Das letzte Mal bei Nexus:
Das Schlimmste Geschenk, Teil 2
"Herr Maron, wir haben sie vor vielleicht zwanzig Minuten eingesammelt-"
"Ich werde keine weiteren Unterbrechungen dulden!"
Fernand hatte Angelika bis auf die unterste Kleidungsschicht ausgezogen und auf einer weiteren Liege festgeschnallt, nachdem sie den Bunker wieder erreicht hatten und fuhr sie gerade zum Lumiére-Induktor. Die Assistentin, die ihn aufzuhalten versucht hatte, wich erschrocken zur Seite.
Seine Tochter wehrte sich und schrie wie am Spieß, aber das musste er ignorieren. Sie konnte nicht verstehen, was für eine großartige Bestimmung sie hatte. Sie würde die Inkarnation von Uriel auf Erden werden. Sie würde die Menschheit ins Paradies führen. Niemals altern, niemals sterben. Für immer geschützt vor den Unbilden dieser Welt. Sicherlich, ihr Gedächtnis würde gelöscht, aber was gab es in ihrem Leben, an das es sich zu erinnern lohnte? Die zugegebenermaßen grauenvollen Vorbereitungen auf den heutigen Tag? Was konnte ein Vater seiner geliebten Tochter für ein größeres Geschenk machen?
Als er eintraf, werkelte Linker an dem Induktor herum.
"Ich denk, wir sind soweit", blaffte der Anführer der Enfants de la Lumière.
"Letzte Einstellungen, soll ja funktionieren, oder?", entgegnete Linker ruhig und schloss die Wartungsklappe. "Und schon fertig. Keine Aufregung nötig. Sollte reichen um Engel in Mädchen zu stecken."
Er schien kurz darüber nachzudenken.
"Klang das komisch?", fragte er dann.
Mehrere Anwesende im Raum gaben ihm eine "Schon-ein-wenig"-Geste.
"Lasst mich gehen!", schrie Angelika und zerrte an ihren Fesseln.
Ihr Vater seufzte.
"Wenn du nur sehen könntest, was ich sehe …"
Zugegeben, die weißen Haare verliehen ihr etwas Edles, aber sie verdiente etwas Besseres als die Herkunft die sie hatte und keinen so abscheulichen Namen wie Chloe. Hätte er sich doch nur gegen ihre Mutter durchgesetzt aber damals waren die Zeiten anders gewesen …
Er schob Angelika unter den Induktor und begab sich zusammen mit Linker hoch in den Kontrollraum, während seine Tochter ihr Möglichstes tat, die Liege umzukippen.
Er legte die Hände an den Aktivierungshebel.
"Leute, die Rede spare ich mir dieses Mal", meldete er über die Lautsprecher. "Uriel, wir geben uns dir hin."
Er legte den Hebel um und versuchte, die Schreie zu ignorieren. Es klappte nicht …
Ku betrachtete mit Sorge Chloes angeknacksten Geist. In der Bibliothek von A nach B zu kommen war wesentlich schwieriger geworden, weil ihn die Risse überall behinderten.
Er überlegte gerade, was er dagegen tun konnte, als ein neuerliches Beben Chloes Verstand erschütterte.
Das Dach brach wieder weg und die weiß leuchtende Masse kam zurück.
"Oh, hier für Runde zwei?", fragte Ku missgelaunt. "Ganz schlechter Zeitpunkt, mein Freund."
Wieder kamen von überall in der Bibliothek Lichtstrahlen angeschossen und verankerten das Wesen.
Ku feuerte einfach einen silbernen Strahl aus seiner Hand auf es ab. Er hinterließ ein riesiges Loch in dem Ding aber es schloss sich sofort wieder.
Das Wesen formte sich zu einer Art Kugel, eingeschlossen von drei sich unablässig drehenden Ringen mit Augen auf den Außenseiten. Obwohl keine direkte Verbindung zum Rest bestand, hatte das Wesen sechs gefiederte Flügel.
"Dieses Mal wohl mit mehr Ausdauer", kommentierte Ku. "Verschwinde von hier. Dieser Körper ist nicht groß genug für uns beide."
"Lächerlich", dröhnte das merkwürdige Gebilde mit einer Stimme wie schweres Glockengeläut. "Du bist nichts als ein toter Gott. Eine Leiche ohne Macht. Du kannst dich hier nicht länger halten."
"Beweise!", forderte Ku.
"Nimm dies!", hallte die Stimme des Engels.
Es war ein geistiges Kräftemessen. Beide Wesenheiten versuchten, in den Kopf des jeweils anderen einzudringen. Silber rang mit Weiß.
