Abschied, Teil 3

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Das letzte Mal bei Nexus:
Abschied, Teil 2

Elli hackte auf die Tasten ein wie im Fieber, während im ganzen technologisierten Corbenic nach und nach das Chaos ausbrach. Natürlich hatten die anderen Rechenzentren, auf die HUB 1 zugegriffen hatte, versucht, die Verbindung zu unterbrechen, aber ihre Schadsoftware war zu schnell. Zuerst hatte sich Elli die gesamte Rechenkraft der drei Monde einverleibt und in Folge dessen das Leben auf ihnen fast vollständig zum Erliegen gebracht. Lediglich die Telefonleitungen ließ sie in Ruhe, denn sie erwartete einen Anruf. Sie hatte ihre Nummer zur Undurchdringlichen hochgesendet.

Draußen versuchten Teams der Three Moons Initiative, zu ihnen vorzudringen, wurden jedoch vom Sicherheitssystem aufgehalten, dass sich jetzt voll in Ellis Hand befand. Sie schätzte, dass sie etwa drei Stunden hatten, bevor es jemand schaffte, ein Loch in das Schott zum Serverraum zu brennen, aber da würde es längst zu spät sein.

Es war längst zu spät.

Mehr und mehr Elektronik in der Welt wurde Teil ihres gewaltigen Zombie-Netzwerks. Militärsysteme fielen aus oder spielten verrückt, Kommunikationsketten wurden unterbrochen und der Strom fiel in tausenden Regionen aus.

Die von der Three Moons Initiative vielgepriesenen Drohnen, kleine wie große, aktivierten sich von selbst und begannen, Jagd auf die Soldaten zu machen. Die Militärbasen wurden von Bombeneinschlägen erschüttert, wobei Elli aufpasste, das Gebäude in Ruhe zu lassen in dem sich Chloe aufhielt. Sie aufzuspüren war leicht gewesen, ihre Ergreifung hatte eine ziemlich hohe Priorität und damit auch alle Daten, die damit im Zusammenhang standen.

"Missetat begangen", griente sie und lehnte sich an die Wand. "Und nun heißt es warten."


Spiegels Gesicht wurde immer bleicher, während sie den Bericht des Soldaten vernahm. Sie war noch immer in dem Raum, in dem das weißhaarige Mädchen gefangen gehalten wurde. Irgendwas hatte die Netzwerke der ☽☽☽-Initiative geknackt und breitete sich rasend schnell aus, ohne dass irgendwas dagegen getan werden konnte. Das Equipment in hunderten Militärstützpunkten machte mittlerweile jagt auf seine Besitzer.

Frustriert dreht sie sich zu dem Mädchen um.

Drohungen funktionierten hier nicht. Wenn sie versuchten, das Mädchen zu foltern, und Elli das mitbekam, dann würde sie ihnen die Hölle noch heißer machen.

"Was hat sie getan? Bitte halten Sie sie auf!", bat sie daher.

"Ich denk' ja gar nicht dran", war die eingeschnappte Antwort. "Mal davon abgesehen, dass ich es nicht kann. Es liegt allein an euch, sie zu besänftigen."

"Aber wie sollen wir das machen? Wir wissen doch nicht mal, wo sie ist?", fragte die Generalin perplex.

"Als Erstes", begann das Mädchen, "Könntet ihr mir die Handschellen abnehmen, um wenigstens zu versuchen dein Eindruck einer Organisation zu erwecken, die bereit zum Einlenken ist."

"Und dann?"

"Und dann hoffen Sie inständig, dass Ihr Boss weiß, was gut für Sie ist."


Präsident Niang arbeitete fieberhaft an seinem Computer, als er zu flackern begann. Eine Fehlermeldung ging auf, die ihm eine Telefonnummer anzeigte.

Auch das noch.

Er hatte mit diesem verdammten Hackerangriff genug zu tun. Die Undurchdringliche war fast komplett von Corbenic abgeschnitten, darum dauerte es ewig, bis seine Befehle durchkamen. Er brauchte keine Verzögerungen.

Die Fehlermeldung ploppte wieder auf.

Niang drückte sie genervt wieder weg und arbeitete weiter.

Die Meldung kam wieder. Mehrfach. So schnell, dass Niang sie nicht schnell genug wegklicken konnte. Sie füllte schon bald seinen ganzen Bildschirm aus.

Irgendwer wollte wohl was von ihm …

Er fragte sich, ob er selber anrufen sollte und entschied sich dann für ja. Wahrscheinlich war das der Hacker, und der würde sich nur mit ihm zufriedengeben.

Er nahm sein Handy und wählte die Nummer.

Es dauerte ein wenig, bis der Anruf durchkam.

"Yolo?", meldete sich eine weibliche Stimme quietschvergnügt.

"Hier ist Niang, Ewiger Präsident und Oberbefehlshaber über die ☽☽☽-Initiative. Wer sind Sie und was wollen Sie?"

"Hier spricht Elli."

Niang sank das Herz in die Hose. Genau davor hatte ihn der Große Weber gewarnt …

"Sie stecken hinter diesem Chaos, oder?"

"Allerdings", lautete die Bestätigung. "Aber ich bin bereit, Ihre Netzwerke wieder freizugeben, vorausgesetzt, Sie erfüllen meine Forderungen."

Niang seufzte.

"Was sollen wir Ihnen geben?"

"Erstens will ich, dass sie sofort meine kleine Freundin Chloe Winter wieder freilassen. Dann will ich, dass sie zu mir gebracht wird. Und damit das logistisch auch läuft, schaffen Sie sie zur Undurchdringlichen. Ich komme ebenfalls, denn ich verlange eine Audienz bei Ihrem Boss."

Der Ewige Präsident war kurz sprachlos.

"Sie erpressen den Großen Weber?"

"Niang, ich habe ein einfaches Motto, es lautet: 'Bring mich nicht dazu, zu dir rüber zu kommen!'. Was Sie hier gerade erleben ist das, was passiert, wenn Götter denken, sie können mir ans Bein pinkeln."

Niang fing sich wieder.

"Machen Sie sich nicht lächerlich. Der hochwohlgeborene Siebte Prinz von Corbenic muss sich nicht mit Ihnen abgeben. Sie haben nur noch begrenzt Zeit. Unsere Truppen dringen gerade zu Ihnen vor und wir kriegen schon noch raus, wie wir unsere Systeme wieder auf die Reihe kriegen. Wir liegen vierzehntausend Jahre vor der Zeit, aus der Sie zu uns gekommen sind."

