Das letzte Mal bei Nexus:
Der Bessere Mensch? Teil 3
USA, Honolulu, 2132
Hawaii ist von jeher ein Ort, der für seine Schönheit gepriesen wird. Seine warmen Temperaturen und weißen Strände ziehen ganzjährig abertausende Touristen an, die sich auf den Inseln eine schöne Zeit machen.
Das trifft auch im Jahre 2132 immer noch zu. Vor allem im Stadtteil Waikīkī in Honolulu. In den Hotels, die sich am Strand hier angesiedelt haben, verkehren zumeist die Reichen und Schönen, um die Sonne zu genießen.
Nun, wenn man Chloe fragte, hauptsächlich die Reichen, auch wenn sie das nie offen zugegeben hätte.
Bei ihr zu Hause war gerade ziemlich feuchter November, darum fand sie es umso erstaunlicher, dass sie hier in ihrem weißen Sommerkleid und mit einem Sonnenhut rumlief.
"Ich finde es toll, dass du nochmal mitgekommen bist", sagte Elli und nippte an ihren Cocktail.
Heute hatte sie komplett auf ein Hemd verzichtet und trug ein blaues Bikinioberteil zu Hotpants. Dazu kam eine Sonnenbrille, die sie im Moment hochgeschoben hatte. Chloe hatte das Outfit anfangs die Schamesröte ins Gesicht getrieben, aber inzwischen kam sie etwas besser damit zurecht. Zumal sie mit Dean einen Leidensgenossen hatte. Er hatte Ellis Aufmachung mit mehreren Beschwerden und Augenrollen quittiert. Vermutlich um Ellis leichte Bekleidung auszugleichen, trug er ein mit Palmen geschmücktes, blaues Hawaii-Hemd, ein blau-weißes Base-Cap und weiße Sommerhosen, die ihm bis über die Knie gingen.
"Naja, das letzte Mal war etwas unglücklich", winkte Chloe ab, ohne Elli direkt anzusehen. Ihr eigentlicher Grund hatte darin bestanden, dass Elli den Eindruck gemacht hatte in Depressionen zu verfallen, hätte sie abgelehnt. Außerdem hatte ihr Elli versichert, dass sie Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte.
Seit ihrem Abenteuer im Paris des 19. Jahrhunderts waren vier Tage vergangen. Das Weiß in Chloes Haaren hatte sich in dieser Zeit etwas weiter vorgearbeitet und im Moment kurierte sie ein paar blaue Flecken aus, die sie sich beim Herunterfallen von einer Treppe zugezogen hatte. Entsprechend mies gelaunt war sie gewesen als Elli erschien, aber zu dem Gesicht hatte sie einfach nicht nein sagen können.
Und der Platz hier war gar nicht so schlecht. Sie saßen vor einer protzigen Bar mit Blick auf den Strand und die Badegäste, welche Elli ausgiebig beäugte. Sie hatte sich einen bernsteinfarbenen Cocktail bestellt und Chloe arbeitete sich durch ein Eis. Dean hatte sich nichts bringen lassen und betrachtete die Umgebung argwöhnisch. Vermutlich hatte er sich sein letztes Versagen Chloe zu beschützen zu sehr zu Herzen genommen.
"Was waren das eigentlich für Sicherheitsmaßnahmen?", fragte Chloe. "Bitte sag mir nicht, dass da über uns eine Orbitalkanone oder so schwebt."
Elli kicherte kurz.
"Nein, wesentlich eleganter. Hier kannst du nicht sterben."
Chloe starrte sie kurz an.
"Wie bitte?"
"Nein wirklich", bestätigte Elli. "Irgendein Vollidiot hat es hinbekommen hier den Tod außer Kraft zu setzen. Nichts stirbt hier mehr, vorausgesetzt es hat ein Hirn. Nichtmal die Mücken."
Chloe war kurz still, während ihr Hirn ratterte und ihr dann mit einem metaphorischen "Ding!" die Implikationen dieses Umstands vorlegte.
"Mo-Mo-Mo-Moment! Dann müsste es doch eine gewaltige Überbevölkerung geben. Und die ganzen Insekten erst."