Doch so mächtig Ku auch war, ihm stand hier drin nur die Geisteskraft von Chloe zur Verfügung, während der Intellekt des Engels vor ihm mit menschlichen Begriffen nicht zu erfassen war.
Weiß überdeckte Silber. Uriel, wie Ku nun bemerkte, drang in seinen Verstand ein.
Doch der tote Gott gab nicht auf. Was es ihm an Hirnschmalz mangelte, machte er mit roher Kraft wieder wett. Mit seiner Macht attackierte er Uriels Körper im Versuch, seine Versorgung mit Kraft von außen zu kappen. Uriel hielt dagegen und zwang Ku mit der Kraft seiner Gedanken, sein Ziel zu ändern.
Beide hatten fehlkalkuliert. Anstatt sich gegenseitig zu zerstören, sorgte Kus vereitelter Angriff dafür, dass Silber aus Weiß wieder hervortrat. Und dann mischten sich beide miteinander.
Die kleine Chloe schaute verschlafen auf den Fernseher in ihrer Wohnung. Er zeigte nur noch Statik. Sie meinte irgendwas hinter dem Rauschen zuerkennen, aber sie war zu schläfrig. Außerdem hatte sie schon ihren Schlafanzug an. Den mit dem Kätzchen drauf, den sie zu ihrem vierten Geburtstag vor ein paar Wochen bekommen hatte.
Ihre Mutter trat plötzlich vor sie.
"Na, was machst du denn noch hier?", fragte sie verschmitzt. "Meinst du nicht, dass es langsam Zeit zum Ins-Bett-gehen ist?"
"Mh …", machte Chloe nur.
Sie wollte noch nicht schlafen, aber ihre Mutter war da unerbittlich. Sie nahm ihre Tochter bei der Hand und führte sie fort aus dem Wohnzimmer. Der Fernseher hinter ihr flackerte kurz und zeigte das Bild eines mit Rauch gefüllten Labors, bevor er sich abschaltete.
Undurchdringlicher Qualm hatte den Raum wieder gefüllt, aber der Alarm war nicht angesprungen. Keines der Instrumente zeigte gefährliche Ausschläge.
Fernand atmete erleichtert aus.
"Kann sich jemand um den Rauch kümmern?", fragte er über die Lautsprecher.
Unten auf dem Versuchsfeld wurden die Türen geöffnet, sodass der Rauch abziehen konnte.
Allmählich wurde der Blick auf den Engel frei, der dieses Mal nicht nur die Liege, sondern gleich alles in seiner unmittelbaren Umgebung geschmolzen hatte. Der Lumiére-Induktor war nur noch ein Haufen Schlacke.
Irgendwas stimmte mit dem Licht nicht, das das Wesen abstrahlte. Es wirkte silbern und krank …
Zwei seiner Assistenten näherten sich Uriel, der, so konnte man jetzt erkennen, an dem Ort schwebte, an dem zuvor Angelika gelegen hatte.
Er sah immer noch au wie Angelika, stellte Fernand fest.
Und dann bemerkte er, dass irgendwas fürchterlich schiefgelaufen war.
Angelika hatte sechs Flügel, aber die rechten sahen missgebildet und verkümmert aus. Ihr linkes Auge besaß nun eine strahlend blaue Iris anstatt ihrem üblichen Grau, während das Rechte wie eine silberne Kugel wirkte. Sie hatte einen Heiligenschein, aber der war zu zwei Dritteln in Fragmente zerbrochen, die zusammen mit dem intakten Rest über ihrem Kopf schwebten. Ihr Gesicht war ausdruckslos und ihre ganze Erscheinung machte den Eindruck, schrecklich falsch zu sein. Als würde sie nicht in diese Welt gehören.
"Nein, nein, nein", murmelte Fernand verzweifelt. "Linker, was ist-"
Als er sich zu dem Tüftler drehte, bemerkte er, dass er gar nicht da war. Stattdessen bemerkte er einen Zettel auf dem Tisch.
Maschine hat funktioniert wie vorgesehen, also Vertrag erfüllt. Bin gegangen. Viel Spaß mit Ihrem Engel.
Linker
"Linker, du kleiner …"
Fernand schaute wieder zu seinen Assistenten, die sich seiner Tochter noch immer vorsichtig näherten.
"Hallo?", fragte einer von ihnen.
Angelika sah auf. Jede Bewegung, die sie machte, wirkte abgehackt und ließ ihren ganzen Körper flackern, als wäre sie ein Glitch in einem Videospiel.
