Das Schlimmste Geschenk, Teil 2

scp-heritage-v3.png
Bewertung: +1+x
Bewertung: +1+x

Das letzte Mal bei Nexus:
Das Schlimmste Geschenk, Teil 1

Es kam selten vor, aber Fernand war außer sich vor Wut, während er auf den immer noch qualmenden Lumiére-Induktor starrte. Seine Techniker waren bereits damit beschäftigt, das Gerät wieder instand zu setzen, aber das änderte nichts daran, dass irgendwas schiefgelaufen war. Er sah sich griesgrämig um und entdeckte endlich Linker, der eindringlich einige Endlosausdrucke studierte.

"Linker …", sagte er mit der Ruhe eines Meeres, über das gleich eine Monsterwelle hinwegfegen würde. "Ich habe Sie bisher damit in Ruhe gelassen, weil ich damit beschäftigt war, nach meiner Tochter zu suchen, aber was zum Teufel ist hier schiefgelaufen? Sie haben gesagt, Sie liefern immer!"

"Und das habe ich getan", bestätigte Linker ärgerlich mit seinem russischen Akzent. "Maschine hat funktioniert wie sie sollte. War wie mit Warp-Auto das ihr benutzt habt, um Mädchen zu holen. Ich habe euch gesagt, braucht Abkühlphasen. Chert voz'mi, ich habe Sticky-Note an Frontscheibe geklebt! Hier dasselbe, Maschine war perfekt. Subjekt war nicht, was es sein sollte. Können nicht machen Kupferstich aus Stahlklotz."

Der Anführer der Enfants de la Lumière rollte mit den Augen.

"Wenn Sie auf die Stigmata aus sind, ich weiß, dass die weg waren, wie auch immer man Brandnarben loswird … Aber sie sollten nur die Aufnahme himmlischer Resonanzenergie während Angelikas Leben und die Übernahme durch Uriel erleichtern, sie hatten keine kritische Bewandtnis."

"Rede nicht von Folternarben", erwiderte Linker angeekelt. "Meine Energie im Inneren. Ausdruck sagt wir haben versucht randvolles Fass weiter zu füllen. Haben bereits zu viel Resonanzenergie reingesteckt. Kein Platz mehr für Uriel."

"Er wurde abgestoßen … weil sie zu engelhaft ist?"

"Möglich", bejahte Linker. "Kann auch anderes Ding in ihr sein."

"Unmöglich", wehrte Fernand unwirsch ab. "Wo sollte das denn herkommen? Können wir das Problem beheben?"

"Kann Power erhöhen", schlug Linker vor. "Aber wird Mädchen zerreißen, wenn geht schief."

Fernand legte ihm die Hand auf die Schulter. Sein Ton war eisig.

"Dann wissen Sie ja, was nicht schiefgehen darf. Meine Leute suchen bereits nach ihr. Wenn meine Tochter wegen Ihnen getötet wird, dann sind Sie nirgendwo auf diesem Planeten mehr vor mir sicher, das verspreche ich Ihnen."

Linker schluckte.


In einem kleinen Dorf weit oben im sibirischen Outback wurde heute eine riesige Impromptu-Party gefeiert. In dem kleinen, verschneiten Fünfzig-Seelen-Ort wurde auf dem Dorfplatz und zwischen den kleinen Häuschen trotz des Schneefalls getanzt und gelacht und der lokale Wirt machte das Geschäft seines Lebens. Allerlei Instrumente machten Musik, darunter gelegentlich Elli mit ihrem Dudelsack. Es ist zu erwähnen, dass der Dudelsack nicht für russische Musik erfunden wurde und entsprechend grässlich klang das Ergebnis, zumindest für Chloe. Die Dorfbewohner schienen sich daran nicht zu stören, einige tanzten den Kosakentanz im Takt zu Ellis Katzenjammer.

Chloe betrachtete das bunte Treiben zusammen mit Dean ziemlich verdutzt. Ständig kam jemand vorbei und gab ihr wahlweise eine heiße Schokolade, Kakao, Tee oder warme Milch.