Elli nickte anerkennend.
"Korrekt. Aber dem ist nicht so. Ich weiß auch nicht genau, wie es angestellt wurde, aber offenbar konnten jede Menge Tiere und Menschen sterilisiert werden, bevor es Probleme gab. Sogar rückwirkend, als wäre der Terminator in der Zeit zurückgereist, um John Connor abzutreiben. Verstehst du, was ich meine?
"Soll das heißen, Leute wurden so sterilisiert, dass sie schon immer steril waren?"
Elli nickte.
"Aber warum wurden sie dann sterilisiert, wenn sie doch nicht mehr zu sterilisieren sind? Wie-"
"Das ist ein kausales Paradoxon", unterbrach sie Elli. "Das Multiversum hat Mittel und Wege solchen "Bugs" aus dem Weg zu gehen, aber diese Erklärung gehört nicht hierher."
Damit gab sich Chloe zufrieden.
"Also, wie läuft das hier? Heilt man, wenn man ein Messer in den Bauch kriegt oder wie läuft das?"
"Ganz falsch", winkte Elli mit einem traurigen Lächeln ab. "Alles ist wie immer. Du musst ins Krankenhaus, du wirst krank und du alterst. Nur sterben tut man hier nicht. Für uns ist das ziemlich praktisch, dank Panazee."
Chloe schaute sich stirnrunzelnd um.
"Müssten dann hier nicht ein Haufen uralte Leute rumlaufen?"
Elli nippte kurz an ihrem Cocktail.
"Nö. Nachdem hier vor über hundert Jahren die Leute aufhörten zu sterben, sind sie ziemlich kreativ geworden. Irgendwelche reichen Pinkel haben zum Beispiel eine Pille erfunden, die dich in ein ewiges Koma schickt, aber die ist extrem teuer. Was leider sehr weit verbreitet ist, ist die sogenannte Vollkörpertransplantation."
"Was soll das sein?"
"Ganz einfach, man nimmt den Leuten das Hirn raus und setzt es in einen anderen Körper ein."
Erneut musste Chloe kurz überlegen.
"Aber wenn keiner mehr stirbt, wo kommen dann die Spenderkörper her? Kann man klonen?"
Elli nahm dieses Mal einen etwas größeren Schluck von ihrem Cocktail.
"Das ist, was die Leute glauben sollen. Die Wahrheit ist weit weniger schön. Sie werden gestohlen. Arme Leute, Niemande, Leute die niemand vermisst. Alles fernab von jeglicher Gesetzestreue, aber niemand beschwert sich. Die Kunden am allerwenigsten. Und wie auch, Sie wissen ja nicht mal, wo die Ware eigentlich herkommt. Hier kommt der zweite Teil meiner Sicherheitsvorkehrungen ins Spiel. Diese Gegend hier."
"Du meinst in einer reichen Gegend gibt es weniger Entführungen?", fragte Chloe.
"In reichen Gegenden gibt es allgemein weniger Kriminalität", schaltete sich Dean ein. "Aber du musst dir sowieso keine Sorgen machen, Chloe. Du bist für solche Räuber uninteressant, weil dein Schädel noch zu klein ist, um das Hirn eines Erwachsenen reinzustecken. Elli zum Beispiel sollte sich hüten, sowas haben die Käufer gern, aber nein, natürlich stellt sie die ganze Auslegware zur Schau. Typisch …"
"Hier passiert schon nichts", wiegelte die Gescholtene ab. "Mir am allerwenigsten, ich habe meine Bratpfanne. Aber mal ernsthaft, es gibt wesentlich bessere Methoden, um diesem Mist zu entgehen, schau dir zum Beispiel die Frau da drüben an."
Chloe schaute in die Richtung, in die Elli nickte, und sah eine junge Frau, die vermutlich als Supermodel durchgegangen wäre. Sie besaß braune Haut und gelbe Highlights im schwarzen Haar.
"Das, Chloe, ist ein Cyborg", erklärte Elli. "Man hat das Gehirn einfach in einen Roboter gepflanzt. Erkennt man am Gesicht. Zu makellos, zu symmetrisch."
