Das Schlimmste Geschenk, Teil 1

scp-heritage-v3.png
Bewertung: +2+x
Bewertung: +2+x

Das letzte Mal bei Nexus:
Ruinen des Wahnsinns, Teil 3

Chloe wusste nicht, wie lange sie unterwegs gewesen waren. Erst waren sie in einem Auto gewesen, das durch eine Art Lichttunnel gefahren war, dann in einem Zug, dann wieder in einem Auto und jetzt saß sie, gekleidet in ihrem Pyjama und eine viel zu große Wattejacke in einem kleinen Helikopter. Zusammen mit ihr waren zwei Individuen in abgenutzter Militärkleidung in der Passagierkabine.

Und er.

Chloe hatte sich mit allem was sie hatte gewehrt, als sie seine Stimme gehört hatte, hatte Sachen nach ihm geworfen, aber er war zu stark und sie zu geschwächt gewesen. Es war ein Leichtes gewesen, sie zu fangen.

Die ganze Zeit über hatte er sich in ihrer Nähe befunden, versucht sie anzusprechen, aber Chloe hatte nicht reagiert.

Es gab nichts, was sie abgrundtief hasste wie diese Stimme, diese elende, sanfte Stimme.

Der Mann zu dem sie gehörte war ziemlich breit gebaut aber keineswegs dick. Geheimratsecken fraßen sich ein sein allmählich ergrauendes, braunes Haar. Er trug einen grauen Reisemantel und darunter einen billigen Anzug mit Krawatte.

Er reichte ihr ein Milchbrötchen. Sie wich aus Reflex vor ihm zurück.

"Bitte iss etwas, Angelika. Du bist so dürr geworden", bat er besorgt. "Ich hätte dich mir nie von deiner Mutter wegnehmen lassen dürfen."

Chloe schlug ihm die Backware in Panik aus der Hand und versuchte, sich weiter in ihre Ecke zurückzuziehen. Sie ließ ihn nicht aus den Augen.

Der Mann ließ sich seufzend wieder zurücksinken.

"Ich weiß, dass es manchmal schwer war, Angelika. Aber ob du es mir glaubst oder nicht, ich habe es zu deinem Wohle getan. Zum Wohle meiner Tochter."

"Toch … ter …", brachte Chloe endlich hervor.

Sie schüttelte voller Ablehnung den Kopf.

"Ich kann nicht deine Tochter sein. Du hättest sonst nie-"

Sie presste ihren Rücken gegen die Wand, als die Erinnerung hochkam. Die Hitze, das glühende Eisen, das Geräusch brennenden Fleisches. Der Schmerz …

Er vermied es, sie anzusehen.

"Ich habe daran keine Freude gehabt, Chloe", verteidigte er sich traurig. "Aber es war notwendig."

"Notwendig … Wofür?"

Chloe war den Tränen nahe.

"Wofür ist sowas notwendig?"

Er überlegte kurz.

"Es würde nichts bringen, es dir jetzt zu erklären, darum habe bitte etwas Geduld. In etwa einer Stunde wird alles für dich Sinn ergeben."


Chloes Schrank öffnete sich und Elli trat aus dem Nexus. Sie wollte Chloe zum Frühstück im Schloss von Versailles 1780 abholen.

Sie hatte sich noch nicht eingekleidet und trug nur eine Jeans und ein rotes T-Shirt.

Sie betrachtete den Raum mit einem Stirnrunzeln. Chloe war nicht da.

Sie war nach Dean die ordentlichste Person, die Elli kannte, aber ihr Zimmer sah aus, als hätte ein kleiner Tornado hindurchgeweht. Mehrere Bücher lagen auf dem Boden und ein Stuhl war umgekippt.

Moment, wenn man sich überlegte, dass zwei Personen in diesem Raum gewesen waren …

Chloes Rabenmutter pennte unten auf der Couch, Elli hatte selbst dafür gesorgt, nachdem sie ihr aus purem Ärger genug Betäubungsmittel eingeflößt hatte um eine Kuh ruhig zu stellen. Sie schied also aus.

Sie schritt zurück in den Nexus.