Nachdem sie mit allerhand Pullovern und Jacken eingemummelt worden war, hatte sie Elli erzählt, was passiert war. Solange ihr Vater da draußen war, so der Beschluss, war es zu gefährlich Chloe wieder nach Hause gehen zu lassen. Er würde sie nur wieder fangen. Derweil hatten die Dorfbewohner Wind von Ellis Anwesenheit bekommen und angefangen zu feiern. Elli hatte daraufhin beschlossen, mitzumachen, denn in den dichten Schneetreiben außerhalb des Ortes konnte man Chloes Flucht nicht mehr nachverfolgen.

Die Frau, oder wie Elli sie nannte, Oma Nikitin wackelte zu ihnen und grinste sie mit halb so vielen Zähnen an wie eigentlich in ein menschliches Gebiss gehörten.

"Ihr scheint verwirrt", bemerkte sie.

Chloe und Dean nickten zustimmend.

"Hat sie euch nie von uns erzählt …", murmelte die alte Frau. "Elli hat mehrere Jahre hier in unserem Dorf verbracht, müsst ihr wissen. Hat den Ort ganz schön verändert, zum Guten wie zum Schlechten …"

"Zum Schlechten?", vergewisserte sich Dean.

Oma Nikitin zuckte mit den Schultern.

"Seit sie gekommen war, wurden wir Opfer von allerlei Merkwürdigkeiten. Erst Geisterwölfe, dann ein amerikanischer Saboteur, der Ernten Kraft seiner Gedanken vernichten konnte, Zeitungen von Nirgendwo, die jeden von uns ins Koma schickten … Schließlich hat irgendwer von der Regierung sie weggeholt, doch wenig später haben wir eine Explosion in der Ferne gehört. Wurde nie langweilig mit ihr. Aber was soll's, wir haben dank ihr alle funktionierende Heizungen, Radioempfang, Satellitenfernsehen und solange sie hier war, ist niemand an einer Krankheit gestorben. Hat einige unserer Fachleute ausgebildet, Worobjow und unseren Mechaniker Dmitrijew. Wir sind ihr alle sehr dankbar."

"Sehen wir", sagte Chloe und Dean wie aus einem Mund.

"Warum war sie überhaupt so lange hier?", fragte Dean dann. "Elli war nie so lange an einem Ort so lange ich sie kenne."

Oma Nikitin zuckte mit den Schultern.

"Hatte was zu verarbeiten, vermute ich. Während sie hier war, hat auch sie sich verändert. Zum Guten wie-"

"-zum Schlechten, ja", schloss Dean. "Wieso? Wie war sie vorher?"

"Sie erzählt euch nicht viel über sich, oder?", fragte die Greisin.

Chloe und Dean nickten nur. Oma Nikitin grummelte kurz, bevor sie endlich zu erzählen begann.

"Naja, ähnlich wie Chloe habe ich sie damals halb erfroren im Schnee gefunden. Ich glaube, sie blieb anfangs nur, um uns unsere Fürsorge zurückzuzahlen. Sie war … Kalt, zurückgezogen. Hatte ständig Alpträume … Aber dann, als die Leute auf sie zu kamen, um von ihr Handwerke zu erlernen, haben wir sie allmählich aufgetaut. Sie wurde freundlicher … Und hat mit dem Trinken angefangen … Starrt sie immer noch nachdenklich auf diesen schwarzen Würfel in ihrer Tasche, wenn sie gerade nichts zu tun hat?"

"Ich glaube, der hat inzwischen einen besseren Platz gefunden", bemerkte Dean leicht verdutzt. "Aber unabhängig davon, was hat sie davor gemacht?", wollte Dean wissen.

"Das werdet ihr sie selbst fragen müssen. Hat uns auch nie von sich erzählt. Wir haben sie deswegen Zhenshchina iz Niotkuda genannt."

"Die Frau von nirgendwo?", übersetzte Dean und schaute zu Elli, die gerade auf ihrem Dudelsack Korobeiniki angestimmt hatte. "Könnte passen …"


Ku wankte durch Chloes Gedächtnisbibliothek. Der ganze Ort rumorte seit einer Weile unaufhörlich. Er meinte auch zu wissen, woran das lag. Die Macht, die versucht hatte einzudringen. Ku hatte sie erkannt.

