschienen war.

Vor ihnen krachte ein Auto gegen eine Hauswand. Die Insassen im Inneren knurrten und warfen sich gegen die Türen, bis eine von ihnen durch Zufall aufging. Auch andernorts machte sich diese Tollwut nun endgültig breit. Und dieses Mal in mehr Menschen als letztes Mal.

Erste Aufschreie erklangen, als um sie herum Menschen angefallen und niedergerungen wurden. Einige der Verrücktgewordenen nahmen auch Chloes Gruppe ins Visier.

"Dean?", fragte Elli ohne sich zu bewegen, "Kannst du die niederschlagen wie vorhin?"

"Nicht rechtzeitig", sagte er ebenso regungslos.

"Braucht ihr Hilfe?", fragte Hoya süffisant.

Elli nickte nach einigen Sekunden widerwillig, ohne die sich nähernden Wahnsinnigen aus den Augen zu lassen.

Hoya flackerte kurz, bevor plötzlich alle Angreifer an den Boden gekettet vor ihnen lagen.

"Hey!", kam es beleidigt von Hoya.

Elli schenkte ihr nur ein breites, selbstzufriedenes Grinsen.

Jedenfalls so lange, bis Dahŭi hinter ihnen von einer Rentnerin angefallen wurde. Sie kamen aus allen Richtungen …

Ginam holte seine Seile raus und bereitete einen Spruch vor, aber musste hastig zurückweichen, noch bevor er halb fertig war. Er hatte zu wenig Raum, um mit seinen Waffen auszuholen. Hoya derweil beeilte sich die alte, tollwütige Frau von ihrer Kameradin zu zerren.

"Verdammt, ich brauche Thaumaturgie!", rief Elli gehetzt und zog ihre Bratpfanne.

"Warum machst du sie dir nicht selbst?", fragte Chloe, die mit aller Macht versuchte, aus Deans Armbeuge zu entkommen, da er sie allmählich zu erdrücken schien.

"Ich bin betrunken, Chloe, das geht schief", war die kurze Antwort.

Hoya, die sich zusätzlich zu ihren Befreiungsversuchen jetzt auch noch wortwörtlich mit weiteren Infizierten herumschlagen musste, kam nicht mehr dazu, irgendwelche Thaumaturgie anzuwenden, die Elli nutzen konnte. Folglich wurde der Rest der Gruppe, von dem sie nun abgeschnitten war, immer weiter an einen Streetfoodstand gedrängt, der an der Hauswand stand.

Dean sah den dicken Mann kommen, der direkt auf ihn zurannte, um ihn zu rammen und ließ Chloe los, bevor er getroffen wurde.

Er wurde nicht umgeworfen, aber direkt in den Stand geschoben. Töpfe und Gläser flogen durch die Gegend.

Chloe musste hastig rückwärts krabbeln, weil ein Teenager es auf sie abgesehen hatte.

Ihre Hände bekamen irgendwas zu fassen, dass sich wie Gras anfühlte.

Ihr Angreifer war jetzt direkt über ihr und wollte ihr offenbar die Nase abbeißen. Elli befand sich in einer ähnlichen Situation mit mehreren Angreifern, aber anders als Chloe war sie mit einer Pfanne bewaffnet und setzte diese auch lautstark gegen die Köpfe ihrer Gegner ein.

Der Kopf des Halbstarken schnellte herunter. Chloe ballte reflexartig die Fäuste und verschränkte die Arme vor dem Gesicht.

Das hieß, sie wollte es.

Denn sie schlug ihm unbeabsichtigt ins Gesicht.

Der Junge war eher erstaunt als tatsächlich verletzt und kaute auf dem Grünzeug herum, das an Chloes Faust geklebt und beim Aufkommen in seinen Mund befördert worden war.

"Was mache ich hier?", fragte er verwirrt, bevor er sich auch schon schreiend eines angreifenden Mannes erwehren musste. Chloe wurde dafür verschont.

Es gibt Paniksituationen, in denen das Gehirn alle anderen Vorgänge außer "Flucht" abschaltet, daraus resultieren bei Massenpaniken Todesopfer durch Niedertrampeln. Chloe hier hatte aber jetzt den umgekehrten Fall. Sie wollte zwar immer noch hier raus, aber ihre grauen Zellen liefen auf Hochtouren, um jede Option auszuschöpfen um dieses Ziel zu erreichen.

