Der Mörder der Unsterblichen, Teil 3

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Das letzte Mal bei Nexus:
Der Mörder der Unsterblichen, Teil 2

Chloe stand zusammen mit Dean und Ms Pukui vor dem Überwachungsraum. Chloe war größtenteils nur mitgegangen, weil sie sich in der Gegenwart der anderen nicht sicher fühlte, zu einem Teil aber auch weil Dean ohne sie den Raum nicht hatte verlassen wollen. Elli war unten in der Obhut von Mr Shaw, Mr Drake und Ms Macintosh zurückgelassen worden, die ebenfalls die Orwell-Zwillinge bewachten, da diese die unter Verdacht auf Zusammenarbeit die Hauptverdächtigen standen. Mr Hayden, Mr und Mrs Ward und Dr. Allison waren losgegangen, um Mr Macintosh zu finden und um das Lager nach dem benutzten Messer abzusuchen. Dean derweil durchforstete unter der Aufsicht von Ms Pukui die Logs des Überwachungssystems nach Hinweisen und um Shaws Behauptungen zu überprüfen. Er konnte das System zwar nicht überbrücken, aber von dem grauen Schaltkasten aus, der einen kleinen Computer komplett mit Bildschirm und Tastatur beinhaltete, konnte er es wenigstens auslesen. Shaw hatte anfangs darauf bestanden das selbst zu tun, allerdings war man zu dem Schluss gekommen, dass jemand, der nicht vom Personal war, zur Verifizierung besser geeignet war.

"Ich frage mich, warum Ms Macintosh nicht losgegangen ist, um ihren Bruder zu suchen", bemerkte Dean, während er in Seelenruhe durch die Logs scrollte.

"Nun, vermutlich will sie ihn gerade nicht sehen, immerhin ist er verdächtig lange weg. Oder schlimmer …", meinte Ms Pukui. "Ich meine, wenn ich in ihrer Situation wäre, würde ich versuchen mich in Unwissenheit zu wiegen. Um weiter hoffen zu können."

"Finde ich persönlich blödsinnig", kommentierte Dean. "Irgendwann findet man raus, ob Schrödingers Katze tot oder lebendig ist, es ist nur die Frage, wie lange es dauert."

"Haben sie Geschwister? Oder denken Sie vielleicht eher an Ihre Frau, dann verstehen Sie vielleicht."

"Ich hatte nie Geschwister und das, was Elli umbringt, muss erst noch erfunden werden", kam es trocken von Dean, ohne dass er den Blick vom Bildschirm abwandte.

"Hast du denn schon eine Idee, wer es war?", fragte Chloe.

"Leider nicht. Keiner hat ein Motiv und alles deckt sich zu gut", verneinte Dean. "Natürlich würde der Täter lügen, aber damit er nicht auffliegt, bräuchte er Komplizen. Oder aber Macintosh kannte einen Weg das Opfer lautlos zu enthaupten, aber das wäre mir neu. Und ich glaube nicht, dass die Orwells es gewesen sind, Pukui hier hätte es mitbekommen, wenn sie die Küche betreten hätten. Hopes Bruder war es vermutlich auch nicht. Die Augen wurden offensichtlich ausgestochen, um zu verhindern, dass Haydens Kopf per Augenbewegung den Täter identifiziert, falls ihre verbliebenen Muskeln längere Zeit ohne Sauerstoff auskommen sollten. Ziemlich unnötig, wenn du schon allein durch ein fehlendes Alibi ins Visier gerätst."

"Bei einer solchen Tat denkt man nicht unbedingt rational", warf die Köchin ein.

"Richtig, aber dann versucht man so schnell wie möglich wieder zu verschwinden, ohne sich noch mehr Arbeit zu machen", erwiderte Dean. "Und wenn man extra dafür sorgt, dass man vom Opfer nicht mehr identifiziert werden kann, dann versteckt man sich danach nicht. Darum würde ich auch eine mysteriöse dritte Partei ausschließen. Der Täter ist einer von uns und hängt im Moment über uns wie ein Damoklesschwert."

Die Gesichtszüge der Köchin schliefen plötzlich ein. Dean bekam das nicht mit, da er weiterhin nur auf den Bildschirm blickte, aber Chloe wurde darauf aufmerksam, weil der Vorgang so unnatürlich wirkte. Und für einige Sekunden andauerte, ehe sich die Frau wieder entspannte.