Chloe runzelte die Stirn.
"Aber sie sieht wie ein normaler Mensch aus."
"Daran kannst du erkennen, wie viel Arbeit da reingesteckt wurde. Hey, wenn du aufgegessen hast, lass uns an den Strand gehen. Ich hab bestimmt noch einen Bikin-"
Dean räusperte sich vernehmlich.
"Badeanzug rumliegen, den ich dir überlassen kann", korrigierte sich Elli.
Dean legte eine seiner Hände auf Ellis Kopf. Da sie so groß war, wirkte es, als würde Elli eine Mütze tragen. Eine, die ihr aber jeden Moment den Schädel quetschen würde …
"Und was gedenkst du zu tragen, Elli, gegeben unserer jungen Begleitung?", raunte er und wirkte dabei wie ein Lehrer, der den Grund hören wollte, warum die Hausaufgaben nicht gemacht worden waren.
"Den hier, den ich schon anhabe mit dem entsprechenden Gegenstück", entgegnete Elli, ohne den Kopf zu drehen. "Mach du dir da keine Gedanken, der verdeckt noch genug um sogar dich zufrieden zu stellen, wirklich, ganz ehrlich."
Chloe gab zu, dass es sehr warm war, aber sie hatte das Gefühl, dass Elli nicht nur aufgrund der Temperaturen ins Schwitzen geriet.
Deans Einwurf war berechtigt gewesen, denn Chloe hatte nach einem kurzen Abstecher in den Nexus festgestellt, dass Elli in Bezug auf Bademode einen eher sparsamen Geschmack besaß. Entsprechend dauerte es eine Weile, bis Elli in ihren Myriaden von Kleiderschränken einen modernen Badeanzug fand, den Dean abnickte. Es war ein schlichter, azurblauer Anzug für Freizeitwassersport, aber Chloe beklagte sich ob der Alternativen nicht.
Am Strand zeigte Elli einen interessanten, vermutlich durch ihren Alkoholpegel beeinflussten Schwimmstil, der sie in erratischen Schlangenlinien durch das Wasser trieb, aber komischerweise schaffte sie es immer über Wasser zu bleiben, selbst wenn eine Welle beschloss, über ihr zusammenzubrechen. Chloe traute sich wegen der hohen Wellen nicht sehr weit hinein und beobachtete die Surfer, die mit ihnen offenbar viel Spaß zu haben schienen. Dean ging erst gar nicht ins Wasser, wechselte dementsprechend nicht die Kleidung und bewachte stattdessen ihren Liegeplatz. Als Elli und Chloe später zurückkehrten, befand sich daneben eine beindruckende Sandburg. Dean hatte zu diesem Zeitpunkt gerade an einem Wall um die Stranddecke herum gearbeitet.
Obwohl Hawaii eigentlich für seine Ruhe bekannt ist, war es dort ziemlich laut. So empfahl Elli nach dem Ende eines ausgiebigen Schaufensterbummels schließlich, zum Abendessen und Abschluss des Tages in eine kleine Herberge am Rand der Stadt oben auf den Bergen einzukehren. Es hieß, dort sei der Sonnenuntergang sehr schön zu bewundern.
"Klein", bedeutet in diesem Fall, dass es sich um ein vierstöckiges Haus an einer kleinen Klippe handelte. Es schien relativ modern zu sein. Der angrenzende Poolbereich stach besonders hervor, da er nur vom Haus aus zugänglich war. Die restlichen Seiten wurden von einem Zaun und dahinter den Klippen begrenzt. Die weißen Hauswände leuchteten im Orange der Abendsonne.
"Das ist ein Geheimtipp unter den Reichen", erklärte Elli, als sie den protzigen Empfangsraum betraten. Überall gab es weißen Marmor und Blattgold.
Es gab einen Tisch vor der Tür zum Rest des Gebäudes, der aber nicht von einem Portier besetzt war. Das musste er auch nicht, denn ein extrem alt aussehender Mann, dessen faltige Haut offenbar mit aller Mühe versuchte, mit seinem Skelett möglichst viel Berührungskontakt herzustellen, wackelte ihnen entgegen. Er trug eine schicke grüne Hoteluniform und verbeugte sich ansatzweise vor dem Trio.