"Was ist?", fragte Dean als sie ins Wohnzimmer kam. "Hat Chloe dich rausgeworfen?"

"Sie ist nicht da, Dean. Und es schaut aus als hätte sie jemand entführt", erklärte Elli, während sie ihr Kosmoskop aufsuchte.

"Bist du dir da sicher?", fragte Dean skeptisch, während Elli ihr Observatorium betrat und zahlreiche Einstellungen vornahm.

"Gleich bin ich das."

Sie schaute in das Okular.

"Aha! Schalt mal den Drucker ein, Dean."

Dean tat wie geheißen und tippe an die dünne graue Scheibe, die an der Wand hing. Sie fing an zu leuchten und aus einem breiten Schlitz wurde ein Bild hinausgeschoben.

"Ich habe den Minimalismus des fünfunddreißigsten Jahrtausends nie verstanden …", merkte Dean an, während er das Bild entgegennahm.

Das Bild zeigte Chloe mit schützend erhobenen Armen, vor ihr stand ein Mann von dem Elli unter anderen Umständen ruhigen Gewissens ein Auto gekauft hätte.

"Wer ist das?", fragte er.

"Das werde ich später in Erfahrung bringen, erstmal muss ich ihn verfolgen", gab Elli zurück, während sie den Blickwinkel des Kosmoskops steuerte.

Dann stampfte sie ärgerlich mit dem Fuß auf.

"Verdammt! Das Auto ist verschwunden! Die Blödmänner haben irgendeine Tarnvorrichtung die das Kosmoskop nicht durchschaut … Scheiße!"

Sie begann im Observatorium nervös auf und ab zu gehen.

"Wir könnten uns bei der Foundation reinhacken und gucken wer der Kerl ist", schlug Dean vor.
Elli schüttelte mit dem Kopf.

"Die Datenbank ist mir nicht groß genug, außerdem ist der Kerl nicht auf ihrem Radar, wenn er weiß, was gut für ihn ist … Ich brauche irgendwas Größeres … Irgendwas Gewaltiges … Etwas, das seine Augen und Ohren auf der ganzen Welt ha-"

Sie begann grimmig zu grinsen.

"Perfekt …"


Tief im schneebedeckten Sibirien hatte das "Fortschritt"-Forschungsinstitut der untergegangenen Sowjetunion eine kleine Bunkerfestung gebaut, die über einem Wald thronte. Das Institut war dazu gegründet worden, das Anomale zum Wohle des Kommunismus zu erforschen, doch das Projekt scheiterte an den unterschiedlichen Vorstellungen der Forscher und der sowjetischen Regierung. Nach dem Untergang der Sowjetunion 1991 wurde die Festung geplündert und vom Staat der Witterung überlassen. Niemand der in der Nähe lebte, wollte sie beziehen, denn man hatte sogar die Heizkörper und das Fensterglas mitgenommen. Es war lausig kalt da drin.

Doch seit einigen Monaten munkelte man in den umliegenden Dörfern, dass es einen neuen Herrn auf dem Hügel im Walde gab.

Die Festung hatte einen kleinen Hubschrauberlandeplatz, auf dem die Flugmaschine mit Chloe an Bord aufsetzte. Ihr Vater wollte ihr die Hand reichen aber sie trat sie weg. Und wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, den Hubschrauber zu verlassen. Einer der Männer, die sie begleitet hatten, musste behandelt werden, weil Chloe ihm in ihrer Panik ein Stück aus der Hand gebissen hatte. Vermutlich verhinderte nur der Befehl ihres Vaters, dass man nicht auf sie schoss. Es verhinderte aber nicht, dass sie mit einem Gewehrkolben bewusstlos geschlagen wurde.

Danach bekam sie nur sporadisch etwas von ihrer Umgebung mit. Man hatte sie auf eine Liege geschnallt. In ihren Wachphasen sah sie, wie sie durch die kalten Betongänge gerollt wurde und wie man ihr ein schlichtes Leinen-Kleid anlegte. Eine Frau untersuchte sie mit grellem Licht. Sie verstand nicht viel, außer "Die Stigmata sind weg!"

