Der Bessere Mensch? Teil 2

scp-heritage-v3.png
Bewertung: +11+x
Bewertung: +11+x

Das letzte Mal bei Nexus:
Der Bessere Mensch? Teil 1

Wenn jemand in Paris nach der Beschreibung von Fernand Petit fragte, war die Antwort meist sehr kurz und prägnant. Genaugenommen besteht sie nur aus den Worten "Er ist ein Arschloch". Damit war im Grunde alles gesagt. Er war unrasiert, wusch seine Kleider nur selten und machte allgemein einen heruntergekommenen Eindruck. Sein Charakter spiegelte sein Aussehen wieder.

Er trieb sich meist im 1. Arrondissement von Paris herum und verdiente sich als Dieb. Die Beute war heute relativ mager, denn viele Leute waren in Gruppen unterwegs und er, als Verfechter des schnellen Raubs und Taschendiebstahls, hatte lieber einzelne Ziele. Aber endlich war ihm das Glück hold.

Ein Edelmann hastete durch die Straßen, in der Hand ein merkwürdiges aber, und das war ein wichtiger Aspekt, auch sehr wertvoll aussehendes Objekt. Es hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Kompass.

Fernand folgte dem Mann ein Stück, bis er eine freie Strecke vor sich hatte. Keine Zeugen. Gut.

Er war ein guter Sprinter und beschleunigte ziemlich schnell, bis er den Edelmann erreichte und ihm das Gerät einfach aus der Hand riss, ohne langsamer zu werden. Er konnte dieses Tempo für 200 Meter halten und selbst dann war er noch zum Dauerlauf fähig. So rannte er in das Gewirr von Seitengassen um den reichen Pinkel, der sich hinter ihm in Bewegung setzte, abzuschütteln. Ha, was für ein Verliere-

Irgendwas erwischte ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers seitlich am Kopf und rammte ihn gegen die Hausmauern. Seine Beute hielt er aber fest in den Händen, was dazu führte, dass der Edelmann, der ihm offenbar gerade eine schallende Backpfeife gegeben hatte, an der Gurgel packte und scheinbar ohne jede Anstrengung vom Boden hob. Der Räuber schlug seinerseits zu, aber er hätte genauso gut auf die Stadtmauern eindreschen können. Dann erst wurde er gewahr wie wütend der Mann eigentlich war, der ihn eingeholt hatte ohne außer Puste zu geraten.

Hilflos mit den Füßen strampelnd reichte er versuchsweise seine Beute wieder zurück, aber das änderte nichts daran, dass zwei wutentbrannte Augen ihn anstarrten und ihm mit einem einzigen kräftigen Zudrücken das Genick gebrochen wurde.


Elli hatte schon viele Gesichter gesehen, viele davon nichtmal menschlich. Nun, das Gesicht von dem Jungen, der sie hier mit einem Messer bedrohte, war menschlich und Elli hatte diese Art von Gesicht auch schon gesehen.

Nur waren die Besitzer alle tot oder Zombies gewesen.

Die Augen waren ein wenig eingefallen und blutunterlaufen und die fahle Haut spannte sich unnatürlich über den Schädel. Entgegen diesem Aussehen trug der Junge, er konnte nicht mit mehr als fünfzehn Jahren gestorben sein, einen teuer, aber auch ziemlich mitgenommen aussehenden schwarzen Mantel, darunter ein ehemals weißes Hemd und schwarze Hosen.

"Ein lebender Toter?", kommentierte Elli. "Dieses Mal sogar intelligent. Das ist was Neues …"

Das erklärte, warum der AAT nicht auf ihn wirkte. Tote nahmen die Welt anders wahr als die Lebenden …

Der offenkundig Untote legte den Kopf schräg. Seine Mimik veränderte sich allerdings nicht.
"Was heißt hier diesmal?", fragte er verwirrt.

"Sie sind nicht der erste Reanimierte den ich zu Gesicht kriege, allerdings der erste mit dem ich mich unterhalte …"

Elli spürte wie sich der Griff etwas lockerte. Interessant …

"Wa- Kennen Sie sich mit sowas aus?"