So lautete einer der ersten Gedanken, nachdem sie das Geschehene analysiert hatte: "Nimm das Grünzeug!"

Hinter ihr lag ein kleiner Haufen neben zwei umgestürzten Edelstahlbehältern. Was auch immer in den beiden drin war, es hatte sich vermischt. Chloe nahm sich so viel, wie in ihre Hände passte und steckte sie dem Mann in den Mund, der noch immer versuchte, den gerade zur Vernunft gekommenen Teenager zu Tode zu beißen.

Und es funktionierte. Der Kerl ließ urplötzlich von seinem Opfer ab und sah sich verwirrt um. Chloe beachtete ihn nach diesem Erfolg nicht mehr und eilte zu Elli, die noch immer mit ihrer Pfanne gegen drei Angreifer ankommen musste. Ihr einziges Glück war, dass sie offenbar alle höheren Hirnfunktionen eingebüßt hatten, dadurch ließen sie sich durch einfaches Herumschwingen der Pfanne auf Abstand halten. Hinter den dreien lagen weitere Menschen am Boden, die offenbar von Blumentöpfen getroffen worden waren, die es spontan vom Himmel geregnet hatte.

Da sie auf allen Vieren und rein auf Elli fixiert waren, war es Chloe ein Leichtes, sich an die einzige Frau dieses Trios anzuschleichen und ihr wortwörtlich das Maul zu stopfen.

Elli schaltete ob des Ergebnisses sehr schnell und lenkte die beiden Männer lange genug ab, damit Chloe auch ihnen wieder Vernunft beibringen konnte.

"Schnittlauch und Beifuß", fragte Elli, als sie sich besah, was Chloe in den Händen hielt. "Wie bist du denn drauf gekommen?"

"Zufallsentdeckung", kam es kurzatmig zurück.

Chloe war nicht in Form …

"Holen wir uns mehr von diesem Grünzeug, die anderen brauchen Hilfe."

Ginam lag bereits am Boden und wehrte sich im wahrsten Sinne des Wortes mit Händen und Füßen gegen eine ganze Horde Verrückter. Wie schon zuvor bedienten sich Chloe und jetzt auch Elli eines Hinterhalts, um die ersten Infizierten zu heilen und nutzten die anschließend aufkommende Verwirrung, um auch dem Rest die Gemüsemischung in den Mund zu stecken.

Ginam schaute ungläubig auf die Entwicklung.

"Wie haben-"

"Schnappen Sie sich Beifuß und Schnittlauch, wir müssen Ihrer Lady Reinecke helfen."

Chloe betrachtete das Wort "helfen" als relativ. Hoya stand über einer verwundeten Dahŭi und war von einer ganzen Gruppe grün und blau geschlagener Infizierter umzingelt. Einige von ihnen bluteten aus Wunden, die ihnen mit einer sehr merkwürdig aussehenden Pistole zugefügt worden waren. Sie sah aus wie ein Modell aus dem ersten Weltkrieg und das Magazin ragte über der Kammer heraus. Noch dazu wirkten die Einschusslöcher seltsam verbrannt …

Nur einzelne Belagerer trauten sich, die Füchsin anzugreifen, die mit gebleckten Zähnen und aufgerissenen Augen ohne ein Wort Tod und Verderben für jeden Narren versprach, der es wagte, sich zu nähern. Eine junge Frau versuchte sie von hinten zu umschlingen, aber Hoya begann bei der Berührung zu flackern und löste sich in Luft auf.

Nur um direkt hinter der Angreiferin wieder aufzutauchen, die ob der Illusion noch verwirrt war. Nach einigen schnellen Fausthieben gegen den Torso suchte die Verrückte sofort das Weite. Ein weiterer wurde mit einem Laser auf Abstand gehalten, der sich aus der seltsamen Handfeuerwaffe löste.