Im den tiefsten Winkeln von Chloes Unterbewusstsein lag ein großes, schwarz eingebundenes Buch auf einem Podest1. Bis vor kurzem war es von Ketten gefesselt gewesen, die nichtmal Ku zu lösen vermochte.

Als er es endlich erreichte, fand er es offen vor. Seine Seiten blätterten in einem Wind, der wohl nur für das Buch existierte.

Die Welt um es herum wies Risse auf. Sie waren mitten in der Luft oder verschwanden in den Regalen.

Was auch immer diese Erinnerungen beinhalteten, Chloes Geist war dabei, daran zu zerbrechen, auch wenn sie es wahrscheinlich noch nicht bemerkte …

Es mag ironisch erscheinen, aber Ku betete, dass das Mädchen keinen emotionalen Schock erhalten würde. In ihrem Zustand war unabsehbar, was passieren würde …


Sekten wie die Enfants de la Lumière können nicht mit Geld um sich werfen, um Personal anzuziehen. Es reichte vielleicht für Linker, aber für den Rest hatte die Gruppierung eine andere Währung parat.

Überzeugung.

Mehrere Söldner in Schneekampfanzügen befanden sich auf der Pirsch, suchten nach Spuren und anderen Hinweisen, um das entflohene Gefäß Uriels wieder aufzuspüren.

Man hatte ihnen versprochen, dass Uriel nach seiner Niederkunft die Welt zu einem besseren Ort machen würde. Und diese Männer hatten in ihrem Leben die Hölle in allen möglichen Versionen erlebt. Sei es, weil sie hungernde Dörfer gesehen hatten, Seuchenopfer, Kindersoldaten … Nur, weil man für Geld bereit war, Menschen zu töten, verlor man damit nicht sofort seine Menschlichkeit. Die Enfants de la Lumière wollten der Welt diese Schrecken nehmen.

Doch leider, sahen sie sich im Moment mit einem Problem konfrontiert.

Fernand wartete in den Hallen des Bunkers ungeduldig den Bericht ab, den man ihm gerade per Funk übermittelte.

"Also, Sie wollen mir sagen, dass ihr meine Tochter nicht aufspüren könnt?"

"Die Sache wäre anders, wenn es nicht so schneien würde. Der Schnee hat alle Spuren verwischt. Außerdem, hätten die Wachen unter den Tannen beim Fenster nicht so rumgewühlt, wären wir wesentlich schneller gewesen."

Der Anführer der Enfants de la Lumière versuchte, ruhig zu bleiben. Es gelang ihm nur unzureichend, immerhin schwebte sein eigen Fleisch und Blut in Gefahr. War möglicherweise tot …

"Ich will keine Ausreden, sondern Ergebnisse. Ihr habt für eure Vorbereitungen auch ziemlich lange gebraucht, möchte ich anmerken."

"Der Ausbruch hat uns alle kalt erwischt, Herr Maron, sogar Sie", verteidigte sich der Söldner. "Fakt ist, in diesem Schneetreiben können wir sie nicht mehr finden. Wenn sie liegen geblieben ist, finden wir sie wahrscheinlich erst im Frühjahr wieder. Tiefgefroren."

"Machen Sie ernsthaft Witze über den Tod meiner Angelika?", fragte Fernand mit eisiger Freundlichkeit.

Es zeigte Wirkung.

"N-Nein, Sir."

"Gut", kommentierte Fernando ruhig. "Hier ist, was wir tun werden, ich nehme mit ein paar Wachen den Heli und ihr gebt an uns die Routen durch, die Angelika mit höchster Wahrscheinlichkeit genommen hat. Ich kenne mein Mädchen. Sie ist bezaubernd ordentlich. Sie mag keine krummen Linien. Sie wird sich schnurstracks aus dem Wald begeben, wenn möglich."

Es herrschte kurz Stille über den Funk.

