Ruinen des Wahnsinns, Teil 3

scp-heritage-v3.png
Bewertung: +1+x
Bewertung: +1+x

Das letzte Mal bei Nexus:
Ruinen des Wahnsinns, Teil 2

Ein Malidramagiuan ist eine ziemlich merkwürdige Kreatur. Groß wie ein Baum, besitzt er einen humanoiden Aufbau. Da hörte seine Ähnlichkeit mit Menschen aber auch schon auf. Es besaß graubraune Haut, sechs Beine, eine Art riesige, symbolbedeckte Scheibe wo der Kopf sein sollte und achtzehn Arme mit sechsunddreißig Unterarmen, die in zweiundsiebzig Händen endeten. Das Wesen hatte mit Ketten versehene, goldene Armreife mit zerstörten Symbolen darauf. Es schwebte in einem dreifachen Schneidersitz und vollführte unablässig Gesten mit seinen Händen. An seinem Kopf war ein nackter Mensch festgebunden, der unablässig vor Schmerz jammerte, während er von der Hitze der aufleuchtenden Kopfsymbole gequält wurde. Das einzige Geräusch, was hier zu hören war.

Elli wusste, dass es normalerweise tödlich war, einen Malidramagiuan auch nur anzusehen, aber sein Anblick zeigte, wie so viele andere wahrnehmungsstörende Agenzen, keine Wirkung bei ihr. Sie hatte solche Wesen bisher nur zweimal getroffen und festgestellt, dass sie ziemliche Arschlöcher waren. Wenn man ihnen gegenüber respektlos war, wohlgemerkt.

Sie las aus den Handbewegungen der Kreatur ab, dass sie Kinetoglyphen formte, Gesten, die ohne jede Art von Realitätsbeugung oder Magie die Welt formen konnten, wenn man wusste, wie. Durch sie wurden im Moment alle Geräusche unterdrückt mit Ausnahme des gequälten Jammerns des Gepeinigten.

Elli probierte, mit ihr in der Zeichensprache des heiligen Hratak von Azt zu kommunizieren. Das ist ziemlich schwierig, wenn man nur zwei Arme und zwei Hände hat, aber glücklicherweise hatten die Verfasser des Hratak in einem selten konsultierten Beiwerk eine vereinfachte Form niedergeschrieben, die zwar länger dauerte, aber dem Malidramagiuan ermöglichte, mehrere Gespräche auf einmal zu führen, wenn er denn wollte und Gesprächspartner hatte, die nicht sofort tot umfielen.

"Könnt Ihr mich bitte nicht töten?", signalisierte sie.

Der Malidramagiuan hielt kurz inne, was das Opfer an seinem Kopf dazu veranlasste, lauter zu schreien, bevor es seine Bewegungen wieder aufnahm.

Er stellte jedoch zwölf seiner Hände für eine Antwort ab.

"Nanu? Du kennst meine Gesten?"

"Hatte schon mit euresgleichen zu tun", erklärte Elli, was ungefähr drei Minuten dauerte. "Mache ich das so richtig?"

"Du sprichst sehr wackelig, Mensch", schätzte das Wesen sie ein. "Aber gut genug, um dich zu verstehen. Wie kommt es, dass du nicht tot bist?"

"Ich habe das letzte Kapz im Hratak gelesen, ich schätze, das hat mich abgehärtet", log Elli.

"Hm, dann bist du durchaus formidabel, Mensch. Ich war kurz davor, dich zu vernichten", entgegnete der Malidramagiuan. "Es erfüllt mich mit Freude, nach so langer Zeit endlich jemanden zu treffen, der würdig ist. Wie ist dein Name?"

Elli brauchte für ihren bloßen Namen fünf Minuten, weil das Alphabet, das sie benutzen musste, stark von dem abwich, was die meisten Menschen gewöhnt waren.

"Ah, Elli", wiederholte die Kreatur und brauchte mit zwölf Händen gerademal eine Sekunde dafür. "Vortrefflich."