"Niedlich. Sie scheinen zu vergessen, dass ich ursprünglich in einer Zeit geboren wurde, die noch Milliarden Jahre vor uns liegt. Sicherlich, irgendwann kriegen Sie vielleicht raus, was ich getan habe, vorausgesetzt, die Strider kriegen vorher nichts mit, aber Sie müssten die Monster-Yetis meiner Einschätzung nach für mindestens eineinhalb Milliarden Jahre im Dunkeln halten und da lege ich noch die Maßstäbe für ein unbeeinträchtigtes Maß an Fortschritt an. Meine Malware ist nämlich gegen göttliche Intervention gesichert."

Verdammt, da hatte sie wahrscheinlich leider Recht. Aber Niang gab nicht so leicht auf. Die Würde von JALAKÅRA und der ☽☽☽-Initiative stand auf dem Spiel. Die waren mehr als ein einzelnes Menschenleben wert.

"So wie sie mit mir umspringen, scheinen Sie zu vergessen, dass wir auch ein Pfand gegen Sie haben."

Die Stimme im Telefon wurde merklich eisiger.

"Sie sagen also, dass Sie ein unschuldiges kleines Mädchen foltern oder gar töten würden, nur damit Ihr Boss keine Änderungen an seinem Terminkalender vornehmen muss? Ich habe hier die Option auf die nukleare Zerstörung aller Militärbasen und durch Ihre Antwort gerade eben bin ich versucht, einige dazu hochzujagen. Ihre Leute können sich zwar von atomarer Zerlegung erholen, aber sie werden ziemlich sauer sein. Vor allem, wenn ich ein paar hübsche Löcher in ihre Monde sprenge. Was ich bis jetzt getan habe, waren nur Fingerübungen."

Niang fragte sich, wie sie an die Codes gekommen war. Die waren eigentlich gegen digitalen Zugriff geschützt.

Allerdings war Elli in die sichersten Netzwerke der ☽☽☽-Initiative eingebrochen. Es war möglich, dass sie bluffte, aber ebenso wahrscheinlich war es, dass Sie die Wahrheit sprach. Es machte ihn rasend, dass er diese Frau nicht lesen konnte.

"Und Sie denken, wir sind Monster?", vergewisserte Niang sich mit unterdrücktem Zorn.

"Ich weiß, was ich getan habe", kam es bissig zurück. "Aber ich werde es wieder tun, wenn es verhindert, dass andere so tief sinken wie ich. Also, wie lautet Ihre Antwort? Sobald ich mit JALAKÅRA gesprochen hab, werde ich mich aus euren Netzwerken zurückziehen und ihr könnt anderen Leuten weiter munter eure Kultur und Lebensart aufzwingen. Also, was sagen Sie?"

Niang biss sich auf die Lippen …


"Meine Herren …", mokierte sich Elli genervt, während sie in einem Raumschiff zur Undurchdringlichen gebracht wurde.

Niang hatte sich am Ende als einsichtig herausgestellt. Er war nicht umsonst der Ewige Präsident. Elli hatte als Zeichen des guten Willens die Randale der Militärmaschinen eingestellt, ihnen allerdings einprogrammiert, dass sie sich gegen jeden Versuch wehren sollten, sie zu fesseln oder anderweitig einzuschränken. Und ihr Waffenstillstand hatte einen Timer …

Nachdem Niang eingewilligt hatte, waren die Sicherheitsvorkehrungen von HUB-1 aufgehoben worden und man hatte sie, Dean und Lin betont höflich nach draußen und zu einer Raketenstartbahn komplimentiert. Seitdem reisten sie durch die Sterne.

Die Undurchdringliche war schon vor einer Weile in Sicht gekommen. Sie sah aus wie ein gewaltiges Spinnennetz mit dem Durchmesser eines Mondes. Jetzt schienen sie den letzten Teil ihrer Reise zu erreichen.

Elli fiel noch ein weiteres der zigarrenförmigen, weißen Schiffe auf, das etwas von ihnen entfernt das gleiche Ziel zu haben schien.

Mit ihnen zusammen befanden sich etwa dreißig Wachen auf dem Schiff, mehr passten hier neben den beiden Piloten nicht rein.

Schließlich erreichten sie eine Andockstation nahe des Zentrums der Undurchdringlichen und stiegen aus.

Niang schien sein Wort zu halten, denn neben ihnen landete ein weiteres Schiff. Und raus kam …

"Chloe!", rief Elli und schlug geistesabwesend der Wache ins Gesicht, die sie aufzuhalten versuchte. Andere wollten nach ihr greifen, aber Dean legte ihnen bestimmt die Arme auf die Schultern.

"Ruhig, Leute. Das ist ein rührendes Wiedersehen", knurrte er.

Chloe war nicht gefesselt und wuselte sich zwischen den Beinen der Wachfrau hindurch, die sich Elli in den Weg stellte. Die beiden trafen sich auf halbem Wege und fielen sich in die Arme.

"Alles in Ordnung, Chloe?", fragte Elli besorgt. "Die haben dir doch nichts angetan, oder?"

Sie bemerkte mit aufkeimenden Zorn eine Beule auf Chloes Stirn.

Sie schien Ellis Gesichtsausdruck zu lesen, denn sie antwortete hastig "Das war ich, Elli!", bevor sie explodieren konnte.

Sie hörte, wie sich Fußschritte näherten. Ein Wachmann der Feste, zu erkennen am schwarzen Spinnennetz auf seiner weißen Taktikrüstung, baute sich vor ihnen auf.

"Elli, richtig?", fragte er. "Der Siebte Prinz von Corbenic erwartet Sie."

"Verdammt richtig von ihm, dass er das tut", erwiderte Elli bissig und erhob sich.

Die ganze Prozession aus insgesamt siebzig Wachen und vier Zivilisten setzte sich in Bewegung. Die Gänge waren alle aus Spinnenseide, härter als Diamant, aber ebenso strahlend.

"Elli?", fragte Chloe von der Seite. "Was meintest du mit 'Deine Zeit ist vorüber'? Ich kann dich wieder mitnehmen, wenn du willst."

Elli hatte vor dieser Frage gegraut.

"Es- Es ist komplizierter als das, Chloe."

Sie vermied es, Chloe in die Augen zu schauen.

"Warum? Wenn du noch Verpflichtungen hast, kann ich dich später holen. Ich habe deine Zeitmaschine", bot Chloe an.

Elli seufzte gequält.

"Nein, Chloe, das … Schau, ich hatte hier genug Zeit um nachzudenken und- und wenn das hier vorbei ist, dann, dann werden sich unsere Wege trennen, so fürchte ich …"

"Was?", fragte Chloe erschrocken, "aber warum?"