Chloe wachte erst wieder richtig auf, als sie in eine Art Operationssaal gerollt wurde. Es gab allerdings kein chirurgisches Werkzeug. Da waren zahlreiche Computerstationen und ein per Treppe erreichbarer Überwachungsraum. An der Decke war eine längliche, mit unzähligen Drähten übersäte Apparatur angebracht. Ein Ende deutete nach unten und besaß eine Art Metallkranz.

Ihr Vater lief neben ihr, während sie in den Raum mit den kahlen Betonwänden gerollt wurde.

"Was … Was ist das hier?", fragte sie benommen.

"Es wird alles bald vorbei sein, Angelika", vertröstete sie ihr Vater und wandte sich an einen etwas übergewichtigen Mann.

Der Kerl trug fast nur Kleidung aus Jeansstoff und eine Schweißerbrille. Dazu kamen helle Haare und ein roter Bart. Er schien in seinen Dreißigern zu sein.

"Ist alles bereit, Linker?", fragte ihr Vater.

"Mh, fast", sagte der Mann.

Durch ihr Übersetzungspflaster hörte Chloe keine Akzente, aber sie hörte zumindest heraus, dass der Mann seine Worte betonte als wäre er russischer Muttersprachler.

"Müssen noch ein paar Einstellungen ändern. Stigmata sind weg, aber himmlische Resonanzenergie ist viel höher als gedacht. Man muss für sowas normalerweise heiliggesprochen werden oder so … Lumiere wird fließen können wie guter Wein in einem Rachen. Sobald die Maschine läuft, bin ich weg, ja?"

"Dann ist Ihr Auftrag erfüllt, ja. Ihr Geld sollten Sie bereits erhalten haben, nicht wahr?"

Linker nickte.

"Und Sie wissen, was passieren wird, wenn etwas schiefläuft?"

Der Mann schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln.

"Herr Maron, keine Sorge. Apparate von Linker mögen aussehen wie zusammengeschustert aber arbeiten immer wie angeworben. Aber ich muss fragen … Wollen Sie das wirklich ihrer eigenen Tochter antun?"

"Was meint er?", fragte Chloe.

"Reden Sie nicht von 'antun'", blaffte ihr Vater verärgert. "Meine Angelika wird das größte Geschenk empfangen, das je ein Mensch erhalten hat."

"Ich will es nicht haben!", rief Chloe in Panik.

"Du weißt nicht, was du willst, Angelika", redete ihr ihr Vater beruhigend zu. "Keine Sorge. Es wird nicht was du vielleicht denken magst. Nie würde ich meinem Kind ein Leid geschehen lassen …"

"Mein Herr, sie werden ihr Gedächtnis löschen müssen, wenn Sie das wirklich durchziehen wollen", wies ihn Linker besorgt darauf hin. "Das ist der Tod mit anderem Namen."

"Aber sie wird leben", beharrte sein Auftraggeber. "Für immer …"

Gedächtnis löschen?

Hinter Linker machte irgendwas laut "DING!".

"Ah, Einstellungen abgeschlossen, es kann los gehen", meldete er an.

"Wundervoll", flüsterte Chloe's Vater.

"Nein!", kreischte Chloe. "NEIN!"

Unter Schreien und Weinen wehrte sie sich gegen ihre Fesseln, doch sie war mit Lederriemen an ihre Liege gefesselt. Während sie unter die Vorrichtung geschoben wurde, stieg ihr Vater hoch in der Observationsraum und erweckte mit einem Knacken die Sprechanlage zum Leben.

"Meine Kameraden. Ich weiß, seit unserem Unglück in der Antarktis war es nicht gerade leicht für uns. Aber wir haben uns wieder aufgerappelt, uns neuformiert und einen neuen Plan entwickelt. Den ursprünglichen Plan."

Die Vorrichtung erwachte mit einem zumindest für Chloe unheilvollen Summen zum Leben.