"Durchaus, du etwa nicht?"

Elli wurde losgelassen. Die urplötzliche Veränderung ihres Schwerpunktes sorgte im Zusammenspiel mit den beträchtlichen Alkoholmengen in ihrem Körper dafür, dass sie zu Boden fiel. Sie schaffte es allerdings mit einer gewissen Eleganz, den Sturz mit ihrem Gesicht abzufangen.

"Mmpfl …"

"Oh, Tschuldigung."

Elli richtete sich wieder auf und klopfte den Dreck von sich.

Dann hob sie die Bratpfanne.

"So, warum hast du mich jetzt losgelassen?"

Der Untote steckte sein Messer weg und hob beschwichtigend die Hände.

"Es tut mir leid wegen gerade eben, ich versuche hier aus der Stadt zu verschwinden, aber vielleicht können Sie mir helfen."

Elli zog eine Augenbraue hoch.

"Die Stadt verlassen? Was hast du ausgefressen? Napoleon überfallen?"

"Wa- N-Nein, ich bin nicht vor dem Gesetz auf der Flucht, sondern vor demjenigen, der mich … zu dem hier gemacht hat …"

Elli ließ die Bratpfanne sinken.

"Na toll. Jetzt bin ich neugierig …"


De la Croix geriet nach dem Intermezzo mit dem Räuber nun doch allmählich außer Puste, als sein Seelenenergiedetektor plötzlich erstarrte und stur in eine Richtung zeigte. Das war gut. Das bedeutete nämlich, dass er sich nur wenige Meter von seinem Ziel entfernt befand. Nur, wo war es?

Es war inzwischen ziemlich dunkel geworden, aber zu seinem Glück wies der Detektor auf die Pont National1 Dort waren nur zwei Personen, ein großer Mann und ein kleines Mädchen.

Der Detektor zeigte auf das Mädchen …

Warum hatte er nur solche Schwierigkeiten, sie im Blick zu behalten?

Auch egal. Den Kerl von der Brücke zu werfen würde ein Kinderspiel sein. Er brauchte irgendwas, das er vorzeigen konnte. Mit ihr würde er noch fix was Gutes basteln können, da war er sich sicher. Etwas, dass er durch diese extrem starke Seele würde formen und bearbeiten können, ohne dass sie zerbrach. Ihm war ob des Drucks inzwischen vollkommen egal, ob sie jemand vermissen würde …

De la Croix nahm so leise wie möglich Anlauf und zielte mit der Faust auf das Gesicht seines Opfers, als sich dieses halb umdrehte.

Er hatte natürlich auch einige seiner Forschungsergebnisse auf sich selbst angewandt, um seiner Vorstellung vom Besseren Menschen gerechter zu werden. Nun hatte er die Kraft und Ausdauer mehrerer Männer. Ein solcher Schlag von ihm konnte Knochen brechen.

Es war als hätte er gegen einen Backstein geschlagen.

Sein Gegner wurde zwar durch den Schlag nach hinten gedrückt, aber er nutzte dieses Bewegungsmoment aus, um seinerseits für einen Kinnhaken auszuholen. De la Croix konnte durch den Schwung, den er noch immer hatte, nicht mehr ausweichen und erhielt ein volles Pfund auf das Kinn, dass ihn zurücktaumeln ließ.

Was war los? Eigentlich sollten ihn solche Schläge nicht groß jucken! Warum fühlte er sich also als hätte ihn ein Pferd getreten?

Sein Kontrahent derweil baute sich genau zwischen ihm und dem offenbar vor Angst erstarrten Mädchen auf.

"Wissen Sie, Sie sind erstaunlich", sagte der Kavalier, während er schwankend die Balance wiedererlangte. "Das halten nicht viele aus."

Sein Kontrahent sagte nichts, sondern stand lediglich da wie ein Fels. Wachsam zwischen ihm und seiner Tochter, wie de la Croix annahm. Vermutlich nahm er an, dass der Kavalier jetzt verschwinden würde.