"Äh, Ms Pukui? Ist irgendwas?"

"Hm, was?", fragte die Köchin verwirrt.

"Shaw sagt die Wahrheit, der hat ziemlich lange hier dran rumgewurschtelt" sagte Dean, der davon offenbar immer noch nichts mitbekommen hatte. "Mal sehen, wann er … Oh?"

Er tippte auf eine Zeile, der Chloe rein gar nichts entnehmen konnte.

"Hier steht, dass Shaw das Passwort geändert hat … In der Zeit, in der er rausgegangen war zum Telefonieren …"

"Heißt das, Shaw ist der Täter?", fragte Pukui ungläubig.

"Unwahrscheinlich, dafür ist das Log der Dinge, die er versucht hat, um das System wieder unter Kontrolle zu kriegen, zu lang und noch dazu durchgehend bis zu dem Zeitpunkt, wo er von Henry geholt wurde. Aber er wird wohl ein Komplize sein. Oh je."

Dean klemmte sich unvermittelt Chloe unter den Arm und sprintete in Richtung des Speisesaals. Es dauerte kurz, bis Pukui aufholte.

"Mr Hunter, was ist los?", rief sie im Laufen.

Ihr Exoskelett gab ihr offenbar eine übermenschliche Kondition.

"Wir haben zwei Verdächtige und einen offensichtlichen Komplizen im selben Raum gelassen wie Macintosh, Drake und Elli. Die Drei schweben womöglich in Gefahr!"

Schlitternd kam er in der Eingangshalle zum Stehen, um die Richtung zu wechseln und warf sich förmlich in den Speisesaal.

Alle augenscheinlich unverletzten Anwesenden außer Elli, die noch immer ihren Rausch ausschlief, warfen ihm verwirrte Blicke zu.

Dean schaute sich kurz um, während die Köchin neben ihm zum Stehen kam.

"Alle sind heil?", fragte er dann.

"Äh, ja?", entgegnete Ms Macintosh. "Warum? Ist was passiert?"

Dean ließ eine extrem durchgeschüttelte und entsprechend wacklige Chloe herunter, bevor er sich an Shaw wandte.

"Mr Shaw, Ihre Aussage bezüglich der Logs ist korrekt, was Sie uns aber nicht gesagt haben, war, dass Sie derjenige waren, der das System hat verrücktspielen lassen."

Shaw schliefen die Gesichtszüge ein.

"Das ist eine Unterstellung!"

"Leider nicht. Ich habe es Schwarz auf Weiß", antwortete Dean resigniert. "Sie können die Tat logischerweise nicht verübt haben, da deckt Sie das Log, aber Sie waren ein Komplize. Wenn Sie uns verraten, mit wem Sie zusammengearbeitet haben, können wir das schnell beenden."

Mr Shaw hob abwehrend die Hände.

"Da muss ein Fehler vorliegen, ich habe nie-"

"Dann muss jemand ihre Zugangsdaten benutzt haben, während Sie direkt vor dem Gerät standen, wie Sie vorhin erklärt haben", unterbrach in Dean. "Sie merken selbst, dass das Quatsch ist."

"Nein! Sie müssen mir glauben, ich-"

In der Ferne hallte ein Schrei, der Stimme nach von Mr Ward. Sofort wanden sich alle zur Tür.

"Ich geh nachsehen", meldete Dean an. "Chloe, du kommst mit, das Sicherheitsteam auch. Pukui, Macintosh, Drake, Sie bleiben hier und passen auf, dass Elli nichts passiert."

"Sie nehmen das Kind mit!?", entfuhr es der Köchin.

"Ms Pukui, glauben sie mir, wenn ich ihnen sage, dass meine Nähe im Moment den sichersten Bereich in diesem Haus darstellt."

Mit diesen Worten ergriff er Chloe an der Hand und wandte sich zum Gehen, bevor er sich zu den Sicherheitsbeamten umwandte, die sich noch immer nicht von der Stelle bewegt hatten.

"Gentlemen?"

"Wer hat Ihnen eigentlich das Kommando gegeben?", knurrte Shaw. "Erst beschuldigen Sie mich und jetzt wollen Sie, dass wir nach Ihrer Pfeife tanzen?"