"Ich gebe zu, nachdem mir Angelika von ihrer dummen, dummen Mutter gestohlen wurde, saßen wir eine Weile in der Bredouille, aber zum Glück ist den deutschen Behörden die Sicherheit ihrer Server weitgehend egal und Kassandra Winter ein noch größerer Idiot als bisher angenommen."

Chloe musste den Blick abwenden, als sich im Metallkranz vor ihrem Gesicht eine Kugel aus grellweißem Licht formte.

"Wir haben Angelika aufgespürt. Wir haben uns eine Basis gesichert und unter der tatkräftigen Mithilfe des einzigwaren Linker alles vorbereitet was es braucht. Und nun steht der Augenblick unmittelbar bevor. Trotz der Einmischung vom Orden des Lichts, der Foundation und so vielen anderen erleben wir nun die Ankunft von Ihm. Dem Objekt unserer Verehrung. Die Herabfuhr des Erzengels Uriel! Möge unser Gefäß seiner würdig sein …"

Das Gerät feuerte und Chloe schrie auf vor Schmerzen.


Ku schmökerte gerade in Chloes Erinnerungen, als das Dach ihres Gedächtnisses durchbrochen wurde. Eine Art weiß leuchtende Masse kam durch das Loch. Aus allen Teilen der Bibliothek schossen Lichtstrahlen empor und erfassten das sonderbare Gebilde. Sie wirkten wie Ankertaue.

Langsam kam das Ding hinunter. Es ragte vor Ku auf wie ein Berg.

"Hey, mein Kopf, such dir deinen eigenen!", rief Ku ihm erbost zu.

Die Masse gab eine Art Heulen von sich, das klang wie ein Kirchenchor. Dann breitete es sich in der ganzen Bibliothek aus.

Bevor es von einem Netzt aus silbernen Fäden wieder zusammengezogen wurde.

"Ich weiß, ich kann Chloe draußen nicht helfen ohne sie zu töten", grinste Ku höhnisch. "Aber hier, im Zentrum ihres Verstandes, sieht die Sache etwas anders aus, Uriel … Du erinnerst dich hoffentlich noch an Luzifers Exempel. Was passiert, wenn ein Engel gegen einen Gott kämpft …"

Die Masse versuchte, ihren Fesseln zu entkommen, aber sie zogen sich nur noch weiter zusammen.
"Hinfort mit dir", sagte Ku.

Das Gebilde wurde nach oben geschleudert und durch das Loch befördert, das sich hinter ihm sofort schloss.


Chloe schlug benommen die Augen auf. Die Maschine über ihr wirkte verbrannt und sonderte große Mengen Qualm ab. Sie schien weiter von Chloe entfernt zu sein als zuvor.

Sie merkte, dass zwar ihre Kleidung intakt, aber die Liege unter ihr geschmolzen war. Ihre Fesseln waren verbrannt. Hastig sprang sie auf, als sie die Hitze bemerkte.

"Feedbackschleife! Feedbackschleife!", hörte sie Linker durch den dichten Rauch fassungslos rufen, während sie sich aufrappelte. "Das ist völlig unmöglich! Es sei denn …"

"Vergessen Sie die Maschine, wo ist Angelika!?", rief ihr Vater. "Ist sie unversehrt!?"

Chloe nahm dies als das Zeichen, so schnell wie möglich zur Tür zu rennen. Man hatte sie geöffnet, damit der Qualm entweichen konnte.

Ein Mann in abgewetzten Klamotten sah sie aus der Tür rennen.

"He! ALARM! DAS GEFÄẞ VERSUCHT ZU FLIEHEN!"

Chloe hörte hektisches Getrampel aus allen Richtungen. Noch dazu war es in diesen Korridoren lausig kalt.

Moment, warum?

Da Chloe keine Schuhe oder Socken trug, hafteten ihre Füße gut auf dem Betonboden und sie schlitterte nicht, so schaffte sie es, auf eine Galerie zu gelangen, auf der sich einige kleine Fenster aneinanderreihten. Doch aus beiden Richtungen kamen bereits die Schergen ihres Vaters angestürmt.