"Ihr habt da was im Gesicht, oh Malidramagiuan", merkte Elli mit einem Blick auf den ausgemergelten Mann an.

Allmählich begann sie in der Kälte hier zu frieren.

"Das ist so gewollt. Dieser Mann ist für alles Leid verantwortlich, dass ich hier erdulden musste. Wer ihn zu retten versucht oder auch nur sein Wappen trägt, wird ausgelöscht. Sei es durch Gewalt oder durch Wahnsinn. Willst du ihn befreien?"

Eli schüttelte aus Reflex den Kopf, bevor sie eine Antwort gab, mit der der Malidramagiuan etwas anfangen konnte.

"Nein, oh Malidramagiuan. Wenn ihr mir zeigt, wo es hier hinaus geht, dann bin ich auch schon weg. Es ist ziemlich kalt hier. Sagt, habt ihr hier irgendwo einen großen Mann mit schwarzen Haaren oder ein kleines Mädchen mit weißen Haaren gesehen? Ich suche meine Leute. Wir sind hier unten getrennt worden."

Die Gesten des Wesens beschleunigten sich kurz. Elli wurde plötzlich wieder warm.

"Dies muss ich verneinen, Elli", signalisierte der Malidramagiuan.

Elli atmete auf. Wenn der Malidramagiuan sie gesehen hätte, hätten sie den Malidramagiuan gesehen, was hieße, dass zumindest Chloe tot wäre. Dean wären wahrscheinlich die Kameras ausgefallen.

"Wundervoll, dass es noch Leute gibt, die die Lehren des heiligen Hrtak von Azt kennen", meinte die Kreatur. "Lass mich mir dafür, dass du mich mit solcher Freude erfüllt hast, ein Geschenk machen."

Und dann zeigte er Elli eine ganz besondere Kinetoglyphe. Eine, die nicht mal das heilige Hratak von Azt kannte.


Matheus stolperte durch die Dunkelheit. Elli war mit einem Wimpernschlag plötzlich verschwunden. Er wusste, dass diese schattenhafte Kreatur ihm immer noch folgte, denn er konnte ihre Augen in der Finsternis ausmachen.

Er hatte versucht, mit seinem Schwert nach ihr zu schlagen, aber eine Wand neben ihm hatte seinen Streich blockiert. Er musste irgendwo hin, wo er etwas sehen konnte, wenn er dieses Wesen erschlagen wollte.

Er klatschte gegen eine Wand. Hektisch tastete er um sich herum, aber er schien in einer Sackgasse gelandet zu sein. Das Wesen kam näher. Matheus hielt ihm sein Schwert entgegen, aber das schien das Wesen nicht sonderlich zu stören.

Dann flackerte Licht.

Es schien von seltsamen Glasröhren an der Decke zu kommen und erzeugte gespenstische Momentaufnahmen von dem Korridor vor ihm, mittendrin dieses alptraumhafte Wesen.

Er nahm was er kriegen konnte …

Mit einem Kampfschrei kam er aus seiner Ecke und führte einen Hieb gegen die Kreatur.

Er traf den Arm und hinterließ eine leichte Kerbe. Er wirbelte herum und stieß dem Wesen die Klinge in den Bauch.

Es knurrte genervt. Mit Entsetzen bemerkte Matheus, wie die Wunde an seinem Arm zu heilen begann.

Er zog sein Schwert wieder heraus, als das Wesen nach ihm greifen wollte. Im flackernden Licht konnte er sehen, dass er nur in der Ecke eines Korridors gelandet war und rannte davon.

Wie hatte er sich nur auf sein Schwert verlassen können?! Wenn er nicht mal dieses Ding bezwingen konnte, wie sollte er dann Arbarab beikommen?

Neben ihm kam eine offene Tür vorbei. Er raste ohne nachzudenken hindurch.

Und fand sich über einem riesigen Loch wieder.

Schreiend begann er sich zu überschlagen, während er in die Tiefe stürzte …

…und plötzlich durch ein gewaltiges Tor kugelte. Mit Sternen vor den Augen kam er zum Liegen.