"Guten Abend, die Herrschaften. Hatten sie bestellt?", fragte er mit einer asthmatisch klingenden Stimme.
Bei seinen Lippenbewegungen konnte festgestellt werden, dass er seine Zahnprothesen tipptopp in Schuss hielt.
"Auf den Namen Hunter, ja", bestätigte Elli. "Wir sind nur zum Essen hier."
Der Greis watschelte zum Portiertisch und schlug kurz in einem Buch nach, das darauf lag.
"Ah, Hunter, hier. Meine Güte, sie haben bei der Eröffnung vor fünf Jahren im Voraus nur für einen Tisch heute Abend bestellt?"
"Mein Herr, Sie haben keine Ahnung, was für eine Geduld ich haben kann", erwiderte Elli nur.
"Henry. Nennen sie mich Henry", bat der alte Mann und bedeute ihnen einzutreten.
Elli tat wie geheißen und schnippte dem Mann im Vorbeigehen eine Münze zu.
Dean trat mit hochgezogenen Augenbrauen an ihn heran.
"Sie lassen sie in dem Aufzug rein?", fragte er und deute auf Elli, die nach ihrem Strandbesuch wieder in ihre Bikini-Top-Hotpants-Kombo geschlüpft war.
Der Greis winkte dreckig grinsend ab.
"Wir sind heute in relativ kleiner Gesellschaft. Alles Neukunden. Ich denke ihre Begleiterin könnte einige von ihnen animieren nochmal herzukommen, wenn sie verstehen was ich meine."
"Ein richtiges PR-Genie", kommentierte Dean trocken. "Jetzt mal im Ernst, wie alt sind Sie, dass Sie noch auf solche Ideen kommen?"
"Ich bin hundertvierundsechzig", antwortete Henry, während er Dean und Chloe in ein großes und festlich eingerichtetes Restaurant führte. Im vorderen Teil gab es einige Sofas an Marmortischen, im hinteren Bereich die klassischen Stuhl-Tisch-Arrangements.
"Sind Sie noch original?", fragte Dean weiter. "Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen zu nahe trete, aber die Leute, die mal sterblich waren, faszinieren mich. Ich bin selbst erst vor achtundzwanzig Jahren auf die Welt gekommen."
"Oh, kein Problem, es ist gut, wenn sich die nächste Generation für Geschichte interessiert. Ich bin noch immer in meinem alten Körper, aber ich spare auf einen neuen. Keine Vollkörpertransplantation, so einen Roboterkörper, wissen Sie, was ich meine?"
Dean nickte, während er sich an den ihrer Gruppe zugewiesenen, kunstvoll mit allerlei Besteck und Seidentüchern drapierten Tisch setzte. Dieser befand sich vor einem Panoramafenster mit Blick auf Honolulu und das Meer dahinter.
"Schon", bestätigte Dean. "Irgendwelche besonderen Gründe? Diese Prothesen sollen ein paar Mankos haben."
Henry zuckte mit den Schultern.
"Keine mit denen ich nicht klar käme. Normale Körper sind zwar etwas billiger, aber man braucht ständig neue. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich bringe Ihnen die Karten."
Der Bedienstete entfernte sich mit kleinen, dribbelnden Schritten.
"Was für Nachteile soll denn ein Maschinenkörper haben? ", fragte Chloe. "Können sie nicht fühlen?"
"Soweit ich weiß, haben sie ein Problem mit Dopamin", erklärte Elli. "Bringt Chaos in die Verbindung zwischen Hirn und Körper. Das zwingt die Betroffenen im Prinzip dazu, alles zu unterlassen, was Spaß machen könnte. Designfehler, wenn du mich fragst."
"Erlauben Sie mir, Sie zu korrigieren", erklang eine Stimme hinter Elli.
Sie gehörte der Frau die Elli Chloe vor einigen Stunden gezeigt hatte, der mit den gelben Highlights im schwarzen Haar. Sie trug ein gelbes, ärmelloses Hemd und blasse Jeans zu Sandalen. Und lächelte ein strahlendes Lächeln.