Nichts da! De la Croix hatte einen Ruf zu verlieren.

De la Croix rammte den Mann einfach frontal und schob ihn einige Meter weit auf den Rand der Brücke zu. Irgendwas war komisch. Sein Körper fühlte sich merkwürdig an. Musste Muskeln aus Bronze haben, oder …

Was auch immer es war, es sorgte dafür, dass der Mann ob des Zusammenpralls nichtmal aufkeuchte. Und er brachte den Kavalier nach einigem Rutschen tatsächlich zum Stillstand.

De la Croix tat sein Möglichstes, aber der Mann griff nach seinem linken Arm und begann seine Umklammerung mit unerbittlicher Gewalt aufzubiegen.

Dann eben so …

De la Croix ließ die Linke urplötzlich schlaff, drehte sich nach rechts und packte dabei den rechten Arm seines Gegners. Während der noch sein Gleichgewicht wiedererlangte, zog ihn sich der Kavalier über die Schulter und geradewegs über das Brückengeländer.

Dann ließ er los.

Und merkte dabei zu spät, dass sich die linke Hand seines Gegners beim Schulterwurf an seinem Halsrücken festgeklammert hatte. Und er war viel zu schwer, als dass de la Croix ihn noch hätte bremsen können.

Das Ergebnis war, dass er mit seinem Gegner zusammen von der Brücke fiel und in den Fluten der Seine landete.


"Also, wie genau funktioniert das?", fragte Elli, während sie sich zusammen mit Pierre, so hieß der Junge, auf dem Weg zum Louvre befand. Sie hätte eine Abkürzung durch den Nexus nehmen können, aber sie zog es vor, diese Fähigkeit nicht zu vielen Personen zu offenbaren. Sie hielten sich in den Seitenstraßen, denn Pierre fiel schon allein durch seine Gangart unangenehm auf. Er schlurfte.

Der gefährliche Teil kam nun als sie über eine Brücke über der Seine gingen. Zum Glück schien ihr Begleiter kein Problem damit zu haben fließende Gewässer zu überqueren. Keiner sah sie.

"Was genau meinst du?", fragte der Untote nach kurzer Verwirrung.

"Du bist offensichtlich tot. Du hast keinen Puls, du bist komplett bleich und eiskalt. Wie bewegst du dich also noch?", konkretisierte Elli und nahm einen Schluck aus ihrem Flachmann.

"Nun, mein Meister hat es mir so erklärt, dass ich gewissermaßen nicht mehr in einem Körper stecke, sondern ihn von außen kontrolliere, wie eine Marionette. Also, mit meiner Seele, meine ich."

"Hm, dann müsste doch schon lange die Rigor Mortis eingesetzt haben, oder?"

"Nun, nicht, wenn ich gelegentlich noch Blut pumpe und das Atmen nicht komplett vergesse."

Elli zog eine Augenbraue hoch.

"Du musst dich um sowas kümmern?"

"Ja, auch solche Sachen wie Verdauung oder Schwitzen und so ein Zeug. Du weißt nicht zufällig wie Heilung funktioniert, oder?"

Um seine Frage zu unterstreichen schob der Junge seinen rechten Ärmel zurück und offenbarte einen Unterarm mit mehreren dunklen Stellen und offenbar schon längere Zeit offenen und entsprechend eitrigen Wunden. Elli hatte zum Glück bereits zu viel getrunken um irgendeine verletzende Reaktion zu zeigen und beließ es bei einem kurzen "Ough …".

Pierre zog seinen Ärmel wieder glatt.

"Normalerweise Blut durchpressen bis sich Schorf bildet, aber da bist du schon drüber hinaus …", erklärte Elli. "Also sehe ich das richtig? Deine Seele wurde aus dem Körper gerissen und steuert sie nun von außen wie ein Puppenspieler?"

"Äh, ja, genau. Das Ergebnis ist noch nicht perfekt, meint wenigstens mein Meister."

Elli legte den Kopf schräg.