Es gab keine Glasscheiben. Die Fenster waren einfache Löcher in der Wand. Und außer Chloe passte niemand hindurch …

"Bist du wahnsinnig!?", brüllte ihr eine der Wachen zu, bevor Chloe durch das Fenster gekrochen war und auf der anderen Seite herauskam.

Sie bemerkte zu spät, warum man ihr das zugerufen hatte.

Schreiend fiel sie etwa fünf Meter in die Tiefe, während sich über ihr durch das Fenster gereckte Hände um lehre Luft schlossen. Nach diesen fünf Metern schloss sich eine schräg abfallende und vereiste Wand an, die Chloe hinunterrutschte. Sie ging wieder in eine gerade Wand über, was dazu führte, dass Chloe von der Mauer flog und im Wipfel einer sibirischen Fichte landete, die zusammen mit einigen Artgenossen auf dem ehemaligen Perimeter des Geländes gewachsen war. Chloe hatte noch genug Geistesgegenwart, sich in die Zweige zu krallen, bevor die Schwerkraft sie wieder für sich beanspruchte. Über sich hörte sie hektisches Rufen. Sie musste schnell von diesem Baum runter.

Nach einer Kletterpartie, die mehr aus Fallen als aus Klettern bestand, klatschte Chloe auf den Boden. Eigentlich wollte sie liegenbleiben und über ihre Schmerzen jammern, aber der rational denkende Teil von ihr hatte die Kontrolle übernommen und zwang sie wieder auf die Füße, damit sie so weit von der Festung wegrennen konnte wie möglich. Über ihr begann es zu schneien.

Aus dem Rennen wurde unterwegs Stolpern, Abhänge-Hinunterrollen, gehen, Humpeln oder eine Kombination dieser Dinge. Chloe wusste nicht, wie lange sie sich vorwärts bewegt hatte, als vor ihr der Rand des schneebedeckten Waldes auftauchte.

Aber zusammen mit dem Wald hörte auch allmählich der Einfluss ihres Adrenalins auf. Chloe war eiskalt und sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Zähne klapperten unkontrollierbar, während sie sich erschöpft auf den Waldrand zu schleppte.

Eigentlich hatte sie schon vor Stunden schlafen wollen und auf der Liege hatte sie schwerlich erholsam geruht. Diese Anstrengung hier war nun der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Chloes Beine gaben nach und sie fiel auf den vereisten Waldboden. Sie zitterte noch stärker. Durch die Baumwipfel rieselte Schnee herab, während Chloe weiterkroch.

Du darfst nicht einschlafen! Wenn du einschläfst, bist du tot!

Aber entgegen aller Vernunft forderte ihr Körper sein Recht.

Aufstehen kam nicht in Frage und noch dazu hatte Chloe immer mehr Mühe, die Augen offen zu halten. Die Welt begann zu verschwimmen bevor sie abzudriften begann. Das letzte was sie sah, war ein großer, gegen die Morgensonne schwarz erscheinender Schemen, der vor ihr auftauchte.

"Ach du lieber Himmel, was ist denn mit dir passiert!?"


Network Travel war ein kleines Reiseunternehmen, das herausragenden, geradezu anomalen Service mit günstigen Preisen verband. Ein noch unbekannter aber aufsteigender Stern im Reisegeschäft.

Aber das interessierte Elli nicht. Sie interessierte sich allein für den rothaarigen Mann am Empfang in dem hellen Reisebüro. Überall gab es Werbung und im Schaufenster stand eine Schaufensterpuppe in Wanderausrüstung. Dean, der den Raum hinter Elli betrat, sah sich prüfend um und vergab scheinbar acht von zehn Punkten für Sauberkeit.

Der Empfangsmann trug einen Anzug mit einer schlichten, blauen Krawatte. Elli langweilte sowas. Sie trug zwar auch gelegentlich Krawatten, aber ihre hatten wenigstens schöne Muster oder lustige Motive.

"Kann ich was für Sie tun?", fragte der Mann, aber Elli schenkte ihm nur ein Lächeln, das ihn sofort zum Verstummen brachte.

"Sie nicht", antwortete sie verbindlich. "Aber Ihr Chef schon."