Und dann begann sie breiter zu grinsen als es die menschliche Anatomie zulassen sollte. Ihre Mundwinkel streckten sich über ihr Gebiss hinaus.
Irre legte sie den Kopf schräg. Und hob einen Finger, mit dem sie auf einen der Assistenten deutete.
Ein silberner Lichtstrahl ging vor ihm auf und hinterließ ein faustgroßes Loch in dem Mann und sämtlichen Betonwänden hinter ihm.
Mit einem überraschten Keuchen fiel der Assistent zu Boden und blieb reglos liegen. Sein Kollege nahm sofort die Beine in die Hand aber mit einem weiteren glitchartigen Flackern teleportierte sich Angelika immer noch grotesk grinsend vor ihn.
Der Unglückliche hatte nicht mal die Gelegenheit aufzuschreien, bevor ihn das Mädchen(?) mit einer Handbewegung einfach verdampfte.
Und dann sprach es mit einer Stimme, die kein Wesen besitzen sollte. Seine Ohren weigerten sich, sie aufzunehmen, aber die von ihr getragene Nachricht erreichte sein Hirn trotzdem.
"L̷̫̟̓̃a̷̯͇͊̔̈́ṵ̵̜̊͆ͅf̵͕̅t̴̺̰͉̀!̵͇͛"
Das Ding verschwand mit einem weiteren Flackern. Draußen auf dem Gang hörte Fernand Schüsse und panische Schreie.
Er musste hier weg! Er musste einen Weg finden, um Angelika zu retten, aber das konnte er nur, wenn er hier lebend rauskam.
So leise wie möglich verließ er den Kontrollraum und nahm den Ausgang gegenüber dem, den Angelika genommen hatte.
Unterwegs hörte er, wie der Evakuierungsalarm ausgelöst wurde. Folglich begegnete er niemanden auf seinem Weg.
Außer …
Elli bemerkte, dass sie zu spät waren, als sie die Alarmsirenen hörte. Sie hatte zu viel Zeit damit vertrödelt, blutend im Schnee zu liegen und sich dann zu heilen.
Zusammen mit Dean war sie in die Basis eingedrungen. Man hatte zwar versucht, auf sie zu schießen, aber wenn man in einem Korridor auf Elli feuerte, während sie richtig angepisst war, dann konnte man sich ebenso gut selbst die Waffe an die Knie setzen. Sie schickte die Kugeln mit ihren Nexusportalen zurück an den Absender.
"Äh, Elli?", fragte Dean, der der Vorsicht halber einige Meter hinter ihr lief. "Ist es wirklich nötig, sie zu verletzen?"
Wenn Blicke töten könnten, hätte Elli mit dem, dem sie Dean zur Antwort gab, das ganze Sonnensystem sterilisieren können.
"Sie haben zuerst geschossen", knurrte sie. "Und ich verspreche dir, wenn sie Chloe auch nur ein Haar gekrümmt haben, dann beschränke ich mich nicht nur auf Verletzen …"
"Hey, was hab ich dir getan?", regte sich Dean über den Ton auf, mit dem Elli über ihn sprach.
Sie hob beschwichtigend die Hände, während sie weiterging.
"Tut mir leid, tut mir leid, ich weiß, ich bin normalerweise wesentlich gesammelter aber es ist so, Dean. Ich bin im Moment ein ganz kleines bisschen absolut außer mir."
Sie sondierte die Umgebung mit einem Blick, der vermuten ließ, dass hinter ihrer Stirn ein Zielsuchsystem mit zwei Fadenkreuzen arbeitete um alles auszuschalten, das sich bewegte.
Und dann visierte es jemanden an, der vor ihnen um eine Ecke schlich.
"DU", brüllte Elli Chloes Vater entgegen. "DU MIESE KLEINE KAKERLAKE! WO IST CHLOE!"
Sie überbrückte die Distanz zwischen ihnen beiden innerhalb eines Augenblickes mit zwei Nexusportalen und fing sich eine Faust ins Gesicht ein.
"Nenn meine Tochter nicht so…", knurrte Maron.
Ellis Zorn vorher noch halbwegs beherrschbar gewesen, aber jetzt versagten zum allerersten Mal in ihrem Leben alle Schranken. Sie sah die Welt wie durch eine blutrote Brille.
Elli warf sich gegen den Mann und stürzte ihn zu Boden. Dann setzte sie sich rittlings auf ihn und begann sein Gesicht ihrerseits mit den Fäusten zu bearbeiten.
Dieser Mann hatte sie ihr genommen! Ihre Chloe! Sie gehörte zu ihr und zu niemandem sonst! Und wer das nicht begriff, dem vermochte keine Macht im Multiversum mehr vor Elli zu retten.