"Damit ich das richtig verstehe, es gab einen Vorfall und Sie, als das Sicherheitsteam, beschließen das zu ignorieren, weil sich einer der Gäste das schon ansieht?", erkundigte sich Dean mit ausdruckslosem Gesicht.

Shaw setzte sich zähneknirschend zusammen mit den Orwells in Bewegung.


Der Schrei war aus Richtung der Toiletten gekommen. Die Tür zum Lager stand offen. Mr Ward stand davor und weinte hemmungslos. Mr Hayden, Dr. Allison und Henry standen um ihn herum und versuchten ihn zu trösten.

"Was ist hier passiert?", fragte Mr Shaw. "Wo ist Mrs Ward?"

Mr Hayden deutete wortlos in den Raum, während Mr Ward von einem neuerlichen Weinkrampf geschüttelt wurde.

Chloe lugte vorsichtig hinein, bevor Dean sie am Kragen zurückzerrte. Allerdings zu spät. Sie sah Mrs Wards eingeschlagenen Schädel und den blutigen Schraubenschlüssel neben ihr. Man hatte ihr damit offensichtlich im Hirn herumgerührt.

Der Raum selbst war ein Lager, in dem sich allerhand Kisten und Ersatzteile für verschiedene Maschinen stapelten. Es gab kein Fenster, vier Leuchtstoffröhren an der Decke beleuchteten die mit Raufaser tapezierten Wände.

Chloe spürte, wie sich ihr Mageninhalt erneut auf einen Ausbruchsversuch vorbereitete …

"Wer war das?", fragte Dean.

"Wir wissen es nicht", antwortete Henry. "Mrs Ward betrat den Raum als Erste, dann ich, dann Mr Ward und hinter uns blieben Dr. Allison und Mr Hayden zurück, um nochmal in den Toiletten nachzusehen. Dann wurden wir niedergeschlagen. Mit irgendwas Hartem, vermutlich dem Schraubenschlüssel."

"Vier auf einmal?", fragte Dean ungläubig.

"Ich kam als erster zu mir", sprach Henry weiter. "Wir lagen alle am Boden. Keine Ahnung, wie das bei Mr Hayden angestellt wurde. Sein Exoskelett sollte das eigentlich abkönnen."

Henry kratzte sich ratlos am Schädel. Am hinteren Teil entwickelte sich eine prächtige Beule. Dean richtete derweil seine Aufmerksamkeit auf einen hohen Spind direkt neben dem Eingang, dessen Tür nur angelehnt war.

"Dieser Mr Macintosh muss es gewesen sein", mutmaßte Chloe. "Alle anderen scheinen von Henry gesehen worden zu sein, als er aufwachte. Und er kann Mr Ward ja schließlich nicht hinterrücks von vorn niederschlagen."

Dean lugte in den Spind.

"Ich mag deinen Gedankengang, Chloe, gut mitgedacht", kommentierte er. "Es gibt da nur ein kleines Problem in deiner Theorie. Er ist hier drin."

Chloe konnte nicht sehen, was sich im Schrank befand, da Dean ihn verdeckte, aber sie war dankbar dafür. Sie bemerkte nämlich erst jetzt die kleinen Bäche aus Blut, die daraus hervorliefen. Der Raum schien ein leichtes Gefälle zu haben, denn sie liefen am Schrank entlang und dann zur Wand, sodass man sie beim Betreten des Raumes nicht sofort bemerkte. Sie wandte sich ab, bevor sie sich tatsächlich übergeben musste.

"Gesicht vollständig eingeschlagen. Mit irgendwas stumpfen. Fäuste, vermutlich. Und was ist das? Warum ist sein rechter Ärmel so blutig?", summierte Dean, bevor er von Shaw zur Seite gedrängt wurde.

"Wann ist das passiert? Wie?", murmelte er. "Nanu, ihm wurde die Kehle durchgeschnitten. Und hey, schauen Sie mal da in der Ecke. Da liegt ein großes Messer! Das muss die Tatwaffe für den ersten Angriff sein."

"Damit fliegt alles bisherige aus dem Fenster …", sagte Dean. "Die Orwells können es nicht gewesen sein, die waren im Speisesaal, als es passierte. Am ehesten würde noch Mr Hayden ins Bild passen, der hat sich eventuell nur ohnmächtig gestellt, aber warum sollte er gerade Mrs Ward das antun? Und wie passt Mr Macintosh ins Bild? Nachdem die Kameras ausgefallen sind, könnte es ihn jederzeit erwischt haben … Vielleicht hat er versucht den ersten Mord zu verhindern … Aber warum wurde ihm die Kehle durchgeschnitten, wenn ihm das Gesicht eingeschlagen wurde?"