"Naja, wenn wir das, was wir wissen hernehmen … In der Nähe des Waldrands ist ein kleines Dorf …"


Die Kinder des Dorfes hielten Abstand zu Chloe, womöglich wegen ihrer Haare und ihrer ausgemergelten Erscheinung, Ku sei Dank …

So lustig alle das hier auch fanden, sie hatte begonnen, sich zu langweilen. Sie wollte nach Hause.
Nur, sie konnte Elli nirgendwo finden.

Ein bärtiger Mann, der aussah als hätte er etwas zu tief ins Glas geguckt, wies sie schließlich freundlich lächelnd in die richtige Richtung.

Sie fand Elli etwas abseits von der Feier zusammen mit Oma Nikitin vor. Keine von beiden schien sie zu bemerken, darum beschloss Chloe, die beiden Frauen ihren Plausch zu Ende führen zu lassen. Sie fand, das war Höflichkeit.

Und Neugierde auf das, was sie vielleicht über Ellis Leben hier erfahren würde …

"-und du bist uns nicht böse, dass wir eine solche Feier veranstaltet haben?", fragte Oma Nikitin gerade.

Elli zuckte mit den Schultern.

"Der sicherste Ort für Chloe ist im Moment eine große Menschenmenge und wer würde schon auf die Idee kommen, dass sie indirekt eine Party ausgelöst hat? Außerdem, nach dem Schock ist nette Gesellschaft wahrscheinlich gar nicht so schlecht."

"Sie wurde entführt", bemerkte die Greisin. "Sie steckt das ziemlich gut weg."

"Sie reist schon eine Weile mit mir", erklärte Elli knapp. "Und selbst wenn sie kommen, wir können jederzeit verschwinden."

"Dean wahrscheinlich schneller als du", vermutete Oma Nikitin verschmitzt. "Er scheint ein verantwortungsvoller Vater zu sein."

Elli rollte lachend mit den Augen.

"Oma, ich sage es so oft wie nötig, wir sind nicht miteinander verwandt. Chloe ist nicht unser Kind. Du weißt doch, ich … ich bin steril."

"Du kannst Gliedmaßen wiederherstellen und hast immer noch kein Mittel dagegen gefunden?", vergewisserte sich Oma Nikitin.

"Meine Heilmittel können nichts reparieren, das nicht kaputt ist, Oma …"

Das Thema schien Elli extrem unangenehm zu sein, darum entschied die alte Frau offenbar, es zu wechseln.

"Und wenn schon. Familie beruht nicht auf Blut", verkündete sie trocken. "Gerade in deinem Fall. Und eine zu gründen scheint dir geholfen zu haben. Ich habe dich kaum wiedererkannt, so aufgeweckt wie du geworden bist. Und du bist diesen albernen Würfel losgeworden."

Elli wurde ein wenig rot.

"Äh, den Würfel hat jetzt Dean …"

"Ah, ist wohl der Grübel-Würfel … Hoffen wir, dass Chloe ihn nicht erbt. Obwohl …"

Und dann ließ Oma Nikitin die Bombe fallen.

"Wie lange hat sie eigentlich noch?"

Elli legte die Stirn in Falten. Sie wurde blass.

"Äh, wie meinen?"

"Elli, lüg mich nicht an. Ich war ein kleines Mädchen, als Stalin an die Macht kam. Ich habe seitdem alles in diesem Land miterlebt. Ich habe meine Brüder im Krieg verloren, meinen Mann und fast alle Söhne und Töchter durch Krankheit und Hunger. Ich weiß, wenn es mit jemandem zu Ende geht."

"Ich weiß wirklich nicht, was du-"

"Elli …", knurrte die alte Frau nur.

Elli seufzte traurig.

"Einen Monat. Vielleicht auch nur noch ein paar Wochen, ich kann es nicht genau sagen. Es ist ein Wunder, dass sie sich noch bewegen kann."

Oma Nikitin nickte verständnisvoll.

"Was ist es, hat sie Krebs?"

Elli kramte in ihrer Tasche und nahm dann einen Schluck aus ihrem Flachmann, bevor sie antwortete.

"Wenn es doch nur Krebs wäre, den zu heilen ist ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, woran Chloe leidet."