Er sah sich um.

Über ihn flutete durch Risse in der weit entfernten Decke Sonnenlicht herein. Der Raum war absolut titanisch. Vor ihm reihten sich Metallklötze an Metallklötze, jeder von ihnen groß wie eine Burg. Risse und Löcher in Boden, Wänden und Decke wies darauf hin, dass hier ein gewaltiger Kampf zwischen Titanen getobt haben musste, doch die Behältnisse waren seltsam unversehrt. Er drehte sich zum Eingang um. Dort stand auf einem großen, halb geschmolzenen Schild OLYMPIA-KLASSE-EINDÄMMUNG. Er hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Die Sprache war ihm völlig fremd.

"Was für ein Zufall, dich hier zu treffen …", erklang eine Stimme hinter ihm.

Eine Stimme, die Matheus über die Jahre zu hassen gelernt hatte. Er wirbelte herum.

Und erschrak vor dem Anblick, der sich ihm bot.


Wohin gehen wir jetzt?", fragte Reinhardt ängstlich.

Dean hatte ihn an der Hand genommen, um ihn nicht zu verlieren. Der Junge wollte ihm nicht erzählen, was passiert war, vermutlich stand er noch unter Schock.

"Wir verschwinden von hier und bringen dich in Sicherheit. Dann muss ich zurückkehren und meine Freunde finden", erklärte Dean. "Aber deine Sicherheit geht vor. Wenn ich nur …"

Er hielt an, denn er war an einem Loch in der Wand vorbeigekommen. Es schien, als wäre jemand von der anderen Seite aus durchgebrochen. Dahinter befand sich ein Abflusskanal.

Das brachte Dean auf eine Idee. Er hasste sie.


"Also, ich bin hier gewissermaßen im Mittelalter gelandet?", fragte Dr. Thatcher.

Chloe nickte.

Die Frau, die sie hier gefunden hatte schien ebenso hilflos zu sein wie sie selbst. Offenbar stammte sie vom selben Ort wie Standort-13.

Im Moment saßen sie in der Nähe des THRESHER-Geräts, wie die Frau es nannte. Der Ort schien wegen der Leichen am Grunde des Lochs von anderen Wesen gemieden zu werden, darum hatten sie vorerst Ruhe.

"Hrm, hoffentlich kann ich irgendwie zurück. Ich weiß nicht, ob ich hier klarkommen würde. Apropos, wie bist du hier gelandet?"

Chloe zuckte mit den Schultern.

"Ich wurde entführt, danach habe ich mich befreit und improvisiert. Wissen Sie, wie man hier rauskommt?"

"Ich wäre schon lange hier raus, wenn ich das wüsste", entgegnete die Doktorin. "Ich habe Ewigkeiten in der Abteilung für Dimensionsforschung ausgeharrt. Immer wieder irgendwelche Monster, Erdbeben, Egel, überall. Wenn man hier drin gefangen ist, kommt man nicht mehr hinaus. Dank diesem Ding."

Sie deutete mit dem Daumen auf das THRESHER-Gerät.

"Was ist das überhaupt?", fragte Chloe.

Dr. Thatcher seufzte.

"Nun-"

Hinter ihnen kam es zu einem Lichtblitz. Als sich Chloe umdrehte, sah sie, wie sich Elli stöhnend auf den Beinen zu halten versuchte.

"Nie wieder Kinetoglyphenteleport …", murmelte sie, bevor sie ihre Umgebung erfasste. "CHLOE!"

Sie rannte zu ihr und presste sie fest an sich. Chloe wollte es ihr zwar gleichtun, aber Elli presste ihr die Luft ab. Sie klopfte ihr auf den Rücken.

"Und ich hatte schon gedacht, du wärst hier drin umgekommen …", wimmerte Elli.

Tränen rannen ihr über die Wange. Chloe versuchte sich zu befreien, aber sie ließ nicht locker.

"Aw …", machte Dr. Thatcher gerührt.