"Bitte entschuldigen Sie, aber ich konnte ihr Gespräch nicht überhören. Mit den Exoskeletten kann man durchaus noch Spaß haben. Nur nicht mehr so viel wie mit einem Körper aus Fleisch und Blut. Ich weiß, wovon ich rede."
Elli drehte sich interessiert um.
"Kein Problem. Mein Name ist übrigens Elli, das sind Chloe und Dean. Wir sind die Hunters. Wie funktioniert das? Geht da eine Spaßbremse an, wenn Sie sich zu sehr amüsieren?"
"Hope Macintosh, freut mich sehr. Und nein, wir werden dann einfach schwerfällig und gefühlstaub. Sicheres Zeichen für zu viel Dopamin."
"Das heißt kein Extremsport mehr. Oder Schokolade. Oder Sex", kam es von der zweiten Person am Nebentisch, einem Mann mit zurückgekämmtem, offensichtlich schwarz gefärbtem Haar und ähnlich koloriertem Gewerkschafterbart. Seine Kleidung bestand aus einem teuer aussehenden, grauen Hemd und gleichfarbigen Jeans, die wahrscheinlich auch nicht billig gewesen waren. Allgemein umgab den Mann eine Aura, die verriet, dass er mehr Geld hatte, als gut für ihn war.
"Robert, mein Bruder", erklärte Ms Macintosh augenverdrehend.
"Tag auch", grüßte der Erwähnte.
"Er hat einen eher derben Humor", raunte Ms Macintosh Elli zu.
"Ich hatte da so ein Gefühl", raunte sie zurück. "Er scheint nicht wirklich mit ihrer Wahl einverstanden zu sein, oder?"
"Vermutlich, aber immer noch besser als diese Transplantation, wenn Sie mich fragen. Das ist sein vierter Körper mittlerweile. Wird jedes Mal schlimmer mit seinen Beschwerden."
Chloe stellten sich ob der Implikationen die Nackenhaare auf.
"Ouh, da entwickelt sich was zwischen uns", frohlockte Elli, von diesen Fakten scheinbar völlig unberührt. "Lass uns nachher an die Bar gehen."
"Gern, aber ich fürchte, ich werde mich nicht so sehr reinhängen kön- Dr. Allison!"
Alle sahen auf, um den etwas dicklichen Mann mit dem ergrautem Haar, weißen Hemd und der braunen Cordhose in Augenschein zu nehmen, der gerade an den Tischen vorbeilief. Er rückte seine große Brille zurecht, um diejenige, die ihn angesprochen hatte, in Augenschein zu nehmen.
Es dauerte kurz, bis er sprach.
"Ah, Ms Macintosh, Sie müssen entschuldigen, ich habe Sie mit ihren Haaren nicht sofort erkannt. Alles gut bei Ihnen?"
Chloe bekam den Eindruck, dass auf Hawaii jeder jeden kannte …
"Naja, wir sprachen gerade schon von dem Dopaminlimit, aber nichts ist perfekt, nicht wahr?", gab Ms Macintosh zurück. "Sind sie allein hier?"
Dr. Allison schüttelte lächelnd den Kopf.
"Oh nein, ich habe eine Reise spendiert bekommen, um hier einen Patienten zu beaufsichtigen, muss sich noch an sein Exoskelett gewöhnen, Sie verstehen?"
"Er ist der Chirurg, der mir meinen Körper gegeben hat", erklärte Ms Macintosh Elli und ihren Begleitern, die das Ganze bisher mit mäßiger Verwirrung verfolgt hatten. Sie quittierten die Erläuterung mit Blicken des Verstehens.
"Vielleicht könnten sie sich mal mit meinem Kunden auseinandersetzen?", fragte der Doktor. "Ich bin sicher, dass er einen Erfahrungsbericht zu schätzen weiß. AARON?"