Elli seufzte gequält.

"Schau Chloe, wir-"

"Wir sind da", meldete der Wachmann.

"Oh, der Monstertarantel sei Dank", entfuhr es Elli erleichtert.

Sie standen vor einer gewaltigen Doppeltür.

"Sie werden allein eintreten", wies sie der Wächter ein. "Präsident Niang garantiert persönlich dafür, dass Ihren Begleitern nichts geschieht."

"Ich weiß", entgegnete Elli mit leichtem Spott. "Weil ihm bewusst ist, was passieren wird, wenn ihr ihnen auch nur ein Haar krümmt."

"Der Großer Weber erwartet Sie zusammen mit der Zentralen Kabale."

Die Tür schwang wie von Geisterhand auf und Elli trat hindurch.

Der Raum war ziemlich hoch und bar jeder Einrichtung. Überall glänzte Spinnenseide, die von innen heraus leuchtete.

Über ihr waren dreizehn Logen in den Wänden, von denen die in blaue Kapuzenmäntel gehüllten Mitglieder der Kabale abschätzend auf sie hinunterblickten. Und etwas fünfzig Meter über ihr hing Er an der Decke …

"MAHLZEIT!", begrüßte Elli die Runde lauthals und winkte.

"Sei mir gegrüßt …", erklang JALAKÅRAS langsame Stimme.

Es passierte mit einiger Verspätung. Er schien versucht zu haben, Elli mit Gedankenkontrolle zu beeindrucken. Aber wie bereits bewiesen hielt ihr Geist sogar Göttern stand …

"Ich muss sagen … ich bin ziemlich erstaunt zu was für Längen … du gehen kannst. Aber auch wenn ich mir schon hätte denken können … dass es in deiner Macht liegt hierher vorzudringen so weiß … ich doch nicht was du mit mir zu bereden hast … Also was ist dein Begehr?"

"Oh, spar dir dein Geschleime, du besserer Weberknecht", rief Elli zu ihm hoch.

Unter der Kabale wurde Rufe der Empörung laut.

Elli spürte, wie sich die Realität absenkte.

Sie löschte den Vorgang, der das Phänomen ausgelöst hatte und baute stattdessen ihre eigene Veränderung ein, als die Schwankung für den Bruchteil eines Wimpernschlags ihren tiefsten Punkt erreichte.

Als Ergebnis fiel JALAKÅRA von der Decke.

Elli trat ein paar Schritte zurück, dann schlug der Große Weber mit lautem Krachen auf dem Boden auf.

Die Tatsache, dass hinter ihr die Türen nicht aufschwangen, um Wachen einzulassen, verriet Elie, dass der Raum anscheinend erschütterungs- und schalldicht war.

Die gewaltige Spinne rollte sich schwerfällig und mit Überraschung im Gesicht auf den Bauch und erhob sich.

"Schon besser", knurrte Elli. "Jetzt reden wir auf Augenhöhe, oder zumindest auf dem gleichen Boden miteinander, JALAKÅRA."

"WAS ERLAUBEN SIE SICH!?", kam es von der Loge.

"WAS AUCH IMMER ICH WILL!", brüllte Elli zurück. "UND JETZT VERPISST EUCH, ICH WILL MIT DEM WEBER SPRECHEN, UND NICHT MIT EUCH."

Wieder ging ein Ruck durch die Wirklichkeit und die Kabale war verschwunden.

Der Weber schaute sich suchend um.

"Erstaunlich … Wo hast du … sie hingeschickt?"

"Quakhöhle. Ich gebe ihnen eine Stunde, bis sie wieder hier sind."

JALAKÅRA betrachtete Elli mit unverhohlener Faszination.

"Mir wird regelrecht Angst … wenn ich mir vorstelle was für Höhen … wir erreichen könnten … wenn du Teil der Kabale wärst …"

"Aber das wird das Verdammnis-Komitee nicht zulassen", entgegnete Elli finster. "Ich habe ganze Universen ausgelöscht, JALAKÅRA, erinnerst du dich?"

"Ich weiß …", entgegnete der Große Weber. "Und dafür … wurdest du vom Rat der Acht verflucht … niemals in der Welt der Lebenden Ruhe zu finden …"

Was?

Elli klappte der Mund auf und zu. Mindestens fünf Mal.

"Wa- Wa- Wa- Mo- Mo- Mo- Moment, ich bin ein Fremdkörper im Kosmos, JALAKÅRA. Ein Fluch sollte gar nicht nötig sein."

"Mach dich nicht lächerlich …", lachte der Siebte Prinz von Corbenic."Würden dich Universen tatsächlich für etwas halten das sie nicht … erlauben können … könntest du sie gar nicht erst betreten … Nein nein … Das gewaltige Kopfgeld auf deinen Namen1 … dein Zusammenstoß mit dem Astralwesen … in Standort-132 … deine Ergreifung durch das SKP3 … all die lebensgefährlichen Ereignisse in die du verstrickt wurdest … sogar der Detektorausschlag der dich zu deinem kleinen Mädchen geführt hat … Alles von uns eingefädelt mit winzigen Manipulationen … der Welten der Lebenden …"

Er stampfte mit höhnischem Gesicht auf Elli zu.

"Hast du wirklich geglaubt … du könntest Welten zerstören … ohne dafür von jemand anderem als dir selbst bestraft zu werden? Sicherlich … nicht einmal der Scarlet King oder Götter mit noch größerer Macht könnten … im Traum hoffen dich im Nexus zu erreichen … selbst wenn sie mit Gewalt einzubrechen versuchen … aber dachtest du du bist außerhalb vor göttlicher Vergeltung gefeit? Du bist absolut … herzallerliebst …"

Dann wurde JALAKÅRAS Gesicht unvermittelt sanft.

"Aber das hat nun ein Ende … Denn ich habe deinen Fluch ein wenig abgeändert … Er gehieß dir den Menschen und anderen Lebensformen zu helfen … Und das hast du getan … Für eine unvorstellbar lange Zeit …"

Falls es sein Ziel war, Elli zu überrumpeln, so schaffte er das.

Für etwa zwei Sekunden.

Die Räder in ihrem Gehirn drehten sich so schnell, dass sie in der Zeit rückwärts zu reisen schienen.

"Du hast mich und die anderen Sieben vom Rat der Acht benutzt. Um deine Pläne voranzutreiben? Wow. Ich meine, wow! Das ist so ein Arschlochmove, dass ich ihn mir glatt ausgedacht haben könnte."