Elli schien erst jetzt von ihr Notiz zu nehmen, denn sie ließ Chloe mit steinernem Gesicht los und drehte sich zu der Forscherin.

"DU ….", knurrte sie.

"Ich?", fragte die Frau erschrocken.

"Dr. Yvonne Thatcher, auch bekannt als Dr. 230, Fachbereich interreale Anomalien …"

Elli stampfte auf sie zu, holte aus und traf Thatcher mit der Faust so hart im Gesicht, dass sie mit einem Schmerzensschrei umfiel.

"Na? Kennst du mich noch, Bitch?", grollte Elli und zog die gefällte Frau an den Haaren zu sich hoch.

"Bitte, was … Was ist los?", stammelte Dr. Thatcher verwirrt.

Chloe kam ebenfalls nicht mit.

"Objekt 11705, klingelt da was?", fragte Elli.

Die Frau sah sie verwirrt an, bevor ihr die Augen vor Entsetzen aus dem Schädel traten.

"Oh nein … Hören Sie, es tut mir leid, aber ich hatte meine-"

"AUSREDE!", spie Elli und warf sie zu Boden. "Wegen dir wäre ich dreimal fast gestorben. Und du standest nur daneben und hast auf ein Klemmbrett gekritzelt … Hast du auch nur eine entfernte Ahnung davon, was ich wegen dir durchmachen musste!?"

Sie hob den Fuß, um zuzutreten.

"Elli, hör auf!", rief Chloe verzweifelt.

Ellis Zorn verflog so schnell, wie er gekommen war. Sie ließ den Fuß wieder sinken.

"Aber wenigstens hast du auf Chloe aufgepasst. Ich schätze, ich kann es hierbei belassen …"

Sie spuckte aus …

"Was hat sie dir getan?", fragte Chloe verwirrt. "Und wo kommst du überhaupt her?"

"Hab mich von einem neuen Freund herbeamen lassen", erklärte Elli. "Und was Thatcher angeht, nun, kennst du Josef Mengele?"

Chloe überlegte kurz und nickte dann verwirrt.

"Sie hat mit mir dasselbe gemacht wie er, nur, viel, viel schlimmer … Ernsthaft, die Nazis waren ein Kindergarten gegen euch …"

Dr. Thatcher rappelte sich derweil wieder auf.

"Ich … Kann nichts dafür … Elli …", keuchte sie. "Ich hatte meine Befehle. Und wenn ich nicht gehorcht hätte, dann … Man hätte mich bestraft, schlimmstenfalls exekutiert. Ich weiß, das, was ich getan habe ist unverzeihlich, aber … Kannst du uns verdenken, dass wir uns selbst schützen wollten?"

"Allerdings", knurrte Elli. "Es ist eine erstaunliche Eigenheit von vielen Menschen, jedwede Grausamkeit auszuführen, solange sie nicht dafür verantwortlich gemacht werden. Als hättet ihr euer Hirn abgegeben, es ist unglaublich. Dir ist nie in den Sinn gekommen, dass du einfach hättest kündigen können?"

Thatcher sagte nichts.

"Das habe ich mir gedacht", sagte Elli. "Feigheit. Wenn ihr nur etwas Courage gezeigt und gekündigt hättet, ihr wärt nie in diesen Schlamassel geraten. Was soll's. Was ist das hier für ein Ding?"

Sie trat an die Maschine.

"Äh, das ist das THRESHER-Gerät", erklärte die Forscherin zaghaft. "Ein Gerät, das diesen ganzen Standort zwischen Realitäten teleportieren kann. Es war unser letzter Ausweg im Falle eine katastrophalen Eindämmungsbruches."

Elli runzelte die Stirn.

"Interreales Reisen …"

Sie schaute sich die Lichter an, kramte in ihrer Tasche und holte ein paar Messmittel heraus.