Elli benutzte die Ablenkung dieses Kampfes, um mit ihrer inzwischen altbewährten Taktik auch diese Leute wieder normal zu machen. Nur bemerkten die auf der anderen Seite des Belagerungsringes das sofort und beschlossen, ihr Ziel auf die Blondine zu verlegen. Mit einem respektvollen Bogen um Hoya schossen sie auf Elli zu.

Und knallten gegen mehrere Litfaßsäulen, die sich spontan vor ihnen materialisierten. Und alle begannen schlagartig und nachdenklich zu kauen … Hoya hatte Thaumaturgie eingesetzt, die von Elli prompt zweckentfremdet worden war.

Sie bedachten sich gegenseitig mit einem ungläubigen Blick.

"Das heißt nicht, dass wir Freunde sind", sagte Hoya dann bissig.

"Hab ich auch nie vorgeschlagen", kam es mürrisch zurück. "Wo ist eigentlich Dean?"

Zur Antwort landete hinter ihr ein ziemlich dicker Koreaner unsanft auf dem Pflaster. Er versuchte sofort wieder hochzukommen und Elli zu beißen, aber Chloe reagierte rechtzeitig mit mehr Gemüse.

Ein ziemlich zerzauster Dean stampfte heran. Er sah aus, als hätte er in einer Mensa urplötzlich eine magnetische Wirkung auf sämtliche Nahrungsmittel ausgeübt.

"Schön, dass ihr an mich denkt", bemerkte er trocken.

Nun, nur verbal trocken, er triefte vor allerhand Saucen und Ölen.

Hoya derweil besah sich die wieder zur Vernunft gekommenen Bürger, die hektisch miteinander redeten und Verwundete versorgten.

"Kann mir mal einer erklären, was eigentlich passiert ist?"

"Offenbar lässt sich dieser Wahn durch Schnittlauch und Beifuß heilen", erklärte Ginam.

"Das ist keine weltliche Krankheit", fügte Elli nachdenklich hinzu. "Das Gemüse wirkt direkt nach dem Schlucken. Es ist keine Heilung, es ist eine zu erfüllende Bedingung. Irgendein Fluch muss hier am Werk sein. Ginam, wie viele Fälle kennen sie, bei denen Beifuß und Schnittlauch jemanden zur Vernunft gebracht haben?"

"Keinen", entgegnete der Thaumaturge. "Aber mir fällt ein altes koreanisches Märchen ein, von der Geburt von Dangun. Sein Vater Hwanung stellte einer Tigerin und einer Bärin die Aufgabe, sich nur von Beifuß und Schnittlauch zu ernähren um zu Menschen zu werden. Aber nur die Bärin hielt durch. Dadurch wurde sie zu einer Menschenfrau und wurde von Hwanung zur Frau genommen."

"Äh, Knoblauch, nicht Schnittlauch", korrigierte Dahŭi.

"Nein, Schnittlauch", beharrte Ginam. "Die Geschichte spielt 2333 v. Chr., Knoblauch kam erst so ums Jahr null von China zu uns, Dahŭi."

"Also ich kenne das Märchen nur mit Knoblauch", verteidigte sich das Medium.

"Naja, die Wurzeln sind ähnlich", meinte Elli.

"Tigerstreifen", murmelte Chloe, die diese Diskussion völlig ignoriert hatte. "Könnte das was mit den Stofffetzen am Baum zu tun haben?"

"Meinst du, dass die Tigerin im Baum versiegelt wurde?", fragte Hoya. "Möglich wäre es vermutlich. Sie hat bestimmt einen ziemlichen Hass auf die Menschheit entwickelt. Vielleicht wurde sie deshalb weggesperrt. Bestimmt versucht sie, auch alle anderen Menschen zu Bestien wie sie selbst zu machen."

"Aber warum weiß dann die Wanderer’s Library nichts darüber?", fragte sich Elli. "Ich meine, das ist doch keine große Sach-"

Der Boden bebte erneut.

Elli seufzte.

"Bevor die Miezekatze ausbricht, würde ich gerne das Siegel erneuert wissen. Von daher …"

In einem Hauseingang in ihrer Nähe öffnete sich ein Nexusportal.

" … nehmen wir eine Abkürzung, wenn’s genehm ist."

"Ist das-", fragte Dahŭi, bevor Elli sie auch schon unterbrach.