Hinter ihm hallte Mr Wards Weinen durch den Gang.


Nach einer Weile fanden sich alle wieder im Speisesaal ein. Die Frauen und der Koch wurden über das, was passiert war, in Kenntnis gesetzt und Dean machte weitere Notizen. Die Stimmung war im Keller, während alle im Kreis standen und sich gegenseitig anfunkelten.

Ms Macintosh war mit blassem Gesicht auf einen Stuhl gesunken und apathisch.

"Ich verstehe das nicht. Wie konnte das passieren!?", fragte Pukui.

"Nun, Shaw war offenbar derjenige, der uns hier eingesperrt hat, er sollte Antworten für uns haben", meinte Mr Hayden grimmig.

"Wie oft denn noch? Ich weiß nicht, wie das passiert ist", brüllte der Wachmann, jetzt völlig außer sich. "Woher wollen wir nicht wissen, dass Hunter einfach eine Zeile eingefügt hat?"

"Das hätte ich gesehen, Michael", warf die Köchin ein. "Ich stand direkt neben ihm."

"So wie du gesehen hast, dass dir ein Messer abhanden gekommen ist?"

Pukui erwiderte nichts.

"Chloe kann das ebenfalls bestätigen", verteidigte Dean die Köchin und warf einen Blick zu Chloe, die sofort nickte. "Die Anwesenden können außerdem bezeugen, dass ich zuvor nicht einmal an dem Schaltkasten war", fügte er noch hinzu, bevor er das Thema wechselte. "Wenn ich das vorhin richtig verstanden habe, war die Reihenfolge, in der man die Leute hätte niederschlagen müssen Allison, Hayden, Ward und Henry, und ich wage zu bezweifeln, dass Allison einen Exoskelettträger niederschlagen kann."

"Vielleicht gibt es bei den Exoskeletten eine Schwachstelle", mutmaßte einer der Orwell-Zwillinge.

"Gibt es nicht", widersprach Dr. Allison. "Das wird Ihnen jeder unserer Ingenieure bestätigen können."

"Hier muss noch jemand im Haus sein", platzte Ward heraus.

Er war, von Weinkrämpfen geschüttelt, mit in den Speisesaal zurückgegangen und hatte seit einer Weile ins Leere gestarrt.

"Niemand von uns kann es gewesen sein. Andernfalls müsste doch die Hälfte der Anwesenden mit Shaw unter einer Decke stecken!"

"Dann müssen es die Hotelangestellten sein!", wetterte Hayden los, bevor Mr Shaw etwas erwidern konnte. "Wahrscheinlich ist das hier extra als Todesfalle ausgelegt worden. Noch dazu war es die Wachmannschaft, die uns eingesperrt hat."

"Das ist eine haltlose Unterstellung!", ereiferte sich Henry. "Wir haben nur versucht, maximale Sicherheit zu gewährleisten."

"Hat ja super funktioniert", setzte Mr Ward nach. "Wenn ich hier rauskomme, klage ich Sie alle in Grund und Boden, bis ich den Schuldigen habe!"

"Meine Herren, bitte", versuchte Dean zu beschwichtigen. "Wenn wir jetzt die Nerven ver-"

"SIE SIND RUHIG!“, brüllten die beiden Witwer.

"Konzentrieren Sie sich lieber darauf endlich dieses Pack zu überführen!“, setzte Mr Hayden noch nach.

"Sir, bitte passen Sie auf, sonst überladen sie mit ihrem Zorn noch ihre Limiter!“, warnte Dr. Allison von der Seite.

"Doktor, ihre Sorge in Ehren, aber wenn es einen Zeitpunkt gibt, um-"

"RUUUUUHEEEE!"

Alle Anwesenden außer Dean, der nur milde überrascht wirkte, sahen erschrocken zu Elli, die sich träge von ihrem Sofa erhob und einmal ausgiebig gähnte. Dann schaute sie teils genervt und teils überrascht in die Runde.

"Bei dem Lärm wachen ja sogar die Toten auf. Warum die langen Gesichter? Ihr seht ja aus als wäre jemand gestorben."