"Ich fasse das als … Kompliment auf …"

"Und? Was hat es dir genützt? Du hast vielleicht ein paar Millionen Menschen mehr auf deiner Seite, um den Stridern eins reinzuwürgen, aber sonst?"

"Wir haben nun … den Nexus …", erklärte JALAKÅRA. "Und die … die ihn führt wie kein anderer es je könnte …"

"Ja, deswegen", warf Elli ein und bohrte sich mit dem kleinen Finger im Ohr. "Weißt du, eigentlich wollte ich dich nur bitten, ihn wieder freizugeben, damit Chloe wieder gehen kann, aber weißt du was? Ich werde gehen. Ich gehe zurück in die Welt der Lebenden. Denn ich weiß, dass du ihr dasselbe Schicksal auferlegen wirst wie mir."

Ihr Finger löste sich mit einem "Plopp" aus ihrem Ohr.

"Warum müssen wir Feinde sein?", fragte JALAKÅRA. "Ich könnte deinen Schützling … schmerzlos töten und ihn wieder hierher zurückkehren lassen … Vielleicht nicht gleich jetzt … sondern wenn sie zur jungen Erwachsenen geworden ist … Wir könnten uns mit ihrer Hilfe … endlich von Corbenic lösen und der Menschheit im ganzen Multiversum helfen … Du hast sie gesehen … die schrecklichen Zukünfte … Tote Welten ... die nichteinmal ihre Toten ruhen lassenZivilisationen ... wo die Vielen für das Wohl der Wenigen sterben ... Ich erteile dir die Absolution … von deinen Sünden … Du könntest hier in Corbenic oder in irgendeiner anderen Welt leben … und die Familie bekommen die du dir so sehnlichst wünschst …"

Elli sagte eine Weile lang nichts. Sie dachte nach.

Dann öffnete sie langsam den Mund.

"Wie lange musstest du mich beobachten, um herauszufinden was ich mir wünsche?"

"Irrelevant …", wiegelte JALAKÅRA ab. "Was dich interessieren sollte … ist dass ich dir deine Wünsche erfüllen kann … Schließt euch uns an … damit wir die beschützen können … die wir lieben …"

Elli zog ärgerlich eine Augenbraue hoch.

"Vergiss es, Langbein. Ich sage dir wie das läuft. Du gibst den Nexus wieder frei und wir verschwinden von hier. Und du und deine Kumpanen werden uns in Ruhe lassen. Und dann hoffst du, dass ich nie wieder einen Grund habe, hierher zu kommen. Oder du bist die längste Zeit der Chef hier gewesen."

"Du drohst mir?", fragte JALAKÅRA, nicht beleidigt, sondern neugierig. "Sicherlich … du hast in der Vergangenheit Götter überlistet und erpresst … aber du stehst allein und ohne deine größte Waffe vor mir … Meine Macht kann ich gegen dich nicht benutzen … aber …"

Er hob ein Bein und hielt es über Elli. Wenn er es fallen ließ, würde er sie zerquetschen.

"Warum akzeptierst du nicht … und findest nach all der Zeit … endlich dein Glück?"

Elli schaute ihm fest in die Augen.

"Die Sache mit lebenslangen Flüchen ist Folgende, oh großer Seidenproduzent. Man findet sich damit ab. Und wenn du mir noch so viele Zuckerstangen in den Arsch schiebst, du hast mich benutzt, ohne mein Einverständnis. Du hast nichts, das ich so sehr begehre, dass ich mich in die Dienste deiner achso tollen Three Moons Initiative stelle. Gib den Nexus frei, oder sieh' was du davon hast."

"Ich verweigere die Verschwendung … von solchem Potential!", donnerte JALAKÅRA, jetzt tatsächlich zornig. "Du magst vielleicht gewiefter sein … als die ganze Initiative zusammen … aber offenbar blendet dich dein Hochmut … Ich werde dich und deine Komplizen den schlimmsten Qualen unterwerfen … bis ihr darum bettelt … dem Wohl der Menschheiten dienen zu können!"
Elli schloss die Augen.

Es war soweit …

"Ist das dein letztes Wort?", fragte sie mit geschlossenen Augen.

"In der Tat …"

Elli grinste.

"Dann empfehle ich dir dringlichst, mich gleich wieder zusammenzusetzen."

"Hmph!"

JALAKÅRA ließ sein Bein herabsausen, doch Elli registrierte das nur am Rande. Die Zeit wurde so langsam, dass sie fast stillzustehen schien.

Sie befand sich in ihrem Inneren. In nicht enden wollender Schwärze.

Zusammen mit Ku.

Der Aufenthalt in Ellis Geist hatte ihn verändert. Seine Macht konnte Elli zwar nicht abgreifen, doch sein eigenes Bewusstsein wurde von ihrem Körper als Eindringling angesehen, als Virus, den es einzudämmen und zu vernichten galt.

Entsprechend hatte er angefangen, zu zerfasern. Sein Torso bestand inzwischen nur noch aus papierartigen Fetzen und der Zerfall arbeitete sich allmählich an den Gliedmaßen und dem Hals entlang.

Elli schätzte, dass er vielleicht noch fünfzehn Jahre gebraucht hätte, um vollständig von ihrer Psyche verschluckt zu werden. Für sie wäre das ein weiteres, endgültiges Todesurteil gewesen, hätte sie dann versucht, seine Macht anzuwenden. Aber zum Glück hatte er noch genug Eigenbewusstsein, um eine separate Entität darzustellen.

Trotz seines miserablen Zustands begrüßte er sie mit einem Lächeln.

"Ist es so weit?", fragte er.

"Allerdings", erwiderte Elli. "Ich habe da einen Monsterjob für dich."

"Wird aber auch Zeit", nörgelte der tote Gott belustigt. "Hier drin ist es extrem langweilig. Ich komme nicht mit deinen Erinnerungen zurecht, die Codierung ist absolut abartig."

"Herstellerbedingt", erwiderte Elli nur.

"In Chloe hatte ich mehr Spaß als in dir …", sinnierte die Leiche.

"Mit dem Satz stimmen so viele Dinge nicht!", regte sich Elli auf.

"Hab's direkt gemerkt, nachdem ich es ausgesprochen hatte", erwiderte Ku trocken. "Also, was wünschst du dir."

"Du weißt genau, was ich will, Silberauge", erwiderte Elli kalt.

Ku nickte.

"Wahrlich, ein famoses Ende für einen Gott, der seine Welt vernichtet hat …"

Er begann nach und nach zu zerbröckeln …

Elli öffnete immer noch lächelnd die Augen.