"Elli, äh, wenn es nicht zu viel verlangt ist", begann Dr. Thatcher. "Kannst du uns zurückbringen? Wenn dieser Standort zurückkehrt, können wir die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Niemand in der Foundation ist für ihren Zustand verantwortlich. Die Schuld liegt bei der UN. Und wenn wir beweisen können-"

Elli gluckste nur und schaute von ihren Messungen auf. Sie klang zwar bitter, aber auch etwas zu genießen, was sie als nächstes sagte.

"Frau Thatcher, die Sache ist die … Ihr habt so viel Phänomena und Technologie ausgenutzt von der ihr nicht die geringste Ahnung hattet, Zeug, das von unmöglichen Orten zu euch kam, Orten, die mittlerweile außerhalb des multiversalen Zeitgefüges liegen. Die Oratoren sind ein gutes Beispiel, sowie das Kernstück eures ach so tollen THRESHER-Geräts. Das Problem ist, das war von eurer Geschichte gar nicht vorgesehen. Standort-13 sollte in dieser Form gar nicht existieren, er sollte 2005 wegen eines Eindämmungsbruchs zerstört werden. Millionen wären gestorben, die Welt wäre neu geordnet worden. Aber ihr musstet euch ja auf Zeugs von außerhalb eurer Kausalität verlassen. Geschichte lässt sich biegen wie ein Gummiband, aber man kann sie nicht verändern. Sonst passiert das, was passierte, als ihr den Auslöser des schicksalshaften Eindämmungsbruches in eurer grenzenlosen Arroganz vor dem Unbekannten aus eurem Zeitgeschehen entfernt habt. Euer historisches Gefüge wurde zu instabil. Um sich zu schützen, hat sich euer Universum aufgeteilt, einmal in die Version die du kennst und einmal in die Version, die hätte sein sollen. Aber mit einem merklich geschwächten Raumzeitgefüge, wie ihr es mit euerer endlosen Herumstocherei im Unmöglichen erzeugt habt, ergeht es Realitäten wie Seifenblasen …"

"Wa- Was meinen Sie?", fragte Thatcher verängstigt.

Elli setzte einen melancholischen Ausdruck auf.

"Dein Universum hat aufgehört zu existieren. Aufgelöst wie ein Schleifenknoten, komplett gelöscht. Das hatte ich zu verhindern gesucht, als ich versucht habe, die Oratoren zu zerstören und ihr mich geschnappt habt, ich habe euch so oft davor gewarnt, aber nein, ihr wusstet es natürlich besser. Die Schuld liegt nicht nur bei der UN oder der GOC. Ihr alle habt mit eurer blinden Angst zu eurem eigenen Untergang beigetragen. Gratulation, Thatcher. Anstatt einem allerletzten Failsafe habt ihr den krassesten Selbstzerstörungsknopf ever gebaut."

Der Forscherin klappte der Mund auf. Sie begann zu zittern.

"Sie meinen, meine Familie ist … tot?"

Wieder dieses Glucksen.

"Schlimmer. Denn um tot zu sein, muss man irgendwann mal existiert haben. Egal, in welchen Nachleben im Multiversum du suchst, du wirst sie nicht finden."

Thatcher sank mit einem Stöhnen in die Knie.

"Lass sie allein, Chloe", bat Elli und wand sich wieder der Maschine zu. "Hm, dieses Ding ist also für die Realitätsschwankungen hier verantwortlich, kein Wunder, dass dieses Teil ein sich ständig veränderndes Labyrinth geworden ist. Muss wohl eine allerletzte Eindämmungsmaßnahme sein, um die Viecher hier drin am Ausbrechen zu hindern."

Sie trat an die Steuerkonsole und startete sie. Sie fuhr zwar hoch, aber der Bildschirm flackerte unentwegt. Es dauerte eine Weile, bis Elli bekam was sie wollte.

"So eine Scheiße", fluchte sie. "Das Teil ist völlig im Arsch!"

"Kann es uns nicht mehr teleportieren?", fragte Chloe.