Dean warf ihr seinen besten Du-musstest-das-gerade-so-formulieren-oder?-Blick zu.

"Oh …", machte Elli, als sie den Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte und kramte in ihrer Tasche, die neben das Sofa gestellt worden war, nach ihrem Flachmann, um etwas zu trinken.

"Was ist denn passiert?", fragte sie dann.

"Ich hab ein paar Notizen gemacht, schau sie dir einfach an", entgegnete Dean trocken und deutete auf den Tisch, den er mittlerweile mit Klebezetteln tapeziert hatte.

Stirnrunzelnd trat Elli heran und begann zu lesen.

"Also, wie gesagt", fuhr Mr Ward nach dieser Unterbrechung an das Personal gewandt fort. "Ich werde Sie alle vor Gericht ziehen, wenn der Drahtzieher nicht auf der Stelle vortritt!"

Das Personal wechselte stumme Blicke der Verwirrung.

"Jetzt tut nicht so unschuldig!", fuhr Hayden auf. "Wir werden denjenigen, dem wir das alles zu verdanken haben, finden, spätestens wenn die Polizei anrollt. Besser ihr stellt euch jetzt!"

"Mr Hayden", erwiderte Mr Drake. "Ihre Wut gegenüber uns allen ist unangebracht. Shaw ist der Einzige auf den sie wütend sein können."

"Wie oft denn noch, ich habe das System nicht verbuggt!", ereiferte sich der Wachmann.

"Ach ja? Und wer hat es dann getan, präzise zu der Zeit zu der sie vor dem Schaltkasten standen?", erkundigte sich Mr. Ward sarkastisch.

"Och Herrgott, da muss irgendein Fehler vorliegen", gab Shaw zurück.

Die Parteien funkelten sich gegenseitig böse an.

"Es war der Doktor", kam es von Elli.

"Danke, Mrs Hunter, wir- Was?"

Alle drehten sich erstaunt zu Elli um, teils verblüfft über das, was sie gerade gesagt hatte und teils verblüfft darüber, dass sie offenbar schon fertig war mit Lesen.

"Mrs Hunter, was sagen Sie da?", ereiferte sich Dr. Allison. "Ich habe ein Alibi für den ersten Mord und den zweiten kann ich logisch nicht begangen haben."

"Das ist nach normalem Verständnis vollkommen korrekt", entgegnete Elli. "Aber jetzt denken wir mal außerhalb der Box, in der ihr alle offenbar gerade steckt. Wer war der Einzige, der sich an beiden Tatorten befand?"

"Dr. Allison!", platzten die beiden Witwer heraus.

"Aber das ergibt keinen Sinn", kam es aus der Ecke in der Ms Macintosh hockte. "Ich hätte ihn sehen müssen, wenn er auf das Damenklo gegangen wäre."

Sie stand auf und trat zu der Runde.

"Vermutlich hast du das, Hope", widersprach Elli. "Du hast es nur vergessen."

"Wa-?", begann Ms Macintosh, wurde aber sofort unterbrochen.

"Natürlich hat er die Tat nicht direkt verübt", sprach Elli weiter. "Aber praktischerweise hatte er hier Zugriff auf gleich vier Cyborgs, die unter seinem Messer gelegen hatten."

"Was wollen sie damit sagen?", fragte der Chirurg.

Es klang drohend.

"Ich glaube, Sie haben eine kleine Modifikation vorgenommen, haben vielleicht den Wirkstoff in irgendeiner Kanüle vertauscht, haben vielleicht einige Parameter verstellt, kleine Änderungen, die einem bei der Wartung nicht auffallen und normalerweise auch keine Rolle spielen. Außer Sie brauchen jemanden, der für Suggestion empfänglich ist. Denn wenn dieser Fall eintritt, aktiviert sich vermutlich eine kleine Subroutine im Exoskelett und das Hirn wird mit einer Chemikalie geflutet, das es willenlos macht. Dadurch erhalten sie eine manipulierbare Marionette, der Sie befehlen können, was Sie wollen."

"Wollen Sie wegen Rufmord vor dem Richter landen?", knurrte Dr. Allison. "Selbst wenn ihre haarsträubende Theorie stimmen würde, wie sollte mir das helfen?"

Elli begann zu grinsen.