Sie waren silbern, als hätte sie anstelle von Augen zwei Metallkugeln im Schädel.

Noch bevor der große Weber sie mit seinem Bein erreichte, explodierte Elli in tausend Stücke.


HÉKATI-BØGAL schaufelte gerade eine weitere Hand schreiender Menschen in sich hinein, als ihr plötzlich etwas an ihrer Hand auffiel. Sie begann zu zerfallen. Winzige Stücke lösten sich davon und rieselten zu Boden. Die Hexenkönigin legte einen Heilungsbann über sich, aber der Prozess schien sich nach und nach zu beschleunigen.

"DIESES KLEINE MISTSTÜCK …", murmelte sie, teils erstaunt und teils stocksauer.


Der Siebte Prinz von Corbenic schaute verwirrt auf die rote Pfütze unter seinem Fuß.

Die Frau war explodiert, bevor er sie hatte zertreten können, oder?

Stirnrunzelnd schaute er dabei zu, wie das größte der von ihr übrigen Stücke zu wachsen begann.

Irrte er sich, oder rieselte Staub von seinem Bein?

Eine genauere Inspektion ergab, dass sein ganzer Körper zu zerfallen begann.

Was war hier los?

Seine Regenerationskräfte waren anfangs noch mehr als fähig, den Prozess im Zaum zu halten, aber er wurde immer schneller. JALAKÅRA musste seine göttliche Macht benutzen, um nicht vollends zersetzt zu werden. Und er brauchte immer mehr davon.

Was war hier los?

"Dann empfehle ich dir dringlichst, mich gleich wieder zusammenzusetzen."

Er schaute ärgerlich auf Elli. Das Stück war schon wesentlich größer, aber es würde wohl noch eine Minute dauern, bis sie vollständig regeneriert war.

Zeit, die er vielleicht nicht hatte.

Zähneknirschend beschleunigte der große Weber den Vorgang und stellte auch Ellis Kleidung wieder her.

"Boah, das war schmerzhafter als es ausgesehen hat …", kommentierte sie keuchend.

"Was … hast du getan? Was passiert hier?", fragte JALAKÅRA ungläubig.

Elli grinste wieder. Er hasste es inzwischen, wenn sie das tat.

"Oh, da ist eine Sache, über die du dir wohl keine Gedanken gemacht hast. Wie bin ich wohl gestorben, oh Barttarantel?"

Der Heilige Sponsor verlor allmählich die Geduld.

"Du weißt genau dass nichteinmal … die höchsten Wesen … in den Nexus spähen … können … ANTWORTE!"

"Nicht in diesem Ton, Langbein! Du willst was von mir", rügte ihn Elli. "Weißt du, Chloe litt an verkappter Apotheose, sie hatte einen Gott geschluckt, einen, der viel zu mächtig war für so ein Gefäß. Später kam kurzzeitig noch ein Engel4 dazu, das hat das Ganze nicht besser gemacht. Jedenfalls habe ich ihr die göttliche Macht abgenommen, aber mein Körper hat das nicht lange ausgehalten. Aber dank einer kleinen Feineinstellung, die ich kurz vor meinem Ableben im Nexus vorgenommen habe, wurde dieser Gott auf meinen Corbenic-Körper übertragen. Und gerade eben habe ich seine Macht freigesetzt. Um mir was zu wünschen …"

"Ist es … mein Tod … den du willst?", fragte JALAKÅRA erbost. "Alles was du damit erreichst … ist die Verdammnis der Menschheit … Die anderen Sieben werden sich des Nexus bemächtigen wollen … Er ist eine zu gefährliche Waffe als dass … sie in den Händen eines kleinen Mädchens liegen sollte …"

"Ich bin vielleicht betrunken, aber nicht blöd, Weberknecht", erwiderte Elli pikiert und hob die rechte Hand.

Wie von einer unsichtbaren Faust ergriffen wurde JALAKÅRA in die Luft gehoben und gegen die Wände des Raums geschmettert.

Während er noch keuchend daran hinunterrutschte und sich wiederaufzurichten versucht, lief- Nein, schwebte Elli mit einem spöttischem Lächeln auf ihn zu.

Und nicht nur das.

Sie existierte nun in einer höheren Dimension.

Genau wie er selbst!

"Ich habe die Gesetze von Corbenic umgeschrieben", erklärte sie. "Ich habe mich zur mächtigsten Gottheit erhoben …"

Sie packte den großen Weber am sich immer schneller auflösenden Bart und zog ihn zu sich hinunter.

"… und dem Universum gesagt, dass ich keine anderen gottähnlichen Wesen neben mir dulde. Sobald du fort bist, wird es ein Leichtes sein, den Nexus wieder zu öffnen. Zugegeben, ich hätte es schon viel früher tun können, aber ich wollte dir die Chance geben, dich überzeugen zu lassen, bevor ich dich zerstäube."

"Du hättest mir nicht sagen dürfen … was du getan hast …", merkte JALAKÅRA an. "Dieses Problem … kann ich einfach wieder aus der Welt schaffen …"

"Dann versuch's mal. Na hopp!", forderte ihn Elli höhnisch heraus. "Bring mich zum Lachen."

Der Siebte Prinz von Corbenic ließ sich nicht zweimal bitten. Mit aller Macht, die er aufbringen konnte, griff er hinaus in das Gefüge des Seins von Corbenic.

Er fand Ellis Änderungen im Handumdrehen und griff danach.

In seinem Kopf explodierte ein Schmerz, als wäre in jeder Zelle seines Körpers eine Sonne implodiert. Er schrie auf und wand sich vor Qual.

"Tja, netter Versuch, aber die Macht, die ich eingesetzt habe und nun besitze gehörte einst einem Wesen, dass mehr war als du je sein wirst", merkte Elli an. "Ich muss es wissen, ich habe deinen Obduktionsbericht gelesen, Jahrmilliarden, nachdem meine Heimat Logos dich im Totenkrieg niedergestreckt und Corbenic für immer versiegelt hat. Wusstest du das? Ich gehöre einem Volk an, das Götter töten konnte. Zum Zeitvertreib.

JALAKÅRA fühlte etwas in sich aufsteigen, was er schon seit Äonen nicht mehr gefühlt hatte.
Todesangst.

Ein bloßer Mensch schaffte es, dass er vor Furcht erzitterte!

"Was … wenn ich den Nexus freigebe? Verschonst … du uns dann? Verschwindest … du?"