"Wie bist du überhaupt untot geworden? Durch deinen "Meister"?"

"Durch Meister de la Croix, ja. Er kann ziemlich gut mit Seelen umgehen. Er glaubt, man kann allein mit der Seele und der Manipulation ihrer Bindung an den Körper den Besseren Menschen erschaffen."

"Den Besseren Menschen?", echote Elli überrascht. "Dieser de la Croix ist nicht zufällig ein Humanistischer Kavalier, oder?"

Pierre horchte auf.

"Ja, woher weißt du das?"

"Ich habe schon ein paar Mal von dieser Gesellschaft gehört", lautete die kurze Erklärung, bevor das Thema prompt wieder gewechselt wurde. "Warum lässt du sowas mit dir machen?"

Der Untote wurde verlegen.

"Naja, meine Familie ist gestorben und da bin ich auf der Straße gelandet. De la Croix hat mich bei sich aufgenommen. Ich war ihm was schuldig, schätze ich …"

"Der Kerl hat eine merkwürdige Art seine Schulden einzufordern", bemerkte Elli trocken. "Wieso bist du aber ausgebüxt?"

"Nun, de la Croix unternahm viele Testreihen mit mir. Leistungstests, Versuche im Bezug auf Wundheilung, alles was dir so einfällt. Während den Pausen zwischen diesen Tests war es natürlich langweilig und da habe ich angefangen im Haus herumzustöbern. Und dabei habe ich die Anderen entdeckt …"

Elli zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch.

"Welche Anderen?"

"Die, an denen er seine Experimente vorher ausprobiert hat. Sie waren … Uff, ich erspare dir die Beschreibung. Auf jeden Fall habe ich danach beschlossen zu verschwinden."

Elli nickte.

"Ich verstehe … Aber was wirst du tun, wenn du aus der Stadt kommst? Ich meine, ohne dir zu nahe treten zu wollen, niemand in Frankreich wird eine lebende Leiche in sein Haus lassen."

"Ich wollte nach jemandem suchen, der mich heilen kann", lautete die Antwort. "Und du scheinst Bescheid zu wissen. Kannst du mir helfen?"

"Ich habe da ein, zwei Ideen", erklärte Elli. "Aber bevor ich irgendwelche Gefallen tue, will ich erstmal meinen Haufen wiederfinden."

Apropos wiederfinden, Elli stellte fest, dass sie den Louvre erreicht hatten. Das war ihr Notfallplan im Falle einer Trennung. Sich an der Sehenswürdigkeit sammeln, die dem letzten Nexusaustrittspunkt am nächsten lag. Chloe und Dean warteten sicher schon.

Komischerweise konnte sie die beiden nicht sehen …

Das änderte sich, als sich plötzlich ein gefühltes Artilleriegeschoss in ihre Magengrube bohrte.

"ELLI!", heulte Chloe, während sie offenbar bestrebt zu sein schien, die Taille der Angesprochenen mit einer Umarmung zu zerquetschen.

Ihr Gesicht war mit Tränen bedeckt und sie hickste gelegentlich.

Elli, völlig überrascht von dieser Entwicklung, hielt es für einen guten ersten Impuls, ein Taschentuch aus ihrer Tasche zu ziehen.

"Hey, Chloe, jetzt beruhige dich doch. Ich war doch nur zwei Stunden weg" bat sie, während sie Chloe sauber machte. "Wo ist Dean?"

Die Frage führte zu einem neuerlichen Weinkrampf von Chloe, woraus Elli schloss, dass irgendwas gehörig schiefgegangen sein musste …

"Chloe was ist passiert?"

"Dean- Der Mann- Brücke-", war alles was Chloe zwischendurch herausbrachte.

Elli beschloss, für’s Erste noch einen Schluck zu trinken, während sich Chloe beruhigte.

"So, jetzt nochmal ganz langsam", bat Elli dann. "Was ist auf welcher Brücke passiert?"