"Äh, wenn sie den Branchenmanager sprechen wollen, der-"

Elli unterbrach ihn mit einer Handgeste.

"Nein, ich meine nicht Ihren Chef, ich meine Ihren Chef."

Der Empfangsmann fuhr sich nervös über die Lippen.

"Ähm, ich verstehe nicht-"

Elli wurde allmählich sauer.

"Ihr Chef aber sicher schon. Komm jetzt raus oder ich jage eine deiner Fabriken in die Luft …"

Der Mann erstarrte kurz mit einem verängstigten Blick im Gesicht, bevor er plötzlich lächelnd eine Augenbraue hochzog.

"Wir wissen beide, dass du das nicht tun wirst Elli."

"Das klang aber gerade noch ganz anders", bemerkte Dean.

"Geht doch", brummte Elli. "Dean, das ist Hive. Hive, Dean."

"Hallöchen", begrüßte ihn Hive.

"Hive wie in Hive Mind?", fragte Dean.

"Oh allerdings", bestätigte Hive. "Hab in der Vergangenheit versucht, Elli aufzunehmen. Ganz schlechte Idee. So, was führt dich heute zu mir?"

"Ich suche nach diesem Mann hier."

Elli legte der Schwarmintelligenz den Kosmoskopausdruck vor. Die studierte ihn kurz.

"Fernand Maron", sagte sie dann erstaunt. "Wie hat der es geschafft, ausgerechnet dich anzupissen?"

"Wer ist er und wo ist er?", fragte Elli barsch.

"Kann ich dir sagen, aber was springt für mich dabei raus?", fragte Hive.

"Ich habe dich damals auf Malta verschont", erinnerte ihn Elli.

"Schon, aber nur weil du mus-"

"Ich kann es rückgängig machen", drohte sie.

Hive gluckste.

"Noch eine Sache, von der wir beide wissen, dass du sie nicht tun wirst."

"Oh wirklich?", fragte Elli mit schneidender Stimme. "Schau Hive, ich weiß im Moment selbst nicht, was ich tun würde und was nicht. Wenn ich du wäre, würde ich Angst haben …"

Die Schwarmintelligenz sah sie einen Moment lang an.

"Na ach du Scheiße, ich will nicht in Marons Schuhen stecken, wenn du ihn findest", merkte Hive dann an. "Also gut. Der Kerl gehört einer Art Sekte an, Enfants de la Lumière. Hat vor ein paar Monaten versucht, der Welt eine Schwarmintelligenz aufzuzwingen, hatte gedacht, er hat Uriel beschworen."

"Hat er das denn?", fragte Dean.

"Hölle, wenn ich das wüsste", antwortete Hive schulterzuckend. "Hat sich auf jeden Fall aufgeführt wie ein Engel. Hab das Arschloch aber ausgelöscht. Maron habe ich aber leider nicht gekriegt. Schätze aber, er hat seine Lektion gelernt. Er hat seitdem nicht wieder versucht, Schwarmintelligenzen zu erzeugen."

"Und das weißt du woher?", wollte Elli wissen.

"Steht unter Beobachtung. Hat sich in Russland verschanzt, bastelt an irgendeinem Todesstrahler rum oder so. Keine Ahnung, was da vor sich geht aber er hat Linker angeheuert. Interessiert mich aber auch nicht wirklich. Ich klaue ihm einfach seine Entwürfe wenn er fertig ist und gut."

"Wer ist Linker?", fragte Dean.

"Ein russischer Tüftler", erklärte die Schwarmintelligenz. "Brillanter Ingenieur auf dem Gebiet des Anomalen, seine Erfindungen machen vielleicht optisch nicht viel her aber er liefert. Immer."

Sie begann zu lächeln.

"Aber irgendwann kriege ich ihn, verlasst euch drauf."

Sein selbstgefälliges Lächeln schlief ein, als er Ellis Grinsen bemerkte.

"Und wo genau befindet sich sein Auftraggeber jetzt gerade?", fragte sie.