"WO. IST. MEINE. CHLOE!", spie sie zwischen ihren Schlägen.
Maron kam endlich weit genug zur Besinnung, dass er ihre Fäuste packte. Allgemein sind Männer physisch stärker als Frauen und das traf leider auch in diesem Fall zu. Der Sektenführer zwang sie nach hinten und dann zur Seite.
"FINGER WEG VON ANGELIKA, DU MISTSTÜCK!"
Er zog sie zu sich heran und verpasste Elli eine Kopfnuss, die sie kurz Sterne sehen ließ.
Maron nutzte die Gelegenheit, um wankend auf die Füße zu kommen. Dann trat er Elli ins Gesicht, sodass sie auf dem Boden landete und sich den Kopf anschlug.
"Seid ihr hier, um mein Geschenk an sie vollständig zu ruinieren? Ihr wart das! Ihr habt meine Angelika so verdorben, dass sie zu- zu diesem … diesem Ding geworden ist!"
Er wollte wieder zutreten, aber Dean war endlich heran und packte Maron einfach mit der Rechten am Kragen, um ihn in der Luft baumeln zu lassen.
"Wir schalten erstmal mindestens fünf Gänge runter, Sportsfreund", brummte er befehlsmäßig.
Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass sich Elli wiederaufrichtete, sich das Blut von der Nase wischte und Maron mit purer Mordlust wieder angriff.
Dean hielt den Zeitpunkt für gekommen, als der ruhende Pol einzugreifen und unterzog Elli derselben Behandlung wie Maron. Dann hielt er sie beide so weit wie möglich auseinander.
"LASS MICH RUNTER", schrie Elli wütend und strampelte in der Luft.
"HALT DIE LUFT AN, ELLI", gab Dean ärgerlich zurück. "Das bist nicht du."
Dann wandte er sich an Maron.
"Und jetzt zu Ihnen. Ich kann Elli ein Stück weit verstehen, ich habe nicht übel Lust, Ihnen die Zähne einzuschlagen. Was ist mit Chloe passiert!?"
"Sie heißt Angelika", beharrte Maron ärgerlich.
"Soll ich Elli wieder runterlassen?", fragte Dean trocken.
"Schon gut, schon gut", wehrte Maron ab. "Wir haben versucht, Uriel in sie einzusetzen aber, irgendwas ist schiefgelaufen. Sie ist … Ich habe keine Ahnung, was sie geworden ist. Sie schwebt umher und tötet jeden, auf den sie trifft."
"Was habt ihr getan …", kam es tonlos von Elli.
Sie konnte sich kaum im Zaum halten. Rationalität hatte in ihrer Welt im Moment keinen Platz, aber sie zwang mit äußerster Anstrengung welche hinein, Dean zuliebe.
"Wir- Wir haben ihr Uriel eingesetzt, um sie zu seiner Inkanation zu machen"; erklärte der Sektenführer.
Die Rationalität drohte wieder zu verschwinden …
"Ihr habt versucht, Chloe zu einem Proxy für eine metaphysische Entität zu machen? Ist euch klar, dass ihr damit ihr ganzes Gedächtnis, ihre gesamte Identität ausradiert habt!?"
"Durchaus", bestätigte Maron. "Aber was sind einige Erinnerungen, wenn man dafür nie wieder ein Leid erfahren muss?"
"Leid, dass du ihr zugefügt hast", zischte Elli.
"Ich weiß", gab Maron zu. "Und ich habe mich dafür geschämt, aber es war alles zu ihrem Besten. Alles, was ich tue, hat nur dem Wohl meiner Tochter gedient. Alles was ich tue, ist Barmherzigkeit."
Und da verrauchte Ellis Zorn.
Hatte sie Chloe nicht auch unwissentlich unter Druck gesetzt? Aus fehlgeleiteter Güte?
"Lass mich runter, Dean", bat sie wesentlich ruhiger als noch gerade eben.
"Heißt das, ihr versteht meine Beweggründe?", fragte Maron. "Dann lasst mich gehen. Ich muss das in Ordnung bringen.
"Ich verstehe sie", bestätigte Elli gefasst. "Aber 'Verstehen' ist etwas völlig anderes als 'Gutheißen'. Wo ist Chloe? Vielleicht ist noch nicht alles zu spät."
Dean und Elli wurden plötzlich umgeworfen, als sich der Boden unter ihren Füßen ausbeulte und aufbrach. Maron klatschte neben Dean auf den Boden.