"Irgendein Mann hat uns überfallen und Dean mit sich in den Fluss geworfen, ich glaube er war hinter mir her … Ich habe mich da drüben in den Büschen versteckt bis ihr kamt."

Elli runzelte die Stirn. Dean war niemand, der sich einfach so wo runter stürzen ließ, er stürzte eher andere Leute …

"Chloe, wie sah der Mann aus?"

"Er war ziemlich gut angezogen und hatte ein kantiges Gesicht. Und eine große Nase."

"Hatte er eine Hakennase?", fragte Pierre.

Chloe schien ihn erst jetzt zu bemerken und fing ob des Anblicks der sich ihr bot sofort an zu schreien.

"Chloe, beruhige dich!", herrschte Elli. "Er wird dich nicht essen."

Das Geschrei hörte nach einer kurzen Verzögerung wieder auf, indem Chloe den Mund zuklappte.

"Tschuldige …"

"Wir sollten uns in Bewegung setzen, du hast wahrscheinlich die Ordnungshüter angelockt. Mal sehen, ob sie irgendwo angeschwemmt wurden. Pierre, warum die Frage?"

"Weil de la Croix so aussieht. Er wird wohl nach mir gesucht haben, hat dabei aber euch gefunden. Ist an dem Mädchen irgendwas Besonderes?"

Elli und Chloe wechselten einen kurzen Blick, während das Trio an der Seine entlangging.

"Äh ja, aber dazu ein andermal. Vielleicht verwechseln wir ihn ja auch mir irgendeinem dahergelaufenen Räuber."

"So groß ist der Unterschied nun wirklich nicht", murmelte der Untote.

Es dauerte ein wenig, aber dann erreichten die drei die Pont de la Concorde. Die Seine floss hier wie überall in der Stadt durch ein mit Backsteinen fixiertes Flussbett, wobei hier einige Leiterstiegen in die Wand hinunter zum Wasser eingelassen waren, um es Bootsfahrern zu erlauben, hier von oder an Bord von Wasserfahrzeugen zu gehen. Vor einer dieser Leitern befand sich eine große Wasserlache, von der aus eine Spur hoch zum Place de la Concorde führte. Elli besah sich das Ganze kurz, bevor sie einen weiteren Schluck aus ihrem Flachmann für angebracht hielt. Den Spuren nach zu urteilen war hier nur ein Mann durchgekommen. Und er hatte etwas Schweres getragen …

"Sag mal, ist dieser de la Croix zufällig superstark?", fragte sie den Untoten.

"Äh ja, ungefähr so wie ich, wieso?"

"Dann ist er tatsächlich unser Verdächtiger", schloss Elli und stellte unvermittelt die Bitte: "Führ uns bitte zu seinem Haus. Oder dahin wo er seine Opfer einsperrt."

Pierres Gesichtszüge wurden schlaff.

"Spinnst du? Ich will von ihm weg!"

"Und ich will zu ihm hin. Entweder du hilfst mir dabei oder ich gehe selbst auf die Suche und du kannst dir meine Hilfe bei deiner kleinen Sterblichkeitskrise abschminken."

Elli durchbohrte Pierre mit einem Blick, der einen Vulkan dazu gebracht hätte, sich zweimal zu überlegen ob er wirklich ausbrechen wollte. Der Junge beugte sich darunter leicht weg.

"Schon gut, schon gut. Aber das wird nicht leicht. Morgen ist die Humanistische Versammlung. De la Croix wird vermutlich die ganze Nacht auf sein."

"Dann muss ich zuerst Chloe zurückschicken, ich bin in ein paar Stunden wieder da … oder Tagen …"

"Zurückschicken? Zurück nach Hause?", fragte Chloe.

"In der Tat", bestätigte Elli.

"Warum brauchst du dafür so lange? Mit dem Nex- mmh!"

Elli legte Chloe kurz die Hand auf den Mund, bevor sie ihr Übersetzungspflaster deaktivierte.