Sie war vielleicht dreieinhalb Jahre alt gewesen, als Chloes Vater sie das erste Mal mit in den Keller nahm. Sie hörte ihrem Vater zu, während er von Uriel predigte. Für sie war es nichts weiter gewesen als eine Gutenachtgeschichte.

Und dann kam das Brandeisen.

Sie hatte noch nie solche Schmerzen gefühlt. Sie weinte und nicht mal ihre Mutter vermochte sie zu trösten.

Von da an ging es jeden Monat hinunter in den Keller. Chloe hatte keine Ahnung, warum sie bestraft wurde. Ihr Rücken glich mehr und mehr einem Kirchenfenster und sie begann, ihn so gut es ging zu ignorieren, selbst wenn sie jemand darauf ansprach. Ihre Mutter tat ihr Bestes, ihr die Tränen zu nehmen, aber Chloe bemerkte dann und wann die blauen Flecken an ihrem Körper …

Wenn Erzieher in ihrem Kindergarten darauf aufmerksam wurden, zogen sie unvermittelt um. In der neuen Wohnung ging es dann sofort wieder in den Keller.

Mit sechs Jahren gab ihr Geist schließlich unter dem Druck nach. Sie und ihre Mutter wurden gepeinigt, weil sie selbst nicht gut genug war, das musste es sein. Wenn sie besser wurde, dann würde sie nicht mehr in den Keller müssen, ganz bestimmt!

Von da an hielt sie ihre Tränen immer zurück.

Sie verbarg ihren Körper immer unter Kleidung.

Sie zwang sich zu lächeln, egal wann und wo …

Und eines Tages war ihr Vater fort und ihre Mutter hatte keine Verletzungen mehr.

Chloe hatte das Richtige getan. Sie musste weitermachen. Egal was andere von ihr hielten, wenn sie unabhängig von der Situation gut gelaunt erschien. Wenn sie ihren eigenen Schmerz ignorierte.

Sie musste ein gutes Mädchen sein …


Chloe spürte anfangs nicht fiel, außer Wärme. Jede Menge davon. Dann gesellte sich allmählich das Knistern von brennendem Holz dazu. Und dann … Ein Elektromotor?

Ihr tat alles weh …

Langsam und widerwillig schlug sie die Augen auf …

Sie befand sich in einer kleinen, für deutsche Verhältnisse schlecht gezimmerten Holzhütte. Die Wände waren voll mit Bildern und Stickereien, auf jeder Anlage war ein Deckchen drapiert.

Irgendwer hatte sie in mehrere Decken eingewickelt und vor einem Kachelofen platziert. Ein riesiger, schwarz-braun-getigerter Kater hatte sich an sie gekuschelt und schnurrte ziemlich laut.

Irgendwas klimperte und dann kam ein ebenfalls großer, grauer Hund in den Raum und schnupperte neugierig an ihrem Gesicht. Chloe hatte keine Ahnung, ob er einer Rasse angehörte, aber man sah ihm seine Verwandtschaft mit dem Wolf deutlich an. Der Kater schien offenbar mehr vom Umgang mit Verunglückten zu wissen als der Hund, denn er knurrte kurz genervt. Der Hund zog sich sofort zurück.

Da er nun aus Chloes Blickfeld war, fiel ihr Blick endlich auf die scheinbare Herrin dieses Häuschens. Es war eine gebeugte, uralte Frau mit einem wettergegerbten Gesicht so alt wie die Zeit. Sie trug ein blaues Kopftuch mit Polka-Punkten und ein weites braunes Kleid aus einem widerstandsfähigen Stoff.

"Ah, endlich wach", bemerkte sie mit einer sehr hohen Stimme.

Chloe hatte keine Ahnung wie es war, eine Großmutter zu haben, aber sie hatte sich immer vorgestellt, dass sie wahrscheinlich genau so klang.

"Hab schon gedacht, dich hätte die Kälte geholt", fuhr sie fort. "Aber was machst du auch nur in einem Kleid da draußen? Barfuß noch dazu. Du hast Glück, dass du keine Zehen verloren hast."

"Wo … Wo bin ich?", fragte Chloe schwach.