Von der anderen Seite des Restaurants wurden Schritte laut und vier Personen kamen zu den Tischen. Zwei davon waren Frauen in ihren Dreißigern mit braunem Haar, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatten. Die Gesichtszüge waren ähnlich, wie die von Schwestern. Beide trugen hautenge blaue Jeans, die eine rosafarbene Bluse, die andere ein weites graues Shirt. Chloe konnte mit Grausen kurz unter ihrem Haaransatz eine blasse Narbe erkennen, die von Chirurgie herrühren musste. Der Dritte im Bunde war ein weißhaariger, älterer Mann mit Backenbart, der sich auf einen Gehstock stützte. Seine Aufmachung war ähnlich wie die von Dean, weite weiße Hosen und ein gelbes Hawaiihemd, beide mit Palmenmuster. Er warf Dean einen belustigten Blick zu, den dieser mit einem Lächeln und einem Schulterzucken quittierte.
Der Vierte war, so vermutete Chloe, Aaron, denn er sah zu perfekt aus. Er machte den Eindruck als wäre er ungefähr vierzig, mit dunkelbraunem Haar und Falten im Gesicht, die eher dekorativer Natur zu sein schienen als natürlich entstanden. Er hatte ein grünes Polohemd und kurze, grau-grüne Hosen. Außerdem trug er weiße Socken zu hellbraunen Sandalen.
"Die Haydens und die Wards", stellte Doktor Allison vor.
Dann wandte er sich direkt an Aaron.
"Das hier ist Hope Macintosh", erklärte er. "Sie hat auch ein Exoskelett, Mr Hayden. Ich dachte ein Erfahrungsaustausch könnte Ihre Gewöhnung beschleunigen. Das da ist übrigens ihr Bruder."
"Sehr erfreut", erwiderte der Patient mit einer angedeuteten Verbeugung. " Wenn ich kurz vorstellen darf, das hier ist Sabrina, meine Frau."
Er deutete dabei auf die Frau mit dem grauen Shirt.
"Und wir sind George und Jennifer Ward", beendete der ältere Mann die Runde.
Er wandte sich fragend an Dean.
"Und ihr seid?"
Dean klappte den Mund auf, um die Frage zu beantworten, aber Elli kam ihm zuvor.
"Wir sind die Hunters, Chloe, Elli, Dean. Hallöchen."
Dean verdrehte die Augen.
"Reisen Sie zusammen mit den Macintoshs?", fragte Mr Hayden.
"Nein, haben uns gerade erst kennen gelernt", entgegnete Elli lächelnd.
"Soll ich ein paar Tische zusammenrücken? ", erklang es hilfsbereit hinter den Wards.
Gleich darauf umkurvte Henry die Stehenden, um Elli, Chloe und Dean ihre Karten zu bringen.
"Uns macht das nichts aus. Ihr seid heute Abend die Einzigen hier", versicherte er, während er seine Mitbringsel verteilte.
"Warum eigentlich nicht?", meinte Mrs Hayden.
Sie hatte eine hohe, quietschende Stimme, die Chloe wie Sandpapier über das Hirn raspelte.
"Mehr Leute, mehr Vergnügen. "
Die anderen Anwesenden nickten zustimmend, woraufhin jede Menge Möbelstücke bewegt wurden, bis eine große Tafelrunde entstand. Henry verteilte danach die Speisekarten an die restlichen Anwesenden.
Chloe für ihren Teil war erstaunt darüber, wie schnell die Leute hier eine freundschaftliche Basis erlangt hatten. Sie schob diesen Umstand nach einigem Nachdenken auf amerikanische Mentalität und Dinge, die die Reichen eben so machten … Apropos Reiche, es entstanden mehrere Gespräche am Tisch, die Chloe für das finanzielle Gewicht der Redenden ziemlich gewöhnlich vorkamen.
"Was machen Sie eigentlich beruflich?", fragte Mr Hayden in diesem Moment Ms Macintosh.
Die beiden Cyborgs hatten sich auf Dr. Allisons Anraten nebeneinander gesetzt, um leichter miteinander reden zu können.
"Maschinenteile" lautete Ms Macintoshs kurze Antwort. "Ich und mein Bruder führen ein Unternehmen, das die gesamte Westküste beliefert. Was machen Sie so?"