"Der Nexus ist nicht so praktisch, Chloe. Ich muss seine Zeit mit der des Universums das ich betreten will synchronisieren, sonst zerfetzt es uns beim Heraustreten. Deswegen kann der Nexus niemals in zwei unterschiedliche Universen oder Zeiten gleichzeitig führen. Bei Universen wie deinen, die ich häufiger besuche, ist das einfacher, aber hier liegt meine Wiederholpräzision bei höchstens einem halben Tag."

Chloe war einen Moment still, bevor auch sie ihr Pflaster deaktivierte.

"Dann bleibe ich hier", sagte sie fest.

"Bist du verrückt? ", entfuhr es Elli.

Sie klang weniger zornig als mehr verblüfft.

"Das hier ist kein einfaches Abenteuer mehr. Du könntest in Lebensgefahr geraten … Schon wieder."

"Elli, Dean hat sein Leben für mich riskiert, ich kann ihn nicht einfach allein lassen als wäre nichts gewesen!"

Irgendwas war da in Chloes Augen, das Elli nicht richtig deuten konnte. Etwas das sie beunruhigte, auch wenn sie nicht sagen konnte warum. Etwas sagte ihr, dass es eine extrem schlechte Idee war, sie jetzt in ihr Heimatuniversum zu verfrachten … Immerhin hatte sie einen Gott geschluckt. Das tendierte dazu, unvorhergesehene Konsequenzen zu haben.

"Also gut, komm mit. Aber wenn es irgendwo gefährlich wird, schubse ich dich durch die erste Tür die ich finde in den Nexus, ist das klar?"

Chloe nickte nach kurzem Zögern.

Beide aktivierten ihre Pflaster wieder.

"Pierre", donnerte Elli. "Los geht’s."

"Moment, kommt sie jetzt doch mit?", fragte Pierre verwirrt.

"Ja, Pierre. Weniger Fragen, mehr Führen!"

Der Untote zuckte mit den Schultern und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Dahin, wo sein Meister residierte.


De la Croix lehnte sich schwer atmend an die Wand des Kellerraums in dem er sich befand. Junge, war der Kerl schwer.

Nachdem er ihn mit sich von der Brücke gezogen hatte, musste der Kavalier feststellen, dass er ihn auch im Wasser nicht losließ. Und im Wasser sank wie ein Stein. Dadurch war keiner von ihnen in der Lage gewesen aufzutauchen. Jedenfalls bis sich de la Croix als derjenige mit dem längeren Atem erwies. Mit gewaltigen Kraftanstrengungen hatte er dafür gesorgt, dass er am Rand der Seine entlangtrieb, bis er die Stufen einer Leiter zu fassen bekam. Er hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, den Mann einfach in die nassen Fluten hinabsinken zu lassen, sich dann jedoch besonnen. Er wusste nicht ob er das Mädchen noch einmal rechtzeitig finden würde, darum war es vielleicht besser ihn hier zu nehmen. Praktischerweise war er ja schon bewusstlos. Er könnte ihn einfach zu seinem neuen Vorzeigeexemplar machen. War in mehrfacher Hinsicht sogar besser. Erstens war er noch nicht so beschädigt wie seine vorherige Schöpfung und zweitens sah er mehr wie der Bessere Mensch aus, den sich seine Kollegen erträumten. In den paar Stunden würde er es zwar nur hinbekommen die Grundvoraussetzungen zu schaffen, was hieß, dass er den untoten Zustand herstellte und ihn vielleicht noch beibringen konnte zu laufen. De la Croix hatte inzwischen ein Stadium der Panik erreicht, in dem er sich zusprach, dass er sein Opfer einfach mit dem Versprechen bei der Stange halten konnte, ihn wieder normal zu machen.

Man sah ihm seinen wachsenden Wahn an. De la Croix' Kleidung und Haar war immer noch voll mit dem Wasser der Seine, seine Augen blutunterlaufen und allgemein machte er einen sehr heruntergekommenen Eindruck. Er war sich seiner Erscheinung bewusst, aber das würde er später in Angriff nehmen.