"Also wüsstest du, wie du ihr helfen kannst?"

Elli wurde ärgerlich.

"Natürlich weiß ich das. Aber es ist ein Tausch, Oma. Chloes Leben gegen das von jemand anderem. Und es muss freiwillig gegeben werden. Wenn es ein Leben gegen viele ist, wäre es wesentlich einfacher, aber eins gegen eins? Kannst du so eine Entscheidung fällen? Kannst du Chloe zumuten, sie zu fällen?"

Die Greisin war kurz still.

"Hast du es ihr gesagt?", fragte sie dann.

"Nein", gab Elli zu. "Ich kann nicht, Oma. Nicht zu ihr … Nicht mehr …"

"Das habe ich mir gedacht", bemerkte Oma Nikitin. "Trotz all deiner Schläue und Gerissenheit bist du die närrischste Frau, die ich kenne, immer noch. Du hast sie wahrscheinlich mitgenommen, einfach weil du zu feige warst, nicht wahr?"

Elli deute anklagend mit dem Finger auf sie. Ihr standen Tränen in den Augen.

"DU hast kein Recht, mir Feigheit zu unterstellen! Ich habe Dinge erlebt, dagegen war der Zweite Weltkrieg und dein Horror der Sowjetunion der reinste Kinderspielplatz! Ich musste so oft mutig sein, Oma, also warum? Warum kann ich nicht einmal in meinem Leben Barmherzigkeit vor Tapferkeit stellen!?"

"Barmherzigkeit …", echote Chloe hinter ihr tonlos.

Die Risse um das schwarze Buch herum erweiterten sich …

Die Frauen drehten sich erschrocken zu ihr um. Elli holte sofort Luft.

"Chloe! Ich-"

"DAS nennst du Barmherzigkeit!?", schnitt Chloe sie ab.

Sie hatte es gewusst! Elli hatte es die ganze Zeit über gewusst! Chloe selbst zwar auch, aber der Druck, Elli darüber in Kenntnis zu setzen, war gigantisch gewesen. Er hatte sie nachts wachgehalten und an ihrem Verstand gezehrt. Immer hatte sie mit Schweißausbrüchen an den Moment gedacht, an dem Elli sie wegen ihrem körperlichen Zustand fragen würde. Aber jetzt ergab alles Sinn. Warum sie Chloe mitgenommen hatte und ihren sich immer weiter verschlimmernden Gesundheitszustand ignorierte. Elli war nicht einfach ahnungslos …

Sie konnte das noch so gut hinter mitleiderregenden Worten verbergen, aber Chloe, gewissermaßen Expertin im Belogen- und Ausgenutzt-Werden konnte sie nichts vormachen.

Wahrscheinlich belog sich Elli sogar selbst. Was sie für elterliche Zuneigung hielt, war wahrscheinlich nur die Erleichterung, dass die Ewigkeit etwas weniger langweilig geworden war, das hatte Chloe jetzt verstanden. Elli reihte sich einfach in die Reihe der Personen ein, für die Chloe nur der Mittel zum Zweck war. Wie ihr Vater und ihre Klassenkameraden.

Sie fühlte, wie der Zorn in ihr aufstieg. Sie fühlte sich betrogen.

"Was bin ich für dich, Elli? Ein Haustier, mit dem du dir in deinem unendlichen Leben die Zeit vertreiben kannst!?"

"Wa-", begann Elli, bevor sie sich sammelte. "Wie lange hörst du schon zu, Chloe? Hast du Oma Nikitin nicht gehört?"

"Dass wir eine Familie sind?", fragte Chloe aufgebracht. "Oh ja, wunderbare Observation von jemanden, der mich seit gerade mal ein paar Stunden kennt. Hast du Spaß daran gehabt, Mama spielen zu können? Was ist mit Dean? Hat er einen Computervirus, der ihm ganz langsam den Programmiercode wegfrisst?"

"Hör zu, Chloe, ich wollte dir helfen", verteidigte sich Elli aber Chloe schnitt ihr mit einer wütenden Geste das Wort ab.

Stücke begannen aus Chloes Geist herauszufallen wie Scherben und machten reinem Schwarz Platz.