"Hm …", machte Elli in geschauspielerter Nachdenklichkeit. "Das wäre sicherlich eine Option. Euer Zerfall setzt aus, wenn ich Corbenic verlasse und ihr dadurch nicht mehr neben mir steht. Ich kann es hier eh nicht aushalten. Aber, du und deine Sippe, ihr habt mich verflucht. Und ihr werdet es wieder tun, aus Angst vor mir."

"Wir werden dich … nicht weiter behelligen … Ich werde ihnen zeigen … was du mit mir gemacht hast …", wimmerte JALAKÅRA.

Er wimmerte … Hätte vor ihm nicht seine Henkerin gestanden, er wäre darüber sauer geworden.

"Wunderbar …", freute sich Elli. "Aber wenn ich jemals das Gefühl bekommen sollte, dass mir irgendwer in Corbenic in die Suppe spucken will, dann werde ich zurückkehren, denn ich weiß nun, wie ich hierherkommen kann. Und auch wenn ich meine Göttlichkeit hier lasse, wird sie mich wieder mit offenen Armen empfangen, wenn ich zurückkomme und euch unter den Teppich kehren."

Sie näherte sich dem rechten Auge des großen Webers und schaute mit einem diabolischen Gesichtsausdruck hinein.

"Also, JALAKÅRA, bring mich nicht dazu, hier rüber zu kommen …"

"V- Verstanden …"

Dann schien Elli noch etwas einzufallen.

"Ach ja, und sorgt dafür, dass Lin eine halbwegs gute Arbeit und Unterkunft bekommt."


Niang war zum Heiligen Sponsor zitiert worden, zusammen mit der Zentralen Kabale, die einiges an Raureif auf den Kutten hatte.

Er erschrak, als er JALAKÅRA erblickte. Er hing in seinem Netz und schien sich von einem Bad in Säure zu erholen, nur ganz allmählich regenerierten die Wunden an seinem Körper.

"Mein Herr, was ist passiert? Wo ist die Irregularität?", fragte er erschrocken.

"Die ist fort …", erklärte JALAKÅRA erschöpft. "Ich werde mich später mit den anderen Sieben in Verbindung setzen müssen … denn ihnen ist das gleiche widerfahren wie mir … aber erstmal zu euch … Ichwill dass das jeder in Corbenic mitbekommt … Es gibt da jemanden … den wir auf keinen Fall mehr erzürnen dürfen …"


Der Nexus öffnete sich und Elli und Chloe traten aus dem Schrank.

Eine alte Frau saß vor ihnen häkelnd in einem Schaukelstuhl und starrte sie verdutzt an.

"Was macht ihr in meinem Kleiderschrank?", fragte sie erschrocken. "Und wer seid ihr überhaupt?"

Elli sog scharf die Luft ein.

"Sie entschuldigen, gute Frau, wo und in welchem Jahr befinden wir uns?"

"York, 1825", sagte die Frau kurz angebunden. "Was zur Hölle macht ihr hier?"

"Wir sind sofort wieder weg", versprach Elli und schubste Chloe zurück in den Schrank.

"He! Was-", erklang es noch hinter ihnen, bevor sich der Nexus wieder schloss.

"Wenn du erlaubst, nehme ich den Nexus wieder an mich, Chloe", sagte Elli, während sie wieder das Wohnzimmer betrat.

Chloe nickte abgehackt.

Dann runzelte sie die Stirn.

"Wie mache ich das?", fragte sie.

"Wünsch es dir einfach. Der Nexus weiß, was zu tun ist, es sei denn, du hast schon Sicherungen eingebaut für den Fall der Gedankenkontrolle."

Chloe zuckte mit den Schultern und tat wie geheißen.

Es klickte und knisterte eine Weile lang.

Danach zog sich Elli erfolgreich ein Veilchen aus der Nase.

"Ah, vermisst habe ich das schon ein wenig, danke Chloe."

"Mach hier nicht gleich wieder alles dreckig", mahnte Dean.

Er war damit beschäftigt, die Einrichtungsgegenstände wieder ordentlich hinzustellen.

Sie hatten Corbenic direkt durch die Tür zu JALAKÅRAS Kammer verlassen, sehr zum Unglauben aller Anwesenden, die nur auf die sich auflösende Spinne gestarrt hatten. Zwischendurch hatte Chloe nach mehreren Fehlversuchen HUB 1 angesteuert, wo Elli noch schnell den 516-stelligen Code eingegeben hatte, der ihre Programme restlos löschte. Ihre Abfahrt war dann von einem gewaltigen Erdbeben begleitet worden, während der Nexus wieder in das Diesseits übersetzte.

Lin war in der Obhut der Three Moons Initiative gelassen worden. Elli war sich sicher, das JALAKÅRA wusste, was er mit ihr zu tun hatte.

"Elli?", fragte Chloe unvermittelt. "Was meintest du damit, dass sich unsere Wege trennen würden?"

Elli machte ein trauriges Gesicht. Jetzt war es wohl endlich soweit …

"Naja, ich hatte lange genug Zeit und zu wenig zu tun, also habe ich über unsere Beziehung nachgedacht. Und … Sie … Chloe … Wir … Wir sind nicht gesund füreinander …"

"Aber warum, Elli? Du hast mir das Leben gerettet. Und ich dir. Ich würde nicht sagen, dass das ungesund ist."

Ein kummervolles Lächeln schlich sich auf Ellis Gesicht.

"Chloe, ich habe für dich drei weltumspannende Supermächte angegriffen und fast ein Universum ausgelöscht. Und dazu kommen noch zahlreiche kleiner Vergehen. Ich bin noch nie in so kurzen Abständen so zornig geworden. Und du? Was tust du, wenn ich nicht da bin?"

"Warten bis du wiederkomm-", antwortete Chloe und brach ab.

Elli nickte nur traurig lächelnd.

"Ich hindere dich daran, ein normales Leben zu führen, Chloe."

"Aber ich will kein normales Leben, Elli", entgegnete Chloe wütend. "Ich will, dass wir zusammenbleiben. Ich bin nicht mehr todkrank und du bist zurück von den Toten. Was kann uns noch passieren?"

"Die Frage ist eher, wem wir passieren, Chloe", gab Elli zurück. "Willst du wirklich dein ganzes Leben damit verbringen, durch die Welten zu reisen? Nie eine eigene Familie haben? Wie ich werden?"

Um ihre Worte zu unterstreichen, holte sie ihren Flachmann hervor und trank.

"Aber du bist meine Familie, Elli", versuchte es Chloe verzweifelt. "Du und Dean. Ich brauche nicht mehr!"