Erst einmal kam die Arbeit, die vor ihm auf einem Tisch aufgebahrt lag. An den Wänden und weiteren Tischen reihten sich Werkzeuge und Apparate aneinander, die für seine Arbeit der Seelenmanipulation unerlässlich war. Besser jetzt anfangen als später …

Moment!

Was wenn das Mädchen ihm irgendwie auf die Schliche kam und Verstärkung holte? Die Ordnungshüter würden ihr nicht glauben, dafür war de la Croix trotz seines Standes mit den Humanistischen Kavalieren ein zu hoch angesehener Mann. Aber es gab genug Gesocks, an das sie sich wenden konnte. Vielleicht sollte er einige Vorsichtsmaßnahmen treffen … Ja, das war nötig. Sein Haus war komplett abgeschlossen und er würde keinen Einbruch bemerken, während er arbeitete.

Sie aber schon …


Es gluckerte leise, während Elli einen Zug aus ihrem Flachmann trank. Sie, Chloe und Pierre standen vor dem, was ihnen der Untote als de la Croix' Anwesen verkaufte. Es war eine typische barocke Villa mit einem vanillegelben Anstrich und mehreren Türmchen.

Und sehr hoch angebrachten Fenstern …

Mit einer Räuberleiter kämen sie zwar ran, aber Chloe war dafür wahrscheinlich nicht stark genug und Elli mochte Pierre nicht hierlassen, er war der Einzige der sich da drin auskannte.

Die Tür, erreichbar über eine ausladende Treppe aus Granit, erschien eine gute Alternative. Sie konnte in ihrem Rahmen einfach den Nexus öffnen und sie dann auf der anderen Seite der Tür wieder rauslassen. Sie mussten Pierre nur die Augen zuhalten …

"Pierre, dreh dich mal bitte weg", bat Elli.

Pierre tat stirnrunzelnd, eine Tätigkeit die bei ihm übrigens besonders ekelhaft aussah, wie geheißen.

Elli öffnete daraufhin den Nexus.

Das heißt, sie versuchte es.

Der Bereich vor ihr blieb nämlich hartnäckig portalfrei.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen holte Elli ein kleines, graues und quaderförmiges Gerät aus der Tasche und las, was auf dessen Bildschirm stand.

Dann verdrehte sie die Augen.

"War ja klar, dass der Kerl mit Ontokinetik arbeitet!"

"Was?", fragte Chloe.

Elli deaktivierte ihr Übersetzungspflaster.

"Dieser de la Croix arbeitet hier mit Mächten, die die Realität verändern können. Das hat offenbar dafür gesorgt, dass hier eine lokal dichtere Realität herrscht. Ich kann den Nexus so nicht öffnen."

Chloe kam nur halb mit.

"Soll das heißen, dieser Ort ist realer als andere Orte?", fragte sie, nachdem sie ihr Pflaster auch deaktiviert hatte.

"Ja", war die hitzige Antwort.

"Und das behindert dich weil?"

"Falscher Ort, falscher Zeitpunkt, Chloe", erwiderte Elli, während sie wieder die Treppe hinabstieg. "Stell dir im Moment einfach vor, dass das Universum hier an dieser Stelle stark genug ist um die Tür zuzuhalten, die ich aufzustemmen versuche."

"Aha …", sagte Chloe.

Sie war nicht viel schlauer als vorher …

Elli derweil aktivierte wieder ihr Pflaster und tippte Pierre auf die Schulter. Dann fuchtelte sie ihm vor dem Gesicht rum, weil er nicht reagierte.

"Kommen wir da relativ leise rein", fragte Sie.

"Wolltet ihr nicht- Ach, was soll’s. Wir könnten eines der Kellerfenster probieren", schlug Pierre vor. "Die sind zwar vergittert, aber das von der Waschkammer ist durchgerostet, das müsste sich herausbrechen lassen."


Es dauerte nur kurz, bis sie vor dem Fenster standen. Kurz bedeutete hierbei eine Zeit, die Elli damit zubrachte, durch einen ungepflegten Garten zu stolpern, während Chloe, die hinter ihr ging, allen Fallen durch ihre Vorwarnung ausweichen konnte. Pierre kannte sich hier sowieso aus und blieb von alldem unberührt.