"Helfen?! Du hättest damit anfangen können, mit mir reinen Tisch zu machen. Die ganze Zeit habe ich versucht, dir keine Sorgen zu bereiten!"

Elli zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.

"Du … Du wusstest Bescheid?"

Mit einem Knall weiteten sich die Risse auf die ganze Gedächtnisbibliothek aus. Ein Geräusch wie von zerbrechendem Glas erklang.

Chloe explodierte.

"NATÜRLICH WEIẞ ICH BESCHEID! ICH STERBE, ELLI!"

Elli liefen die Tränen über die Wangen.

"Chloe, es tut mir leid, ich-"

"Feier du ruhig zu Ende", sagte Chloe kalt. "Dann bringst du mich nach Hause und wir verständigen die Polizei und meinetwegen eine deiner supertollen Geheimorganisationen wegen meinem Vater. Und dann suchst du dir einen anderen Todkranken, an dem du deine Schuldgefühle abarbeiten kannst, denn ich habe es satt, von anderen benutzt zu werden wie ein Spielzeug …"

Sie lief an Elli und einer schockierten Oma Nikitin vorbei.

Sie wollte allein sein.

Hinter sich hörte sie, wie Elli schluchzend in die Knie sackte.


Dean hatte inzwischen auch nach Elli und Chloe zu suchen begonnen. Er benutzte es größtenteils als Ausrede, denn einige der Russen waren sehr hartnäckig dabei, ihn zum Trinken zu überreden. Die Erklärung, dass Dean keinen Alkohol trank, hatte sie nicht abgehalten.

Er fand Oma Nikitin hinter einigen Häusern vor. Sie versuchte eine in Auflösung befindliche Elli zu trösten, die das Gesicht in den Händen verborgen hatte und fürchterlich weinte.

"Was ist denn jetzt schon wieder?", fragte er genervt.

"Nah!", rügte ihn die alte Frau. "Deine Freundin ist am Boden zerstört, zeige etwas Feingefühl!"

Dean ignorierte sie geflissentlich. Er hatte schon lange aufgehört, Elli mit Samthandschuhen anzufassen, immerhin hörte sie so schon kaum auf ihn und er würde jetzt bestimmt nicht damit anfangen, Feingefühl einzusetzen.

"Elli, was ist denn?"

Sie sah zu ihm auf und begann, sich an ihn zu klammern. Dean registrierte ärgerlich, wie sie dabei Tränen und Rotz auf seine Hose schmierte.

"Dean", heulte sie. "Chloe- Chloe sie-"

Dean wurde von einer haltlos weinenden Elli über das in Kenntnis gesetzt, was sich ereignet hatte. Er hörte aufmerksam zu.

"Elli, weißt du noch, als du mich wegen meinem 'Putzwahn'", er malte hierbei mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, "in New York 1900 ausgesetzt hast? Mit den Worten, du hättest genug von mir?"

"Ich musste dich vor Edison retten", bestätigte Elli erstickt.

"Exakt, aber du bist zurückgekommen", brachte Dean seine Erläuterung auf den Punkt. "Manchmal sagen wir uns im Zorn eben Dinge, die den anderen verletzen, du solltest das besser wissen als ich. Und jetzt nimm Chloe her. Sie wurde vor einigen Stunden entführt, von ihrem eigenen Vater, der sie als kleines Kind gebrandmarkt hat und bei der Flucht wäre sie beinahe erfroren. Denkst du, das zieht schadlos an ihr vorüber?"

"Was meinst du?", fragte Elli.

"Ja überleg mal. Seit sie klein war wurde Chloe entweder gefoltert, vernachlässigt, gemobbt oder eine Kombination dieser Dinge. Glaubst du, dass sie wahre Zuneigung versteht, wenn sie sie nur von uns beiden kennt?"

Elli sah ihn stumm an und zog dann sehr geräuschvoll ihren Rotz die Nase hoch.

"Erstmal lassen wir sie in Ruhe und dann rede ich mal mit ihr, in Ordnung?", fragte Dean, jetzt, wo sich Elli endlich wieder eingekriegt hatte. "So, und jetzt hör auf, dich wie eine Drama-Queen aufzuführen, wir feiern gerade."