Wie ein Graphikfehler flackernd schwebte Chloe heraus, das Gesicht zu einem grotesken Grinsen verzerrt. Sie betrachtete die drei Personen vor ihr höhnisch.
"Angelika!", brachte der Sektenführer endlich hervor und rappelte sich auf.
Ein Flackern, und Chloe hatte sich ihm zugewandt.
"A̸͖̋n̵̹̐g̴̨͛è̷̪-̶̦̒.̴̦̅.̶̖̀.̵̨͆ ̶̛̖-̵͙͂l̶͛ͅį̸͑k̴̬̔â̸͕?̷̼͝"
"Ja", jubelte ihr Vater erleichtert. "Angelika, es tut mir leid, ich bringe das in Ordnung! Ich-"
Chloes Gesichtsausdruck änderte sich von einem Wimpernschlag auf den Nächsten von Hohn zu grenzenlosem Zorn.
"Angelika?"
Das war das letzte, was Maron sagte, bevor er in silbernen Flammen aufging. Er schrie und wandte sich am Boden, doch nichts vermochte, die Flammen zu löschen. Innerhalb von Sekunden fraß sich das Feuer durch seine Kleidung, erreichte seinen Körper und es dauerte nicht lange, bis sein Geschrei verstummte. Nichtmal Asche blieb von ihm übrig.
Elli hatte den Vorgang mit angstgeweiteten Augen verfolgt.
"Chloe …", flüsterte sie verzweifelt. "Was haben sie mit dir gemacht!?"
Offenbar hatte sich die Macht Uriel mit der von Ku kombiniert. Die Macht zweier einander völlig fremder Wesen, eines davon tot und eines lebendig, eines von hier und eines aus einer anderen Realität, beide in einen Körper gesteckt, der sie nicht ertragen konnte.
Der Vorgang, der so viele Unmöglichkeiten vereinte, hatte einen Gefügefehler in diesem Universum ausgelöst. Chloe war nun eine Art Bug, etwas, dass in dieser Welt existierte, obwohl es laut den geltenden Naturgesetzen nicht möglich sein sollte, wahrscheinlich angetrieben von ihren letzten Gedanken, die sie als Mensch gehabt hatte. Zorn und purer Verzweiflung.
"Chloe?", fragte Elli. "Kannst du mich hören? Bist du irgendwo dort drin?"
Der personifizierte Fehler wandte sich ihr zu.
"C̶̳͌̓̋h̴̨͔̖́͆͐͜l̶̢̝͍̰̈́̎̚͝o̴̡̥̝͒ĕ̶̝̰͇͆͝͝.̸̡͕̓̆.̶͉̣̈́̔.̴͉̼̜̖̎̑͂"
Ihre Mutter deckte Chloe zu. Sie hatte immer noch Angst allein im Dunkeln, darum leuchtete ein Nachtlicht in der Ecke ihres kleinen Zimmers.
Das warme, weiche Bett machte die ohnehin schon müde Chloe noch schläfriger.
"Schlaf schön", säuselte ihre Mutter lächelnd.
Chloe schloss die Augen.
"Chloe? Kannst du mich hören? Bist du irgendwo dort drin?"
Sie setzte sich überrascht auf.
"Hey, jetzt ist Nachtruhe!", tadelte ihre Mutter sie.
"Hast du das gehört?", fragte Chloe, die das völlig ignorierte.
Sie kannte diese Stimme irgendwoher …
"Sicher nur die Nachbarn", winkte ihre Mutter ab und drückte sie sanft wieder zurück.
Chloe bemerkte dabei etwas.
Sie konnte das Gesicht der Frau nicht erkennen.
Es war, als verhindere irgendwas, dass sie die Züge in dem Gesicht jemandem zuordnen konnte.
"Mama?", fragte Chloe ängstlich. "Was ist mit dir?"
"Nichts ist mit mir. Was soll schon sein? Jetzt geh schlafen."
"Mmh!"
Chloe versuchte, sich gegen den Sanften Druck ihrer Mutter zu wehren.
"SCHLAF EIN!"
"Bitte sag doch was!", flehte Elli das Wesen an, das mal Chloe gewesen war.
Es legte nur verwirrt den Kopf schräg.
Es herrschte eine Weile lang Stille.
Dann stieß das Ding einen Schrei aus, denn man mehr spürte als hörte und faste sich mit den Händen an den Schädel, während es unkontrolliert zuckte.
"Chloe?", fragte Elli. "Was ist los!"
"G̸̪͂̅̾e̶̙̹̼͍͊̓h̴̺̯͕̾̇̒ ̶̲̥̩̬̈́w̷̱͚̭̎̋̈́e̵̢̫͖̻̊g̴̖̒!̴̛͖̞̮͛̈́͝"
"Was?"