Dann kam das nächste Problem.

Das Herausbrechen des Gitters war keine große Sache, aber weder Pierre, noch Elli passten da durch.

"Na toll", kommentierte Elli. "Dir ist absolut nicht aufgefallen, dass wir da unmöglich durchpassen."

"Ich war nur einmal da drin", verteidigte sich Pierre händeringend. "Der Dampf dort weicht meine Haut auf, soll ich dir zeigen wie das dann aussieht?"

Elli hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf.

"Kommen wir durch irgendeine Tür da rein?", wechselte sie urplötzlich das Thema.
Pierre zuckte mit den Schultern.

"Nicht ohne Krach zu machen. Alle Türen sind von innen mit Riegeln gesichert. Wir bräuchten jemanden, der sie uns von innen öffnet."

Elli überlegte kurz.

"Auch das noch. Hm, kommen wir irgendwie auf das Dach?"

"Möglich wäre es", bestätigte der Untote. "Hinter dem Haus gibt es Efeuranken, sofern du nicht zu schwer bist- Hey!"

Seine Empörung galt dem Knuff, den Elli ihm verpasst hatte. Eigentlich sollte er wehtun, aber Pierre hatte offenbar kein Schmerzempfinden mehr.

"Kein Wort mehr über mein Gewicht", zischte sie. "Gut, Chloe, mal sehen ob wir- Chloe?"

Elli sah sich verwirrt nach ihrem Schützling um. Dann stellte sie mit ausbrechendem Schweiß fest, dass sie nirgendwo aufzufinden war.

Ihr Blick fiel auf das Kellerfenster …

"CHLOE! KOMM SOFORT ZURÜCK!"

Keine Antwort.

"Pierre, bring mich auf das Dach! Bring mich auf das Dach und zwar SOFORT!"


Chloe drehte sich kurz um. War da gerade ein Geräusch in der Waschküche gekommen? Egal, sie musste einen Eingang finden, den sie entriegeln konnte, damit Elli und Pierre eintreten konnten. Hätte Elli von ihrem Plan gewusst, sie hätte sie wahrscheinlich zurückgehalten, aber Chloe wollte das nicht. Sie allein hatte Dean in diese Situation gebracht, jetzt holte sie ihn da auch wieder raus, basta.

Das Haus lag in vollkommener Dunkelheit. Durch die Fenster fiel fahles Licht herein, allerdings saßen die Riegel zu hoch als das Chloe sie hätte erreichen können. Kurz überlegte sie, einen Stuhl zu holen, um dieses Problem umgehen zu können, aber dann kam ihr der Gedanke, dass, falls sie Pech hatte, jemandem das Fehlen besagten Möbelstücks auffallen würde.

Nicht dass sie bisher auf jemanden getroffen wäre. Ab und zu knarzte und knackte es im Gebälk, als wäre das gesamte Haus eine arthritische Katze, die sich langsam nach einem Nickerchen streckte. Chloe zuckte jedes Mal zusammen, wenn es dazu kam und hielt sich instinktiv an Wände und Schatten.

Endlich erreichte sie die Vordertür. Wenn sie es schaffte, den Riegel umzulegen und die Tür zu öffnen, konnte sie draußen nach Elli suchen.

Es dauerte eine Weile, in der Chloe mit übertriebener Vorsicht von Deckung zu Deckung auf die Tür zu huschte, aber dann war der Riegel endlich nur noch eine Armlänge von ihr entfernt.

Nur noch ein kleines Stü-

Irgendwas hinter ihr sog in kurzen Stößen Luft ein, was Elli mitten in der Bewegung erstarren ließ. Dann drehte sie sehr langsam den Kopf.

Und starrte auf ein Gebiss voller scharfer Zähne …

Das nächste Mal bei Nexus:
Der Bessere Mensch? Teil 3

Sofern nicht anders angegeben, steht der Inhalt dieser Seite unter Lizenz Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 License