Elli nickte und stand langsam wieder auf.

"Jemand- Jemand sollte nach ihr sehen", legte sie fest.

"Oh, da findet sich jemand", winkte Dean ab und hielt inne. "Hört ihr das?"

Elli und Oma Nikitin legten die Hände ans Ohr.

Es klang nach einem sich nähernden Hubschrauber.

"Nein, nein!", murmelte Elli. "Wie haben die uns gefunden?"

"Offenbar war der Schnee nicht ganz so gründlich, wie du gedacht hast", vermutete Dean.

"Wir müssen uns aufteilen und Chloe finden!", sagte Elli. "Oma, sag den anderen, dass sie schnellstmöglich aufgespürt werden und zu mir gebracht werden muss, wir verschwinden sofort von hier!"


Chloe hatte sich zu Oma Nikitins Häuschen zurückgezogen. Ihr riesiger Kater Miron leistete ihr schnurrend Gesellschaft.

Das Geräusch half ihr, wieder runterzukommen. Aber ihr Zorn auf Elli blieb.

Sie fragte sich, ob es jemals eine Zeit geben würde, in der sie nicht irgendjemandes Opfer darstellte.

Zumindest Miron schien Chloe ohne Hintergedanken Gesellschaft zu leisten. Er war mit aufgestelltem Schwanz hinter einem Holzstapel hervorgekommen und hatte es sich auf Chloes Schoß bequem gemacht.

Sie befand sich am Rand des Dorfes und dadurch hatte sie einen weiten Blick über die schneebedeckten Felder, die das kleine Dorf umgaben.

Das Geräusch eines Hubschrauberrotors drang an ihre Ohren. Und es kam näher.

Chloe scheuchte Miron von sich herunter und versuchte, hinter einigen Holzstapeln in Deckung zu gehen, aber es war zu spät. Über die Dächer hinweg kam der Hubschrauber angeflogen und machte plötzlich kehrt, um direkt neben Oma Nikitins Haus zu landen. Er wirbelte wahre Wolken aus Schnee auf.

Aus ihrem Versteck heraus sah Chloe, wie zwei Schergen mit Sturmgewehren und ihr Vater mit einer Pistole in der Hand ausstiegen. Er hielt genau auf sie zu.

"Angelika", sagte er sanft. "Bitte hör auf, dich zu verstecken. Wir haben das Problem gelöst. Dieses Mal wird es funktionieren, vertrau mir."

Chloe sah sich nach Fluchtmöglichkeiten um. Es gab nicht viele.

"Ich werde nicht zu deinem Engel!", warf sie ihrem Vater entgegen und rannte einfach los.

Elli hatte ihr Panazee verabreicht, doch die Medizin tat nichts für ihren stark beeinträchtigten Körper.

Ihr Vater nahm die Verfolgung auf.

Chloe rannte zwischen den Häusern hindurch und stieß gegen Elli, die ebenfalls im Laufschritt unterwegs war. Instinktiv trat sie ein paar Schritte rückwärts.

"Chloe!", sagte Elli derweil erleichtert. "Komm schnell mit, wir müssen-"

PENG!

Elli und auch Chloe schauten fassungslos auf den Punkt auf Ellis Brust, in den die Kugel aus der Waffe ihres Vaters eingetreten war. Sie hatte Elli durch den Rücken verlassen und war in einer Hauswand steckengeblieben.

Hinter Chloe stampfte ihr Vater heran.

"Beleidige meine Tochter nie mehr mit diesem grässlichen Namen …", zischte er wütend.

Chloe stand zu sehr unter Schock um weiter davonzulaufen. Ihr Vater packte sie an der Hand und zog sie hinter sich her.

Elli, die stumm hinter ihm in die Knie ging und zu Boden fiel, würdigte er keines Blickes.

"ELLI!", brachte Chloe endlich hervor.