"Ich bin Banker, Bank of America. Nettes Büro in Los Angeles. Falls Sie irgendwann expandieren wollen, könnte ich …"
Chloe stufte das Gespräch als langweilig ein und wandte ihre Aufmerksamkeit Elli zu, die sich mit den beiden anderen Frauen unterhielt.
"Bezüglich eurer Körper, seid ihr miteinander verwandt?"
Die Damen kicherten kurz.
"Allerdings, wir sind Schwestern, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten geboren", bestätigte dann Mrs Hayden. "Darum waren wir sehr froh, dass es ein paar Körper gab, mit denen wir das weiterhin zeigen konnten. Warum fragen Sie?"
"Reine Neugierde", kam es von Elli. "Wie sind Sie denn auf dieses Hotel gekommen?"
"Durch Dr. Allison. Er sagte, er habe den Tipp von einem seiner ehemaligen Patienten bekommen, der hier jetzt als Koch arbeitet. Und ich glaube, einer vom Sicherheitspersonal ist auch unter sein Messer gekommen."
Elli zog eine Augenbraue hoch.
"Der Mann hat hier in Hawaii ziemlich viel Kundschaft, dafür dass er Tourist ist."
"Hier auf Hawaii gibt es kein Labor, in dem man sich umwandeln lassen kann", erklärte Mrs Ward. "Wenn man hier einen haben möchte, muss man nach San Francisco."
"Verstehe", sagte Elli. "Aber zurück zu dem Koch. Ist das nicht, äh, tödlich? Ich hab gehört, dass diese Exoskelette schon bei der Einnahme von leckerem Essen überlasten können."
Die Schwestern zuckten synchron mit den Schultern.
"Vermutlich kommt weniger Freude auf, wenn man es nicht aufessen darf", mutmaßte Mrs Ward.
"Wie kommt es eigentlich, dass sich der Mann ein solches Exoskelett leisten kann?", fragte Elli mit einem Seitenblick auf Mr Hayden. "Die sind immerhin nicht gerade billig."
"Er ist Banker. Mein Mann ist übrigens in der Pharmazie tätig. Heute gefragter denn je" erklärte Mrs Ward.
Chloe hörte gerade lange genug weg um zu hören, wie sich Dean und Mr Ward über Schummeltricks beim Pokern austauschten. Dann beschloss sie, lieber dort zuzuhören.
Die nächsten zwei Stunden waren wenig ereignisreich. Essen und Getränke wurden bestellt und serviert. Dr. Allison verabschiedete sich zwischendurch auf’s Klo, Ms Macintosh erhielt einen Anruf und verließ später den Tisch zusammen mit Mrs Hayden ebenfalls in Richtung Klo, kurz darauf folgte ihr Bruder. Elli derweil bändelte mit dem außerhalb von Gesprächen eher stillen Mr Ward an und verabschiedete sich zusammen mit ihm zur Bar, wo dann auch Mrs Macintosh wieder zu ihnen stieß. Elli begann daraufhin etwas, das Chloe im Nachhinein nur als Saufgelage beschreiben konnte.
"Bestimmt langweilig so als einziges Kind hier", merkte Mrs Ward trocken von der Seite an.
Chloe zuckte kurz zusammen.
"Tschuldige, aber du sahst so ausgeklammert aus. Deine Mutter hätte vielleicht einen besseren Laden aussuchen sollen."
Chloe holte kurz Luft, um die Frau zu korrigieren, überlegte es sich aber dann anders. Die Wahrheit warf bei Außenstehenden sicherlich einige Fragen auf und Chloe war sich nicht sicher, ob sie eine passende Lüge erfinden konnte. Als Antwort zuckte sie daher nur mit den Schultern.
"Wer weiß, könnte schlimmer sein."
"Durchaus. Was ist eigentlich mit deinem Dad los? Den ganzen Abend hat er weder gegessen noch getrunken.
"Er hat eine Wette verloren", log Chloe hastig, obwohl sie sich in diesem Zusammenhang ebenfalls zu fragen begann, warum sie Dean noch nie etwas hatte essen oder trinken sehen.
"Merkwürdiger Wetteinsatz. Sag mal, hast du meine Schwester in letzter Zeit irgendwo gesehen? Also Mrs Hayden?"