"Wenn Sie mir eine Rekonstruktion erlauben, dann erkläre ich das natürlich. Das Ganze fing an, als Sie sich als Erster auf das Klo abgesetzt haben. Unterwegs haben sie an der Küche angeklopft und Pukui damit zu sich gerufen. Ihr wurde der Befehl gegeben, der nächsten Person, die klopft, unauffällig ein großes Messer zu geben, so dass Drake es nicht mitbekommt. Dann sollte sie, wie alle anderen Cyborgs, die Befehle erhalten hatten, alles vergessen und bekam von ihnen entsprechende Ersatzerinnerungen vorgegeben. Auf dem Klo angekommen haben sie anschließend Hope hier angerufen und sie aufgefordert, dem ersten ihrer Ziele, denn es waren vermutlich mehrere, das für einen Toilettengang aufsteht, zu folgen, aber niemandem am Tisch diesen Befehl mitzuteilen. Vermutlich würde sie auch noch irgendwie laut geben, sobald dieser Fall eintritt, vielleicht mit einer Textnachricht per Handy, die anschließend von Ms Macintosh wieder gelöscht wurde, um Spuren zu verwischen. Jedenfalls hatten Sie Glück, denn Sie mussten nicht lange warten. Unterwegs ließ sie sich noch von Pukui das Messer zustecken, wohlweislich so, dass es auf der Kamera nicht zu sehen war, wobei ich aber nicht glaube, dass die Orwells acht Stunden lang mit voller Aufmerksamkeit auf Bildschirme starren können, daher könnten sie das auch übersehen haben, die Jury is offen. Nachdem Sie jedenfalls ihre Nachricht erhalten hatten, riefen Sie Mr Shaw an und befahlen ihm, das Sicherheitssystem zu verbuggen. Ich nehme an, sie haben ihm die genaue Funktionsweise bereits entlockt, als er zu einer Routineuntersuchung bei ihnen war, oder gleich nachdem Sie die Operation vollzogen hatten."

Im Hintergrund kramten Mr Shaw und Ms Macintosh nach ihren Telefonen.

"Nachdem Sie wahrscheinlich von Shaw auch noch einen zuvor deponierten Signaljammer aktivieren ließen, um das Telefonnetz abzuwürgen, wurden Sie von ihm in der gleichen Manier wie von Ms Macintosh über die abgeschlossene Aufgabe unterrichtet. Dann haben Sie die Toilette verlassen und Hope, die zu diesem Zeitpunkt wohl schon auf dem Klo war, aufgesucht, um ihr zu befehlen Mrs Hayden mit dem Messer zu töten. Mrs Hayden machte sich zu diesem Zeitpunkt wohl bereit ihre Toilettenkabine zu verlassen. Wenn sie beim Türaufmachen überrascht wurde, wird es schnell vorbeigewesen sein."

Elli blickte sich kurz um, um festzustellen, ob sie noch immer die volle Aufmerksamkeit hatte, was tatsächlich der Fall war.

"Leider kam es zu einer Komplikation. Hopes Bruder, der vermutlich gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte, machte sich auf, um sich zu vergewissern. Dabei wird er wohl gerade in die Tat gestolpert sein, woraufhin der Doktor den Befehl gab, auch ihn auszuschalten. Da Exoskelette sehr viel Kraft entwickeln können, war es vermutlich das einfachste, ihn in einen anderen Raum zu schleppen. Um aber keinen Radau zu machen, wurde ihm wohl die Kehle durchgeschnitten und die Wunde mit dem Ärmel des Opfers abgedeckt, damit er geräusch- und spurlos in besagten anderen Raum verfrachtet werden konnte, wo ihm schlicht das Gesicht eingeschlagen wurde. Hope wird sich danach wohl noch die Arme gewaschen haben. Allison kehrte als Erster zurück, dann folgte Hope, damit er ein Alibi hatte. Noch dazu hatte er nun eine Situation geschaffen, in der er in aller Ruhe seinem nächsten Opfer auflauern konnte."

Chloe bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Ms Macintosh die Gesichtszüge eingeschlafen waren.

"Den zweiten Angriff können wir wesentlich kürzer abhandeln. Gegeben der Anordnung der Personen ist zu vermuten, dass der Doktor einfach Hayden von hinten Anweisungen ins Ohr geflüstert hat. Er schlug daraufhin die beiden Männer mit dem, was gerade rumlag, nieder und brach Mrs Ward den Schädel, anschließend legte er sich hin, schloss die Augen und vergaß alles bis zu dem Zeitpunkt, an dem er von jemandem aufgeweckt wurde, wie instruiert. Allison derweil mimte den Ohnmächtigen. Das bringt uns zu jetzt."