Auch wenn Elli sie nur benutzt hatte, alles war besser als die Gegenwart dieses Mannes. Chloe wehrte sich nach Kräften und schrie wie am Spieß, aber ihr Vater und dann auch seine Schergen zerrten sie auf den Helikopter zu, der prompt abhob.

Unter sich sah Chloe Ellis Körper, der den Schnee um sich herum allmählich rot färbte.


Denk nach!

Elli war gelähmt. Einmal durch die Angst um Chloe und einmal durch den Schmerz, den ihr die Schusswunde bereitete. Ihr Herz schien verfehlt worden zu sein, aber ihr linker Lungenflügel war nun nutzlos.

Sie konnte den Nexus nirgendwo gefahrlos öffnen und sie spürte regelrecht, wie ihre Gedankengänge immer langsamer wurden, während ihr Blut aus dem Körper sickerte und ihre Lunge füllte. Sie lag nun schon seit einer Weile hier rum. Um sich herum hörte sie Schritte und Rufen, aber keiner sah hier zwischen den Häusern nach. Wahrscheinlich dachten sie, dass die Schreie und Schüsse am Helikopterlandeplatz gefallen waren.

Ich verblute hier, verdammt!

Dann hörte sie endlich panisches Rufen und schnelle Schritte im Schnee, die sich ihr näherten.
Hände ergriffen sie und drehten sie um.

"Tür …", würgte sie hervor.

Blut lief ihr aus dem Mund.

Bleib wach! Konzentrier dich!

Sie erkannte einen der Dorfbewohner über sich, einen der Alteingesessenen. Er schien nicht so recht zu wissen, was er tun sollte.

"Tür … Hinein …", brachte Elli unendlich mühsam hervor.

Allmählich machte sich die Sauerstoffarmut in ihrem Hirn bemerkbar.

Aber dann begriff ihr Helfer. Elli wurde auf die Hände genommen, was kleinere Explosionen in ihrer Brust auslöste und sie wieder etwas aufweckte.

Sie zwang sich die Augen offenzuhalten, während der Mann eine Tür ansteuerte. Elli formte ein Nexusportal.

Der Mann beschleunigte seine Schritte.

Dann waren sie hindurch.

Sofort teleportierte Elli den nötigen Sauerstoff in ihr Hirn, dann schloss sie ihre Wunde und beförderte das Blut auf ihrer Kleidung und in ihrer Lunge in ihren Körper zurück. Weiteres Material wurde aus dem Nexus ihn ihre Blutbahnen teleportiert und setzte sich dort zu frischen Blutzellen zusammen.

Der Mann beobachtete die Genesung mit Unglauben und nahm hastig Abstand, als Elli wieder stehen konnte.

Jeder der dieses Gesicht gesehen hätte, hätte das Gleiche getan …


Dean hatte Schreie und einen Schuss gehört, aber an dem Ort, an dem er den Hubschrauber hatte aufsteigen sehen, konnte er keine Verletzten Finden. Einige Dorfbewohner hatten Schaufeln besorgt und gruben sich durch den Schnee, um eventuelle Verletzte zu finden, die darunter versteckt worden waren, aber sofern vergeblich. Zusammen mit Chloe konnte er auch Elli nirgendwo finden.

Er suchte gerade nach ihr, als sich in einer Haustür neben seinem Suchtrupp ein Nexusportal öffnete. Einer der Dorfbewohner stolperte heraus, mehr von Furcht getragen als von irgendwas anderem.

"Dean?", schallte eine Stimme aus dem Portal, deren Ton allen Anwesenden das Blut in den Adern, beziehungsweise die Betriebsflüssigkeit in den Leitungen gefrieren ließ. "Komm bitte her. Ich weiß, wo Chloe ist …"

Dean wechselte einen kurzen Blick mit den Männern und Frauen, die ihn begleitet hatten. Sie kamen alle stumm zu der Übereinkunft, dass das allein sein Problem war.

Elli war sauer. Erderschütternd, weltenversengend sauer.

Und irgendwer würde dafür bezahlen …

Das nächste Mal bei Nexus:
Das Schlimmste Geschenk, Teil 3

Sofern nicht anders angegeben, steht der Inhalt dieser Seite unter Lizenz Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 License