"Ja, und wir gehen da jetzt rein und ihr behaltet eure Finger bei euch, verstanden?"


Am Fuße des des Shin-dan-su gab es ein kleines Loch im Boden, das sich plötzlich schwärzte und Ginam heraustreten ließ, gefolgt von einer extrem blass aussehenden Dahŭi. Dann folgte ein im Nexus im Vorübergehen gesäuberter Dean mit Chloe auf den Schultern, dann Hoya und zum Schluss Elli.

Ein kurzer Blick über den Rand ihrer Filterbrille hinaus bestätigte Elli, dass die Gegend in dichtem Nebel lag.

"Dahŭi, alles in Ordnung?", fragte Hoya.

Das Medium nickte hastig, auch wenn ihre Gesichtsfarbe eine ganz andere Sprache sprach.

"Wir müssen uns beeilen", sagte Ginam mit Blick auf die fast komplett verbrannten Stoffstreifen hoch oben am Baum.

Chloe wurde von Dean heruntergelassen, aber sie nahm das nur am Rande wahr. Ihr Blick war wie gebannt auf den Baum gerichtet, denn von nahem war er einfach gigantisch. Er ragte wie ein goldener Berg vor ihnen auf.

Ginam begann an den Wurzeln Bewegungen auszuführen, die Chloe mangels besseren Wissens mit Tai-Chi verglich. Ungesund ruckartigem Tai-Chi …

Die Bewegungen zeigten Wirkung. Vor ihnen materialisierte sich eine Art Hologramm. Es sah aus wie ein grellweißes Mandala, übersät mit Schriftzeichen, die Chloe ohne das Übersetzungspflaster nichts gesagt hätten. Sie hatten Bedeutungen wie "Erde", "Wasser", "Siegel" … "Tiger"

"Also, was ist, Ginam?", fragte Hoya ungeduldig.

"Moment, einige Sachen machen keinen Sinn", antwortete der Thaumaturge. "Ich muss-"

Der Boden erbebte. Und da der Shin-dan-su das Epizentrum war, hob es alle Anwesenden von den Füßen.

"Woah!", machte Elli, während sie nach vorne fiel und aufschlug. "Ich muss zu viel getrunken haben. Ich liege am Boden und muss mich festhalten …"

"JETZT fällt es ihr auf", mokierte sich Dean, der sich auf alle Viere stützte.

Chloe plumpste auf den Hintern und spürte, wie irgendwas nach ihr zu greifen versuchte. Etwas das hasste, etwas das auf Rache sann.

Und urplötzlich von ihr abließ, als wäre Chloe ein heißes Stück Eisen.

War das Ku?

Sie schaute verwirrt zu Elli, die offenbar gerade ähnliches erlebt hatte.

Endlich ließ das Beben nach. Sie seufzte erleichtert.

Hinter ihr knurrte etwas bedrohlich.

Noch bevor Chloe sich umdrehen konnte griff Dean an ihr vorbei. Was auch immer er erwischte, winselte erbärmlich.

Als sie endlich einen Blick riskierte, merkte sie, dass Dean Dahŭi am Kragen gepackt hatte und in die Höhe hielt. Sie strampelte mit den Beinen und krallte sich in seinen Arm, aber das schien ihn nicht groß zu kümmern.

"Ginam, komm zu dir!", hörte sie Hoya brüllen.

Die Füchsin hielt Ginam im Schwitzkasten, der sein Möglichstes versuchte um sie zu beißen.
"Hat es die beiden auch erwischt", fragte Elli.

Zu Chloes Empörung war keine Angst in ihrer Stimme, sondern nur wissenschaftliche Neugier …

"Hm, Chloe und ich sind noch voll da, Hoya ebenfalls … Anscheinend befällt, was auch immer das ist, nur menschliche Koreaner. Hm … "

"Ihren Forscherdrang in Ehren, aber wir haben Wichtigeres zu tun! ", rügte Hoya. "Uns läuft die Zeit davon! Und ohne Ginam haben wir niemanden-"

"Also lesen kann ich das schon noch", unterbrach Elli und studierte das Hologramm.