"Und was denkst du passiert, wenn du meinetwegen wieder stirbst, Chloe?", fragte Elli ernst. "Willst du riskieren, dass ich wieder eine ganze Welt zerstöre? Oder dass du irgendwo in einer fremden Welt strandest? Dieses Mal haben wir keine Göttliche Intervention, die uns rettet."

Tränen stiegen Chloe in die Augen.

"Aber, Elli…", kam es erstickt von ihr. "Ich … Was soll ich ohne dich machen… Ich- Ich habe niemand andern."

"Bist du dir da sicher?", fragte Elli. "Glaubst du, deine leibliche Familie besteht nur aus deiner Mutter? Glaubst du, niemand sonst wird dir helfen, wenn du fragst?"

Sie trat auf Chloe zu und nahm sie in den Arm.

"Ich weiß, du verstehst das nicht, aber mit der Zeit wirst du es. Und es ist nicht so, dass ich dich für immer verlasse. Ich werde immer auf dich aufpassen. Und eines Tages, wer weiß…"

"Du wirst dich nicht umstimmen lassen?", fragte Chloe traurig."

"Nein."

Sie merkte, wie sich Chloe in ihre Jacke krallte.

"Kann… Kann ich dann wenigstens noch hier bleiben, bis ich einschlafe? Zum Abschied."

Elli schaute fragend zu Dean, der nur mit den Schultern zuckte.


Chloe hielt erstaunlich lange durch, vermutlich war das ein Nebeneffektihrer Befreiung von Ku. Ihr Körper hatte nun wieder wesentlich mehr Energie zur Verfügung, mit der er erstmal wieder klarkommen musste. Sie machten eine letzte Tour durch den Nexus, aßen zu Abend und schauten sich in Ellis Heimkino auf der Couch einen Film nach dem anderen an.

Doch schließlich kam der Augenblick, den Elli so gefürchtet hatte. Chloe schloss endgültig die Augen und sank gegen ihre Schulter.

Elli seufzte traurig, kleidete Chloe Kraft des Nexus in einen Schlafanzug, trug sie durch ihren Schrank hinaus, und deckte sie auf dem Bett zu.

Sie blickte sehr lange auf das friedlich schlafende Gesicht. Sie konnte es nicht über sich bringen, zu gehen.

Dean trat hinter sie.

"Ich hab's dir gesagt, Elli, du machst dich nur unglücklich, aber nein, du wolltest ja nicht hören5 …"

Ein leises "Tuck!" ertönte, als Elli ihm gegen die Brust schlug.

"Als ob du sie nicht vermissen wirst", flüsterte sie erbost.

Dean nickte.

"Durchaus. Sie ist einzigartig. Und wird es immer sein. Aber alles hat einmal ein Ende. Du solltest das besser wissen als alle anderen."

Elli seufzte wieder.

"Ich komme gleich, Dean. Eine Sache noch …"

Einmal, nur ein allerletztes Mal noch wollte sie sich für Chloe noch wie eine richtige Mutter benehmen. Sie beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie sanft auf die Stirn.

Dann folgte sie Dean zu dem alten, schweren Holzschrank und schloss die knarzende Tür zum hinter sich …


Chloe weigerte sich aufzuwachen. Sie wollte nicht aufwachen. Wenn sie aufwachte, dann war es vorbei, dann war Elli fort. Wahrscheinlich für immer.

Aber schließlich setzte sich ihr Körper durch.

Sie setzte sich widerwillig auf.

Das war ihr Zimmer. Es schien unendlich lange her zu sein, seit sie hier drin gewesen war.

Sie schaute auf ihren Wecker. Zehn nach elf …

Warum hatte er nicht geklingelt?

Dann ging Chloe auf, welcher Wochentag war.

Vor einer Ewigkeit hatte sie sich angeschickt, Freitags zu Bett zu gehen… Ein Blick auf ihr Handy sagte ihr, dass Elli sie wohl Punktgenau abgeliefert hatte, wohl um kein Zeitparadoxon auszulösen.

Deprimiert zog sie sich an und schlurfte ins Wohnzimmer.

Dort lag ihre Mutter, schnarchend auf dem Sofa. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht mitbekommen, dass jemand in ihre Wohnung eingebrochen war und ihre Tochter entführt hatte…

Das war ihr Leben. Das Leben der kleinen, wehrlosen Chloe Winter.

Musste es wirklich so weiter gehen? War das alles, was sie erwartete?

Chloe holte tief Luft.

"Nein!", sagte sie fest.

Es dauerte nicht lange und über Kassandra Winter leerte sich ein Eimer kalten Wassers.

Prustend und spuckend setzte sie sich kerzengerade auf.

"Was zum- Chloe, was fällt dir ein-"

Sie verstummte, wohl weil sie Chloes Gesichtsausdruck bemerkt hatte.

"Chloe?", fragte sie verdutzt.

"Mama, wir müssen reden …", kam es grimmig von ihrer Tochter.


Ihre Schule verfiel in eine kollektive Depression, als am Montag die Bilder von Frau Jäger und Herrn Weiß im Eingangsbereich ausgestellt wurden, zusammen mit einem großen Strauß Lilien. Offenbar waren sie beide einem Autounfall zum Opfer gefallen.

Für alle anderen war das ein Schlag für die Magengrube, für Chloe allerdings irrelevant. Elli hatte ihnen genug eingetrichtert, um einen Masterstudiengang mit Einserdurchschnitt zu meistern.

Am Eingang zu ihrer Klasse wurde sie von Susanne abgefangen.

Sie grinste hämisch.

"Yo", sagte sie. "Chloe, jetzt da Frau Jäger nicht mehr da ist, wird es Zeit, dass du uns wieder-"

"Ich hab dich auf Band", zischte Chloe erbost. "Und ich werde dich aus der Schule werfen lassen, wenn du jemals wieder irgendwelchen Scheiß mit mir versuchst …"

Das Mädchen machte ein Gesicht, das nur Leute hinbekommen, die von einem flauschigen Kaninchen angegriffen werden. Sie hob abwehrend die Hände, als Chloe an ihr vorbei ging.

Elli wollte vielleicht nicht, dass Chloe wie sie wurde. Aber eine Sache würde sie garantiert von ihr übernehmen.

Wenn du sie nicht besiegen kannst, erpresse sie …


Lawrence stand bewegungslos in einem hexaederförmigen Kraftfeldgefängnis. Die Felder leuchteten in mattem orange. Der ganze Aufbau stand in einem komplett weißen, würfelförmigen Raum, denn Elli hatte nicht allzu viele Gedanken an die Architektur gemacht. Der Raum war unzerstörbar und ließ keine telepathischen oder ontokinetischen Einflüsse außer den ihren hindurch, das musste reichen.