Einigen Anwesenden stand der Mund offen. Es dauerte kurz, bis Dr. Allison wieder das Wort erhob.

"Wissen Sie, wie weit hergeholt das ist? Herrgott, Sie haben nur auf ein paar Zettel geschaut und wollen wissen, wer der Mörder ist? Absolut lächerlich. Aber wenigstens haben sich alle wieder beruhigt."

"Äh … ", machte Ms Macintosh, während sie voller Unglaube auf ihr Handy stierte. "Die letzte Nummer wurde unterdrückt … Keiner unserer Geschäftspartner macht sowas …"

"Bei mir auch …", kam es tonlos von Mr. Shaw "Und das von meiner Frau … "

Der Chirurg runzelte die Stirn.

"Sie glauben diesem Hirngespinst doch nicht etwa? Wie soll ich denn bitte schön Exoskelette kontrollieren? Mit einer Fernbedienung, oder was? Durchsuchen Sie mich ruhig, sie werden nichts finden."

Er streckte auffordernd die Arme zur Seite.

"Ich glaube nicht, dass es eine Fernbedienung war", entgegnete Elli. "Sonst hätten Sie Shaw und Hope vom Klo aus nicht vom Fleck bekommen. Vermutlich haben Sie ein geheimes Passwort oder so, durch das ihre Modifikation aktiviert wird. Wahrscheinlich ein Wort, dass im modernen Sprachgebrauch kaum bis überhaupt nicht auftritt, sonst würde es zu schnell auffallen.

"Und welches Wort wäre das?", fragte Dr. Allison gereizt.

Elli zuckte entschuldigend mit den Schultern.

"Darauf weiß ich leider keine Antwort, aber ich denke, wenn wir die Umgebung des Schaltkastens absuchen, finden wir bestimmt irgendwo den versteckten Jammer."

"Ach wirklich? Kaum frage ich nach dem Logikfehler, weichen Sie aus. Ganz klassisch. Der Jammer könnte auch einfach von Shaw deponiert worden sein, ohne meine Aufforderung."

"Richtig, aber dann können wir wenigstens Hilfe rufen", erwiderte Elli.

Chloe, die der ganzen Unterhaltung bisher stumm beigewohnt hatte, kam plötzlich ein Geistesblitz. Hatte sie nicht schonmal sowas beobachtet?

Sie holte tief Luft.

"DAMOKLES!“

Die Gesichtszüge von Ms Macintosh, Ms Pukui, Mr Shaw und Mr Hayden schliefen schlagartig ein und sie stellten sich unnatürlich gerade hin.

Die anderen Anwesenden starrten die Cyborgs verdutzt an, sogar Dean zeigte Anzeichen von Erstaunen. Elli zog belustigt eine Augenbraue hoch und applaudierte Chloe per Flachhandklatschen aus dem Handgelenk.

Dr. Allison war leichenblass geworden. Stumm wollte er sich in Bewegung setzen, aber Dean stellte sich ihm in den Weg. Die Exoskelettbesitzer kamen derweil wieder zu sich und quittierten die Entwicklung mit einem verwirrten Blick, bevor sie merkten, was passiert war. Es wurde absolut still.

"Warum, Doktor?", fragte Mr Ward mit zittriger Stimme. "Was hat meine Frau ihnen angetan?"
Der Chirurg sagte nichts.

"Um durch die Angst genug Menschen und vor allem Reiche in ein Marionettenskelett zu verfrachten, um die Finanzwelt kontrollieren zu können oder wenigstens die der Westküste", erklärte Elli stattdessen mit ausdruckslosem Gesicht.

Der Doktor drehte sich ertappt zu ihr um. Er sagte zwar nichts, aber in seinen Augen stand groß und deutlich "Wie?".

Elli runzelte die Stirn.

"Ich hab Recht? Kommen Sie, Sie haben Hayden vielleicht eingeredet, dass er Sie für einen Urlaub hierher mitnimmt, aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet drei andere von Ihnen präparierte Patienten hier sein würden? Das sind doch nicht die einzigen vier hier, oder?"

Dr. Allisons Unterlippe zuckte.