"Hm … Hm … Oh! Oh oh …"

Chloe hasste es, wenn Elli "Oh oh" sagte …

"Was? Was ist?", fragte Hoya gehetzt.

"Äh, offenbar wurde für dieses Siegel ein Opfer dargebracht, ein Gott noch dazu", erklärte Elli. "Anscheinend bräuchten wir einen neuen … Und einen Gott, der das Opfer darbringt … Dieses Siegel stammt offenbar von Hwanung höchstpersönlich. Moment, das macht keinen Sinn … Warum sollte der Tiger sich nur auf Koreaner beschränken …"

"Wah-", machte Hoya erschrocken und riss Elli aus ihren Überlegungen. "Wo sollen wir einen opferwilligen Gott herbekommen?!"

Elli überlegte bereits laut und angestrengt.

"Hm, wie bringt man eine Tigerin davon ab, aus ihrer Dimension auszubrechen …"

Jedoch war es Hoya, der das Licht aufging.

"Indem wir sie in eine andere verfrachten …"

Elli schaute teils verblüfft und teils genervt zu ihr.

"Nur um eine Sekunde geschlagen …"


"Bist du sicher, dass du das richtig gelesen hast?", fragte Hoya.

Sie stand zusammen mit Elli auf einer grünen Wiese.

"Ich denke schon", erwiderte Elli. "Siegel folgen Algorithmen, auch beim Lösen. Und die hatte Ginam zu Glück freigelegt. Aber erst mal müssen wir es hier rein locken."

Sie griff nach einem Funkgerät an ihrer Hose.

"Dean? Wie sieht es aus?"

"Die Fetzen sind gleich komplett weggebrannt. Noch keine Veränderung in Sicht."

Hoya schaute angespannt auf den kleinen schwarzen Spalt vor ihnen und begann, ihre Illusion zu spinnen.


Die Wurzeln des Baumes hoben sich, als der letzte Stoff verbrannte. Ein gewaltiges Erdbeben begleitete diesen Vorgang und verwandelte alle Koreaner in Mujin City, die keinen Schnittlauch und Beifuß gegessen hatten in hirnlose Bestien, die über die wenigen Übergebliebenen herfielen. Das nahm die Kreatur, die nun mit langsamen, anmutigen Schritten dem Ausgang unter den Wurzeln entgegentrat, aber nur am Rande wahr. Endlich würde sie frei sein. Endlich würde sie sich von diesem verfluchten Gott lösen können. Endlich-

Das Wesen war herausgetreten und über die Erde am Fuße des Shin-dan-su gewandelt, aber plötzlich waberte sein Sichtfeld, als ob jemand Steine in Wasser geworfen hätte. Die Szene wechselte zu einer grünen Wiese, auf der zwei Frauen standen.

"Wie war das nochmal mit der Tigerin?", fragte die Blonde mit einer hochgezogenen Augenbraue.


Standort-64K, eine Foundation-Einrichtung nahe Mujin City, war in hellem Aufruhr. Innerhalb von Sekunden waren fast alle Angestellten wahnsinnig geworden. Nur um alle ganz plötzlich wieder zu Sinnen zu kommen. Es ist wohl unnötig zu erwähnen, dass im Standort, sowie auch in der Stadt selbst, wo sich das Phänomen auch ereignete, sehr plötzlich sehr große Verwirrung herrschte …


In goldbestickten, traditionellen koreanischen Gewändern stand eine vielleicht vier Meter große, asiatische Frau vor Elli und Hoya. Ihr braunes Haar war hochgesteckt und allein ihr Anblick verursachte bei Sterblichen einen Knoten im Hirn, wenn man nicht gerade Elli hieß und vierdimensional denken konnte. Sie schaute die beiden mit bernsteinfarbenen Augen verwirrt an.

Elli und Hoya erwiderten den Blick in gleicher Manier.

Auf dem Kopf der Frau thronten nämlich zwei Bärenohren …

"Wenn das Vernachlässigungsspiel sein soll, ist Hwanung ein ziemlich kranker Gott …", bemerkte Elli und versuchte bei dem Anblick der Ohren nicht in Gelächter auszubrechen.

"Was ist das hier?", fragte die Bärin erbost. "Was ist das für ein Ort?"