Chloe schüttelte den Kopf.
Mrs Ward griff stirnrunzelnd nach ihrem Glas, schätzte die Entfernung aber falsch ein und warf mit der Rückhand ihren Wein um, der sofort Kurs auf Chloes Kleid nahm und sein Ziel zu großen Teilen erreichte …
"Oh, das tut mir leid", kam es apologetisch von der Frau, die noch nach einer Serviette langen wollte, bevor sie merkte, dass ihr Unternehmen sinnlos war.
"Nicht so schlimm", versuchte Chloe sie zu beschwichtigen. "Ist doch nichts passiert."
"Nichts passiert?", echote Mrs Ward. "Kind, ich hab dein Kleid ruiniert!"
"Das krieg ich schon wieder sauber, kein Problem", versuchte es Chloe weiter. "Ich gehe mal auf die Toilette und schau, was sich machen lässt."
Mrs Hayden schaute ihr skeptisch nach, während sie aufstand, um ihre Ankündigung wahr zu machen. Noch während sie zur Tür schritt, merkte sie, dass ein großer Schatten auf sie fiel. Dean lief hinter ihr und sah recht grimmig aus.
"Rotweinflecken … Wenn ich mich Recht entsinne, bekommt man die in deiner Zeit nie wieder raus."
"Aber in einer anderen schon?", fragte Chloe hoffnungsvoll.
Dean zog ein kleines schwarzes Fläschchen mit einer unbekannten Schrift aus der Tasche. Ihr Übersetzungspflaster übersetzte sie als "Udul".
"Allerdings", bestätigte Dean ihre Frage. "Das hier ist Udul, einer der besten Fleckenentferner im Multiversum, für Stoff, Metall und so ziemlich alle anderen Materialien. Ich hab zur Sicherheit immer ein Fläschchen dabei, seit Elli es geschafft hat auf die englischen Kronjuwelen zu kotzen."
"Sie hat was?", fragte Chloe ungläubig.
"Sie hatte sich zusammen mit Königin Viktoria I betrunken, war in einem Universum, wo sich rot als Haarfarbe nie durchgesetzt hat."
Chloe dachte darüber nach, wie Elli überhaupt in diese Situation gekommen sein konnte, bis sie die Toilettenräume erreichte. Dean baute sich bedeutungsvoll an der Wand gegenüber der Tür zum Damenklo neben einer Tür auf, auf der "Nur für Mitarbeiter" geschrieben stand.
"Ich warte hier. Ein paar Tropfen auf die Flecken und mit Wasser verreiben. Das sollte reichen."
Chloe nickte und nahm die Udulflasche mit in die Sanitäreinrichtung. Tatsächlich wirkte das Zeug wie ein Tintenkiller auf die Rotweinflecken und Chloes Kleid war im Handumdrehen wieder sauber. Während sie das Wunderwerk im Spiegel betrachtete, fiel ihr aus den Augenwinkeln noch etwas Rotes auf. Ihr Hirn schloss natürlich zuerst auf Rotwein, bevor es sich nach einem Sekundenbruchteil korrigierte, da das Rot nicht auf Chloes Kleidung, sondern auf dem Boden hinter ihr zu sehen war. Und dann bemerkte Chloe mit aschfahlem Gesicht, dass das Rot floss.
Aus einer Toilettenkabine trat ein Strom roter Flüssigkeit hervor, die sich nach und nach ihren Weg über die Fliesen bahnte.
Chloe wurde einem Paar Beinen gewahr, die darauf hinwiesen, dass jemand auf der Toilette saß. Die Tür war zu, aber nicht verschlossen …
"Ha-hallo?", fragte Chloe.
Keine Antwort.
Langsam näherte sie sich der Tür. Sie war derart angespannt, dass es ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkam, bis sie der Tür einen etwas zu energischen Schubs gab. Sie schwang leise knarrend auf und knallte gegen die Kabinenwand.
Und Chloe begann vor Schock zu schreien.
Das nächste Mal bei Nexus:
Der Mörder der Unsterblichen, Teil 2