Elli machte einen Schritt auf das Wesen zu, dass sich in offensichtlichen Schmerzen wandt.
"Chloe, ich kann dir helfen!"
"V̵̥̞̭̾̾̀͘E̸̘̓́̓R̴̨̮̟̭̚S̴̪͍͒C̸̛̤͛͛͘H̷͉͝Ẉ̶̀̅͘I̶̧̦̫͂̀̅N̴͕̏̒͛̊Ḏ̶̖̤̂̌̂̈́E̶̲͌E̵̱̩͗͠Ẽ̷̗̮̞̀Ȅ̷̙̉̈́͜Ě̷̮̞̌͒͝Ȇ̴͚̯̙!̴̝̦̼̉̀̀"
Es war, als würden Elli und Dean von einer unsichtbaren Hand ergriffen und weggeschleudert werden. Sie klatschten einige Meter weiter weg auf den Boden.
Der Bunker um sie herum begann zu erbeben und brach unter Chloes gequälten Kreischen in Stücke auseinander. Die Trümmer sammelten sich in größer werdenden Reihen, die in weiten Bögen um das Wesen zu tanzen begannen.
Ein neuerlicher Schrei des Wesens erzeugte einen eisigen Wind, der scharfes Eis mit sich führte und Elli die Wärme aus den Knochen sog. Er war so stark, dass sie noch weiter wegrollte, bis der Boden unter ihnen verschwand. Dean schlitterte auf plötzlichem Blitzeis hinter ihr her. Elli registrierte im Fallen die Ruinen des Bunkers unter ihr und erzeugte Portale in den Mauern eines zerstörten Raumes, in den sie fielen.
Der fehlgeschlagene Engel über ihnen derweil rollte sich zusammen und ließ sich mit einem dicken Panzer aus Eis überziehen.
Dankenswerterweise waren die Wiesen des Nexus extraweich, als Elli und Dean darauf aufschlugen.
Dean war als Erster wieder auf den Beinen.
"Und was jetzt?", fragte er.
"Jetzt gehen wir Chloe retten", erklärte Elli entschlossen und erzeugte ein neues Portal, als sie wieder aufrecht stand.
"Hast du irgendeinen Plan", wollte Dean wissen.
Er sah mehr als nur skeptisch drein.
"Falls du eine bessere Idee hast, bin ich ganz Ohr", knurrte Elli und trat aus den Nexus.
Etwa zwanzig Meter entfernt ragte inmitten der Bunkerruinen der Monolith auf, in den das Chloe-Wesen eingeschlossen war. Der Nexus war in einem Türrahmen geöffnet worden, der wie durch ein Wunder stehengeblieben war. Oder vielleicht auch absichtlich. Chloe kämpfte da drin. Es hatte sich zurückgezogen, um sie in aller Ruhe auszulöschen, das hieß, es hatte Angst vor ihr. Und das hieß, Chloe und Elli konnten gewinnen!
Die Kraft des Sturms verlangte ihr alles ab, um auch nur auf den Füßen zu bleiben. Ständig schwebten Betonbrocken vorbei und drohten, ihr den Schädel einzuschlagen. Elli versuchte, einen Schritt vorwärts zu machen, aber die Kälte schwächte sie so sehr, dass sie nach hinten zu kippen drohte.
Dean hinter ihr fing sie auf.
"Hoffen wir, dass dein Nicht-Plan funktioniert!", rief er über das Heulen des Sturms.
Er war zu schwer, als dass er von den Winden fortgeweht werden konnte, und so zog er Elli einfach mit sich. Das war auch gut so, denn Elli fror trotz ihrer dicken Kleidung erbärmlich. Ihr ganzer Körper zitterte, ihre Zähne klapperten unkontrolliert und Raureif begann sich an ihren Wimpern zu bilden.
"Wir kommen, Chloe!", rief sie durch den Sturm.
"Mama, du tust mir weh!", heulte Chloe, als ihre Mutter begann, sie mit mehr und mehr Gewicht auf die Matratze zu drücken.
"Geh schlafen!", wiederholte sie. "Du solltest schon lange träumen wie alle guten Jungs und Mädchen!"
"Wir kommen, Chloe!"
Da war diese Stimme wieder.
"Mama, wer ist das?", fragte Chloe.
"Niemand von Belang! Schlaf!"
Chloe verband mit dieser Stimme etwas Positives. Aber auch Negatives? Sie konnte sich nicht entscheiden.