Wie vorausgesagt fand man auf dem Rahmen der Tür zum Überwachungsraum einen zuckerwürfelgroßen, aber trotzdem extrem starken Jammer, nach dessen Deaktivierung sofort die Polizei informiert wurde. Ein Krankenwagen kam zwar, aber den Opfern war nicht mehr zu helfen, als sich um sieben Uhr früh die Abriegelung selbstständig aufhob. Dr. Allison wurde festgenommen und das Hotel musste sich einige unangenehme Fragen zu seinem Sicherheitssystem gefallen lassen. Anderson Robotics wurde von dem Pfusch an seinen Kunden benachrichtigt und erbat umgehend, diesen Fehler beheben zu dürfen. Die Ermittler hatten aber trotz der erdrückenden Beweislast mit einigen Ungereimtheiten zu kämpfen. Die Überlebenden berichteten nämlich, dass der Täter von einer blonden Frau identifiziert worden war, begleitet von einem hochgewachsenen Mann und einem Kind. Aber die waren nicht da gewesen, als die Abriegelung aufgehoben wurde.


"Hätten wir nicht noch unsere Aussage machen sollen?", fragte Dean, als sie in den Nexus zurückkehrten. Er trug Chloe in den Armen. Sie war nach der ganzen Aufregung schließlich eingenickt und hatte sich nicht mehr wecken lassen. Der ganze Vorfall hatte sie wohl unter extremen Stress gestellt, der nun wieder von ihr abfiel.

Sie landeten in der Eingangshalle von Ellis Villa.

"Wir waren illegal in den USA, Dean", erwiderte Elli. "Erklär mal den Behörden, dass Chloe ins Deutschland des 21. Jahrhunderts zurückmuss."

Dean antwortete nichts.

"Mal sehen, bei Chloe ist Samstag und ich hab sie ungefähr um sechs abgeholt", überlegte Elli. "Wenn ich sie um sieben wiederbringe, sollte das reichen, meinst du nicht?"

Dean sagte wieder nichts.

"Was meinst du wo wir sie nächstes Mal hin mitnehmen sollten?", fragte Elli.

"Nächstes Mal?", echote Dean.

Er bekam es trotz seiner monotonen Aussprache hin, empört zu klingen. "Elli, wann auch immer du und Chloe zusammenkommen, schwebt ihr beide in Gefahr. Bei unserem ersten Treffen, in Paris und dieses Mal hast du dich sogar fahrlässig betrunken. Wäre ich nicht gewesen, hättest du dieses Verbrechen nicht rechtzeitig aufklären können bevor Schlimmeres passiert wäre. Wer weiß, wann einer der Gäste ausgerastet wäre."

"Die zwei Letzteren waren Zufälle", verteidigte sich Elli. "Denkst du, ich bringe Chloe absichtlich in solche Situationen?"

"Nein, aber wir beide wissen, dass du Ärger anziehst wie ein Neodymmagnet", erwiderte Dean. "Ich begleite dich seit exakt dreihundertfünfundsechzig Jahren, fünf Monaten, zwei Wochen, drei Tagen, zwanzig Stunden, zwölf Minuten und jetzt genau vierzig Sekunden und ich habe nicht einmal erlebt, dass wir nicht in irgendeinen Schlamassel geraten wären, wenn du den Nexus für mehr als fünf Stunden verlassen hast. Muss Chloe die wirklich mit ausbaden?"

Elli wollte etwas erwidern, klappte aber dann betroffen den Mund zu.

Dann begann sie zu grinsen.

"Deine fünf Stunden basieren auf Fakten, oder?", fragte sie.

"Ja natürlich, denkst du, ich- Nein, Elli, keine Experimente! Lass Chloe einen ruhigen Lebensabend haben, ohne deine Sperenzchen."

"Experimente folgen ohne Chloe", erklärte Elli, immer noch grinsend. "Und sobald wir sicher sind, weiß ich schon, wohin ich Chloe mitnehme. Aber jetzt-"

Vor ihnen öffnete sich ein schwarzes Portal und nahm die Dimensionen von Chloes Kleiderschranktür an.

"-bringen wir sie erstmal nach Hause."


Unbemerkt von weder Elli noch Dean irrte Chloe durch ihren lichtlosen Traum, umgeben von dem riesigen toten Ding, das nach und nach begann zu erwachen …

Das nächste Mal bei Nexus:
Gnadenloses Eis, Teil 1

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