"Äh, dazu später", sagte Hoya und gluckste unterdrückt. "Könnt Ihr … Könnt ihr uns was erklären? Wir hatten eigentlich eine …. eine Tigerdame erwartet."

Die Frau schnaubte verächtlich während Hoya an ihrer Zigarette sog, wohl um nicht mit Lachen anzufangen.

"Eine Tigerin … Die hat sich von meinem verfluchten Mann häuten lassen, damit er mich einsperren konnte."

"Der Tiger wurde benutzt …", echote Hoya, plötzlich todernst.

"Das erklärt, warum die Wanderer’s Library nichts über sie wusste", ging es Elli auf. "Hwanung konnte seinem Volk nicht einfach erzählen, dass er seine eigene Frau weggesperrt hatte. Aber was könntet Ihr getan haben um … Oooh …"

Ellis Mund verzog sich zu einem Grinsen.

"Am Ende war das eigene Gras wohl doch grüner, hm? Ihr habt versucht, eure ursprüngliche Gestalt wieder anzunehmen und die Koreaner, über die ihr rechtlich gesehen auch heute noch herrscht, hätten durch eure Verwandlung ihre Menschlichkeit als Bezahlung eingebüßt … Mujin City hat offenbar gerade mal für die Ohren gereicht … Oh Mann, Hoya, DAS MUSS IHR JA SO PEINLICH SEIN!"

Die beiden Frauen begannen endlich zu lachen.

Als Antwort stampfte die Bärin wutentbrannt mit dem Fuß auf. Der Boden brach durch die Wucht an mehreren Stellen auf. Hoya kämpfte mit dem Gleichgewicht als die Fissuren sie erreichten, bevor sie merkte, dass sie gar nicht in Gefahr war. Denn Elli hinderte sie am Umfallen …

"Genug mit diesem Geschwätz, wo bin ich hier! Lasst mich raus!"

"Bedauere", sagte Hoya mit gezogener Mütze und schelmisch grinsend. "Aber die Sicherheit der Koreanischen Halbinsel ist uns dann doch wichtiger als Euer Wohlergehen."

Sie zog erneut an ihrer Zigarette und blies den Rauch aus.

Die riesige Frau knurrte und rannte auf die Füchsin zu, um sie anzugreifen.

Jedoch hob sie plötzlich vom Boden ab und überschlug sich strampelnd, ohne wieder mit der Erde Kontakt herzustellen.

Hoya schaute dem Spektakel verwirrt zu und wandte sich dann an Elli.

"Warst du das? Ich habe gar keine Thaumaturgie benutzt, die du ausnutzen könntest."

"Stimmt", erwiderte Elli. "Aber das hier ist meine Welt. Im Nexus mache ich die Regeln."

Um ihre Worte zu unterstreichen, zog sie sich ein Veilchen aus der Nase.

"Zum Beispiel, was du hier siehst, ist Schwerelosigkeit."

Die Bärin klatschte unvermittelt auf den Boden und gab ein ersticktes Keuchen von sich. Sie konnte sich nicht hochstemmen.

"Und das ist zu viel Gravitation."

"Töte sie nicht!", warnte Hoya. "Wir wissen nicht, was ihr Tod für Auswirkungen auf Korea hat."

Elli stellte die Schwerkraft wieder auf Standard. Sofort stürzte sich die Bärin in blindem Zorn auf Elli. Elli schwebte ein wenig in die Höhe und versetzte ihr einen Faustschlag, der sie vom Boden hob und auf selbigen der Länge nach aufschlagen ließ.

"Ich mag keine Prügeleien, wenn ich ehrlich bin", meinte Elli. "Außer es ist Teil des Matratzensports …"
Die Bärin erhob sich keuchend wieder.

"Was- Was habt ihr vor?"

Elli machte ein ernstes Gesicht. Um die riesige Frau herum baute sich ein würfelförmiger Metallrahmen auf.

"Fakt ist, wir können dich um Koreas Willen nicht zurücklassen. Aber beseitigen können wir dich auch nicht sorgenfrei. Darum werde ich dich verwahren, bis mir was Besseres einfällt.