"Du bist im Warmen, das reicht ja wohl", murrte die Frau. "Ich habe dich beim Holz-Sammeln am Waldesrand gefunden. Musste mein ganzes Bündel dalassen, um dich nach Hause zu schaffen. Ich hab gerade Worobjow Bescheid gegeben, ist zwar kein Doktor aber das nächste, was wir hier im Dorf zu einem Arzt haben. Ah, wenn man vom Teufel spricht …"

Ein kleiner Mann mit Schiebermütze, schwarzem Mantel und runder Brille trat ein. Man konnte durch seinen braunen Bart und sein Haar nicht viel von seinem Gesicht erkennen, außer der Oberlippe."

"Entschuldigung, Frau Nikitin, musste meine Tasche noch holen, wo ist der Patient?"

Frau Nikitin deutete mit dem Daumen in ihre Wohnung.

Der Sanitäter trat geschwind in den Raum und holte ein Stethoskop aus der Tasche, das er sich umhängte.

"Du wirst entschuldigen, aber ich muss dich auswickeln. Zur Seite, Miron!"

Der Kater wurde weggescheucht, beobachtete das Geschehen aber zusammen mit dem Hund aufmerksam vom Sofa aus.

Chloe befreite sich von ihren Decken und begann sofort zu frieren.

"Hm, immer noch ziemlich unterkühlt", schätzte der Mann ein. "Bleib hier am Ofen, ich versuche, das schnell zu beenden."

Er fühlte ihren Puls, untersuchte ihren Körper und verarztete Schnitte und Kratzer, die sie sich zugezogen hatte, vor allem an den Füßen.

"Hast du Andrei schon Bescheid gegeben?", fragte Worobjow die alte Frau.

"Wenn du erlaubst, lasse ich die Polizei da raus bis ich weiß, was Sache ist", bat Frau Nikitin. "Es ist sonnenklar, dass das Mädel vor irgendwas weggelaufen ist. Wo kommst du überhaupt her."

"Dresden", sagte Chloe ohne nachzudenken.

"Wo liegt das denn?", fragte die Greisin stirnrunzelnd. "Das habe ich ja noch nie gehört."

"Ich glaube, so heißt ein Ort in Deutschland", meinte der Sanitäter.

"Das soll eine Deutsche sein?", vergewisserte sich Frau Nikitin ungläubig. "Spricht überraschend gut Russisch. Was machst du hier im russischen Hinterland?"

Die Räder in Chloes Gehirn setzten sich endlich knirschend in Bewegung und erlaubten ihr, zu rekonstruieren, was in den letzten Stunden passiert war.

"Ich … wurde entführt …"

"Hrm, klingt nach Menschenhandel", bemerkte Frau Nikitin. "Bloß keine Polizei, Worobjow, das arme Ding ist denen sonst sofort wieder ausgeliefert, wenn das bei der Behörde weit genug vordringt."

Der Sanitäter zuckte mit den Schultern und hörte Chloe ab. Danach hüllte er sie wieder in Decken.

"Unterernährt und unterkühlt, die Wunden werden wieder heilen", stellte er dann seine Diagnose. "Sie braucht was zu essen, am besten Suppe."

Er wollte zur Tür schreiten, als diese plötzlich schwarz wurde.

"Elli! Doch nicht einfach ins Haus anderer Leute!", hörte Chloe Dean rufen, aber da war auch schon eine Art blonder Blitz an dem Sanitäter und der alten Frau vorbei und begann sie so fest zu umarmen, dass sie keine Luft mehr bekam.

"Elli?!"

Chloe bemerkte, dass nicht nur sie das gesagt hatte. Der Sanitäter und die Greisin schauten genauso verdutzt wie sie auf die Blondine mit dem Anorak mit Pelzkragen, die da gerade in die Hütte eingebrochen war.

Elli, die scheinbar mit Tunnelblick hier rein gerast war, drehte sich überrascht um und holte tief und freudig Luft.

"OOOOOOMAAAAA!"

Das nächste Mal bei Nexus:
Das Schlimmste Geschenk, Teil 2

Sofern nicht anders angegeben, steht der Inhalt dieser Seite unter Lizenz Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 License