Elli hatte die Finger nachdenklich über den Knopf in einem Pult ausgestreckt, der den Mann freilassen würde.

Nach reiflicher Überlegung ließ sie das Pult zu Staub zerfallen, der anschließend gelöscht wurde.

Sie verließ den Raum und entfernte die Tür hinter sich aus der Existenz. Lawrence war in der Zeit gefangen, selbst wenn er wieder auftaute, er würde wahrscheinlich einen schweren Hirnschaden von Chloes Übernahme zurückbehalten, denn er war in den Nexus geschleift worden, noch bevor Elli sich um den Gott hatte kümmern können6.

Und wer weiß, vielleicht würde er eines Tages tatsächlich einen positiven Nutzen haben.

Elli betrank diesen Entschluss mit ihrem Flachmann.

Dann begann sie hemmungslos zu weinen.

Sie vermisste Chloe …


Acht Jahre später

Chloes Herz raste wie verrückt. Sie war sich einfach nicht sicher, ob ihr Hochzeitskleid anständig passte. Da war ein Knick, dort eine Falte und wie hatte sie nur auf die Idee kommen können, dass sie mit freien Schultern gut aussah!?

Sie hatte sich schon allerhand schwarze Bänder ins Haar machen müssen, damit es sich vom Kleid abhob, denn ihre natürliche Haarfarbe war nie wieder zurückgekehrt.

"Chloe, alles in Ordnung?"

Eine alte Frau war hinter sie getreten. Sie sah teils belustigt und teils besorgt aus.

"Ach Oma, das geht so nicht, wir müssen irgendwie-"

"Jetzt plustere dich nicht so auf wie ein aufgeregtes Huhn, das ist ja fürchterlich, Mensch!", polterte sie. "Heute ist dein großer Tag, willst du den ganzen Tag rumzittern wie Espenlaub?"

"Nein …"

Esme Winter war eine sehr imposante Frau, ziemlich dick, aber dafür klein. Ihr Haar war längst nicht so weiß wie das von Chloe, aber man sah ihr ihr Alter an. Chloe hatte sie kennen gelernt, nachdem sie ihre Mutter dazu gezwungen hatte, wieder Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen. Sie war kalt empfangen worden, aber Chloe hatte man herzlich willkommen geheißen. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter hatte sich seitdem allerdings kaum gebessert, darum war sie auch nicht zur Hochzeit eingeladen worden.

Unter dem Blick von Oma Esme allerdings zwang sich Chloe, wieder runter zu kommen.

"Du bist doch sonst nicht so", schärfte ihre Großmutter sie ein. "Zeig dich einfach wie immer, cool und erhaben."

"Okay, okay", bestätigte Chloe aufgeregt und holte tief Luft. "Hab's gleich …"

Dann öffnete sie die Tür zum großen Saal.

Chloe hatte es aufgrund ihrer Vergangenheit mit ihrem Vater abgelehnt, für die Heirat eine Kirche auch nur zu betreten, darum hatten sie eine große Festhalle gemietet.

Großer Applaus kam ihr entgegen, als sie ihrem Bräutigam entgegentrat.

Sie hatte Vincent nach ihrer Schulzeit kennen gelernt. Er war ein drahtiger junger Mann mit sorgsam gepflegten Haaren und Vollbart. Er trug einen festlichen, hellgrauen Frack.

Chloe gelang es tatsächlich, während der Trauung ihr Pokerface zu behalten, aber sie war froh, als Vincent endlich erlaubt wurde, die Braut zu küssen. Er machte natürlich die gewagte Nummer, kippte Chloe unvermittelt um und bewahrte sie mit einer Umarmung davor, auf dem Boden aufzuschlagen, dann erfolgte der Kuss.

Gejohle und Applaus folgte.

Es dauerte eine Weile, bis sich alles beruhigt hatte, und das eigentliche Fest begann.

Es war Tradition bei den Winters, dass man bei Hochzeiten der Reihe nach vor allen Anwesenden angab, wer welche Geschenke gemacht hatte, und das auf so hämische und trockene Art wie möglich. Es war alles dabei, Küchenutensilien, ein Werkzeugkasten, Schokolade, eine Axt von Onkel Paul für das Ehegattensplitting und natürlich jede Menge Alkohol.

Opa Jochen, der kahlköpfige Mann mit dem Schnauzer eines Walross', der den Vortrag hielt, ernte jede Menge Gelächter, aber schaute dann verwundert zu einem letzten, großen Geschenkkorb.

Er glich nochmal mit der Liste ab und schüttelte den Kopf.

"Hm, weiß einer von euch, wem der hier gehört? Der stand vorhin noch nicht hier. Chloe, Liebes, ich glaube, da ist ein Foto von dir."

Chloe stand von ihrem Sitzplatz auf und schaute sich neugierig an, was da noch zusätzlich angekommen war.

Der Korb enthielt jede Menge stark wirkende Spirituosen mit Namen, die sie noch nie gehört hatte, eine Schaufelschippe voll edler Süßigkeiten in verschiedensten Verpackungen, extrem exotisch aussehendes Obst, einen silbernen Flachmann und eine Bratpfanne.

Und ein Foto.

Chloe nahm vor Schreck die Hand vor den Mund und versuchte die Tränen zurückzuhalten.

Sie war auf dem Bild zu sehen, als sie noch ein Kind war. Hinter ihr erstrahlte ein gewaltiger goldener Baum7. Und mit ihr auf dem Bild flankierten sie links und rechts …

Sie träumte noch immer von ihren Abenteuern …

Hektisch sah sie sich unter den Anwesenden um. Aber die beiden waren nirgendwo zu sehen…

Chloe hätte ihre Gesichter selbst nach fünfzig Jahren in einer Menge finden können. Aber unter die hier hatten sie sich nicht gemischt. Sie waren nicht da.

"Chloe, alles in Ordnung", fragte ihr Großvater besorgt.

"Ja, Opa", sagte Chloe ein wenig deprimiert. "Es ist nur-"

Und dann hörte sie es. Es kam von der Bedienung im Empfangsraum.

"Aber gute Dame, ich kann Sie und Ihren Mann doch nicht einfach so ohne Einladung reinlassen!"

Bevor sie irgendwer zurückhalten konnte, sprintete Chloe an den verwunderten Gästen vorbei zur Tür …



Ende

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