Sie beschloss, zu lauschen, während sie versuchte, gegen ihre Mutter anzukämpfen.
Ellis Hände begannen blau anzulaufen, als sie endlich den Monolithen erreichen. Hier schien das Auge des Sturms zu sein, denn Elli konnte von sich aus stehen.
"Keine Sorge, wir holen dich da raus!"
Sie schlug auf das Eis ein und bemerkte sofort ihren Fehler.
Das war kein Eis. Das war Diamant. Elli spürte durch ihre Unterkühlung keine Schmerzen, aber diese undurchdringliche Barriere ließ sie den Mut verlieren. Chloe konnte sie unmöglich hören.
"Nein!"
Sie schlug in ihrer Verzweiflung wiederholt auf das Mineral ein.
"Chloe, ich bin hier. Elli ist hier! Bitte, komm raus!"
Sie drehte sich hastig um.
"Dean, hilf mir!"
"Wie denn?", fragte er. "Ich komme ebenso wenig da durch wie du. Hast du nicht was in deiner Tasche?"
Natürlich!
Elli holte ihre Pfanne hervor und begann, auf den Diamant einzuschlagen. Einzelne Teile begannen unter dem unzerstörbaren Stahl abzuplatzen.
Diamant mochte das härteste Material sein, das die Menschheit bis hierhin kannte, seine Bruchzähigkeit aber war nicht der Rede wert. Man konnte einen Diamanten mit einem normalen Hammer zerschlagen, wie dem, den sie Dean aushändigte. Aber es würde trotzdem viel zu lange dauern, bis sie das Wesen erreichten.
"Halte durch, Chloe!"
Chloes Mutter presste ihr inzwischen die Luft ab, um sie ohnmächtig zu machen. Doch sie lauschte weiter.
"Chloe, ich bin hier. Elli ist hier! Bitte, komm raus!"
Elli …
Ein Bild flackerte durch ihren Kopf. Wie durch ein Kaleidoskop sah sie eine blonde Frau und einen großen, schwarzhaarigen Mann von sich stehen. Sie schienen an eine Art Scheibe zu klopfen, hinter der sich Chloe befand.
Sie kannte diese Beiden, nur … Woher?
Allmählich ging ihr der Sauerstoff aus. Chloes Blickfeld begann sich einzuengen.
Sie schienen ihr helfen zu wollen, aber wie sollten sie das tun? Chloe war allein hier mit ihrer Mutter. Sie war zu schwach.
"Kleine, schwächliche Chloe …"
Sie kannte diese Worte. Sie erinnerte sich daran. Sie wusste, dass sie nicht stimmten. Da war jemand, der über sie wachte, der ihr Kraft gab. Sicher, sie war nicht perfekt und sie hatte es geschafft, das Chloe sie richtiggehend verabscheute, aber wer war schon fehlerfrei?
Moment … Sie?
Chloe kannte das Geschlecht der Person, also …
Ihre Gedanken wurden immer langsamer je länger ihre Mutter sie würgte. Sie kannte diese Situation. Hatte Elli sie nicht in ihren Träumen1 … ELLI!
Alles kam zurück.
"Du bist nicht meine Mutter!", würgte sie hervor und packte ihre Hände mit den ihren.
Sie gehörten keiner Vierjährigen, sondern jemandem, der zehn Jahre älter war. Chloe schaffte es, den Griff dieses Doppelgängers soweit aufzuzwingen, dass sie wieder Luft bekam.
Irrte sie sich, oder war ihr Zimmer größer als vorher?
Tatsächlich dehnten sich die Dimensionen des Ortes immer weiter … Um dem breit grinsenden, silberäugigen Monster Platz zu bieten, das da hinter ihrem Angreifer aus schwarzen Schatten empor stieg.
"So. Hast gemerkt, dass ich zu viel Arbeit bin und dich deswegen auf den Verstand konzentriert, der mir Form gibt", grollte Ku amüsiert. "Clever, aber du hast eine Sache nicht beachtet, Uriel."
Das Abbild ihrer Mutter flackerte. Weißes Licht und gefiederte Schwingen schienen hindurch.
"Chloe ist unverwüstlich …"
Mit einem gewaltigen Brüllen stürzte sich das Ku-Monster auf Uriel, der vor Schreck aufschrie und Chloe losließ. Doch noch bevor sich Kus Kiefer um ihn schließen konnten, löste er sich in pures Licht auf.
Durch Chloes Gedächtnisbibliothek lief ein Knacken, als die Risse in ihr nach und nach verschwanden. Das schwarze Buch hörte auf zu blättern und schloss sich langsam.