Die Bärin bekam große Augen.

"DAZU HAST DU KEIN RE-"

Und dann hörte sie auf, sich zu bewegen, als Elli ihre Zeit anhielt.

"Wenn ich jedes Mal zehn Cent bekommen würde, wenn das jemand zu mir sagt, dann könnte ich den Alk siloweise saufen … Bei dir alles okay, Chloe?"

Chloe hatte ein wenig abseits gestanden und das Spektakel beobachtet. Sie brauchte beide Hände, um ihre Kinnlade wieder zu schließen.

Elli zückte ihren Flachmann.


Hoya hatte Elli und ihre Begleiter zum Essen eingeladen, um die Meisterung der Krise zu feiern. Wurzeln des Shin-dan-su konnte draußen gesehen werden und zeigten, dass der Baum wieder zu verblassen begann. Dahŭi und Ginam waren wieder zu sich gekommen, nachdem Dean sie kurzzeitig gefesselt hatte und waren bereits wieder weit genug auf der Höhe, um Hoya bereuen zu lassen, dass sie sich zur Bezahlung der Zeche bereiterklärt hatte. Der einzige positive Aspekt war Dean, der, wie immer, nichts bestellt hatte.

"Dass mir das aber nicht zur Gewohnheit wird", mahnte Elli über ihrem Bratfleisch an. "Ich habe mich bereiterklärt, den Bären zu verwahren, aber mein Nexus ist keine Rumpelkammer. Ich habe außerdem keine Ahnung, was ein längerer Aufenthalt einer Göttin darin für Folgen hat."

Dahŭi schluckte hörbar.

"Dieser Hwanung war aber ziemlich niederträchtig", versuchte Chloe das Thema zu wechseln. "Ich meine, da opfert er einfach eine Tigergöttin und niemand hat je davon erfahren …"

Hoya gluckste, während sie ein Stück Hühnchen anspießte.

"Nun, wir können davon ausgehen, dass das Opfer der Tigerin freiwillig war und entsprechend geehrt wurde."

"Warum?"

Hoya zog ein Smartphone hervor und zeigte Chloe das Wappentier Südkoreas …


"Wirklich nette Leute, wenn man sie näher kennen lernt …", merkte Ginam an, als sich der Nexus vor ihnen schloss.

"Nur Schade, dass ich ihre Nummer nicht gekriegt habe", kommentierte Hoya. "Naja, wir gehen nächsten Samstag einen trinken, vielleicht habe ich dann mehr Glück …"

"Sie wollen sich weiter mit diesem Monster einlassen?!", entfuhr es Dahŭi.

Ihre Begleiter schauten sie verwirrt an.

"Jetzt wo du es sagst, Dahŭi, was ist in dich gefahren! Seit du im Nexus warst, bist du-"

Dahŭi unterbrach Hoya mit einer Geste.

"Ich weiß, Hoya, aber ihr habt nicht das gesehen, was ich gesehen habe!"

Die Füchsin zog die Augenbrauen zusammen.

"Was hast du gesehen? Was ist da im Nexus?"

Dahŭi sammelte sich, bevor sie antwortete. Die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. Sie musste sich zwingen.

"Tote. Die Seelen von unvorstellbar vielen Toten. Die Büßende hält sie wahrscheinlich mit Naturgesetzen von sich ab und erzwingt, dass sie Frieden finden, aber ihr Groll ist noch immer da. Er hängt wie ein Miasma in dieser Dimension. Ich habe zwar gelesen, was sie getan hat, aber die Auswirkungen mit eigenen Augen zu sehen …"

"Naja, uns hat sie jedenfalls gerettet", entgegnete Ginam …

"Aber das heißt nicht, dass wir weiter mit ihr verkehren sollten. Ginam", widersprach Dahŭi. "Sie ist ein Ungeheuer!"

Hoya dachte an das zurück, was ihr die Gelehrten der Wanderer’s Library einst gesagt hatten. Die Serpent’s Hand kannte eine Menge unsägliche Gefahren, aber Elli, so hieß es, stellte mit ihren Taten sogar einige der finstersten Götter in den Schatten …

Das nächste Mal bei Nexus:
Die Anderen, Teil 1

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