Jedoch schlossen sich keine Ketten mehr darum. Es verblieb auf seinem Podest. Es war nun nichts weiter, als eine Aufzeichnung.
Oma Nikitin betrachtete zusammen mit den anderen Dorfbewohnern den Wirbelsturm, der in der Ferne tobte und sogar Trümmer vom Boden heben konnte. Plötzlich begann Brocken herabzufallen und das Wetterphänomen begann sich aufzulösen.
Jubel wurde Laut, während einige enttäuscht seufzten. Oma Nikitin für ihren Teil streckte dem Polizisten Alexei neben ihr die Hand entgegen. Sie hatte einen Wettgewinn einzustreichen.
Ellis Finger hatte jedes Gefühl verlassen, als ihr nach ihrem letzten Schlag die Pfanne aus der Hand flog und neben ihr scheppernd zu Boden fiel. Sie konnte ihre Hände nicht mehr bewegen.
Aber ihr letzter Schlag hatte gereicht. Risse zogen sich über den Monolithen, bevor er einfach auseinanderplatzte. Das Ding darin erstrahlte in hellem Licht und feuerte einen weißen Strahl gen Himmel. Währenddessen löste sich der Gefügefehler auf und gab Chloe frei, die aus dem Monolith fiel, nachdem der Strahl versiegt war. Elli war gerade noch schnell genug, um sie aufzufangen.
Der Wind um sie herum hörte auf zu wehen und die fliegen Betontrümmer fielen zu Boden. Chloes Körperwärme begann, Ellis Finger wieder aufzutauen, sodass sie sie wieder bewegen konnte.
"El-li …", murmelte Chloe erschöpft.
"Nicht reden!", mahnte Elli und suchte mit einer Hand in ihrer Tasche.
"Es tut mir leid …", brachte Chloe endlich heißer hervor und begann fürchterlich zu husten. Sie erbrach Blut.
Ku war schon schlimm genug gewesen aber Uriel hatte den Rahmen endgültig gesprengt. Keiner konnte sagen, wie lange sie noch am Leben bleiben konnte.
Elli fand endlich, was sie suchte und steckte Chloe ungeschickt eine Panazee in den Mund.
Leider war das nur eine temporäre Lösung. Kus Einfluss würde Chloes Existenz bald vollständig zerbrechen.
"Ist schon gut, Chloe", tröstete Elli sie. "Wir alle sagen manchmal Dinge, die besser unausgesprochen bleiben sollten."
Dean derweil sah sich um.
"Es ist erstaunlich, dass wir gerade an dich geraten sind, Chloe", bemerkte er.
"Das war kein Zufall", erklärte Elli. "Ku hat Chloe wahrscheinlich nur wegen ihrer himmlischen Resonanzenergie bemerkt, als sie durch den Nullraum getrudelt ist2. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn wir uns nie begegnet wären …"
Elli stand auf und ließ Chloe auf eigenen Füßen stehen. Sie war ziemlich wackelig.
"Komm, wir bringen dich erstmal nach Hause. Dem Dorf kann ich auch später noch Bescheid geben. Du brauchst Ruhe."
Chloe nickte müde.
Elli sammelte ihre Pfanne ein, trank nach einigen erfolglosen Öffnungsversuchen endlich einen gehörigen Schluck aus ihrem Flachmann, der sie endlich wieder auf Betriebstemperatur brachte und führte Chloe zur Tür, aus der sie zuvor gekommen war. Dean trottete hintendrein. Vor ihnen öffnete sich der Zugang zum Nexus.
Irrte sich Elli, oder hörte sie Rufe der Überraschung aus dem Nex-
"ZUGRIFF!"
Eine gewaltige, in schwarz lackiertem Metall eingeschlossene Hand glitt aus der Schwärze. Sie gehörte zu einem riesigen Servokampfanzug, der Elli und Chloe am Arm packte und durch das Portal zog. Ein zweiter kümmerte sich um Dean.
Anstatt in ihrem Nexus fanden sie sich in einem Laborversuchsfeld mit betongrauen Wänden wieder. In der Mitte stand eine kanonenartige Maschine, die direkt auf das Portal zielte, aus dem sie kamen. Aber sie war wohl nicht zum Feuern gedacht, denn dafür richteten sich aus allen Richtungen Waffen auf sie.
"Hallo, Elli", sagte Lawrence3 süffisant.
Er stand in einen Laborkittel gekleidet neben der Maschine und grinste höhnisch.
Das war aber noch nicht das Schlimmste.
Das nächste Mal bei Nexus:
Weltenzerstörer, Teil 1