"Schlimmer. Ich gebe dem Teil vielleicht noch zwei Stunden, bevor es einfach aussetzt. Dann haben wir einen Ort, der hier überhaupt nicht sein soll, mit weltendenden Monstern, die hier gar nicht sein dürfen, die auf eine Zivilisation mit dem technologischen Niveau des Spätmittelalters losgelassen werden. Was dann mit der Weltgeschichte passiert, kannst du dir vorstellen. Und dieses Universum ist im Moment auch ziemlich fragil … Wundervoll, Thatcher, ihr habt gleich zwei Realitäten platt gemacht. Ich hoffe, du bist stolz auf deine Foundation."

Sie steuerte durch einige Menüs.

"Dematerialisierung geht noch, aber es fehlt die Energie für einen Transport … mal sehen, vielleicht kann ich was drehen …"

Sie änderte einige Einstellungen, bevor die Lichter am THRESHER-Gerät mit einem mechanischen Stottern erloschen. Ein kleines Erdbeben lief durch den gesamten Standort. Elli schlug in Frustration auf die Konsole.

"DRECKSTEIL! Nein, lass es uns nicht testen, wir bauen gleich den Prototyp ein, kann gar nichts schiefgehen …"

Sie packte Chloe bei der Hand.

"Komm Chloe. Dean ist noch irgendwo hier drin, aber ich kann ihn nicht orten. Mit etwas Glück ist er bei deinem Entführer, ansonsten werden wir ihn nicht finden können, bevor hier alles zum Teufel geht. Da der THRESHER jetzt aus ist, kann ich hier drin wenigstens endlich mit dem Nexus navigieren."

Sie drehte sich zu Thatcher.

"Kommen Sie mit? Meinetwegen können Sie hier bleiben, aber wenn Sie noch einen Rest Selbstachtung haben, haben sie wenigstens die Eier, für ihre Fehler zu leben …"

Thatcher erwachte aus ihrer Erstarrung. Sie hatte einen entschlossenen Ausdruck im Gesicht.


Matheus zog sein Schwert, doch Arbarab wusste, dass er ihm nichts tun konnte. Nicht mehr … Er war nicht länger Reinhardt, er war nun der alte Mann, dem das Fleisch von den Knochen faulte.

"Was hast du mit Reinhardt gemacht!?", knurrte Matheus.

Das Astralwesen kicherte.

"Oh, keine Sorge, er lebt noch …", beruhigte es ihn. "Oder zumindest hat er das noch getan, als ich ihn verlassen habe …"

"Wo ist er …"

Arbarab zuckte mit den Schultern.

"Wer weiß, irgendwo innerhalb dieser Mauern. Habe nicht wirklich drauf geachtet, denn dieser neue Körper ist einfach phänomenal. Eigentlich kann ich gar nicht zwischen Menschen springen, wisst Ihr? Aber dieser Geist … So schön leer, so schön gradlinig auf Sadismus und Folter aus, so schön … verfallen, es ist so einfach, ihn zu lenken. Und kombiniert mit meiner Macht kann ich sogar sowas."

Der Boden um die Abscheulichkeit herum bekam Risse. Der Verfall breitete sich extrem schnell aus. Matheus sprang zurück, bevor er erfasst werden konnte.

"Aber das ist erst der Anfang", fuhr Arbarab fort. "Denn nun bin ich-"

"Oh, Matheus, hast du Dean irgendwo gesehen?", fragte eine Blondine hinter dem Angesprochenen.

Sie war aus einem schwarzen Portal getreten, das sich in einem der Zugangstore zu den gewaltigen Klötzen gebildet hatte. Eine Frau, die Arbarab nicht kannte und das weißhaarige Mädchen traten hinter ihr heraus.

"Ah, du …", lachte Arbarab mit einem Blick auf das Gör. "So dumm von dir, dich wieder zu mir zu begeben. Du wirst nach wie vor ein Bonus für mich sein."

Das Mädchen versteckte sich bei seinem meckernden Kichern hinter der Blonden.

"Meinst du nicht, dass ich da noch ein Wörtchen mitzureden habe?", fragte diese mit hinter dem Rücken verschränkten Händen. "Immerhin bin ich extra zu dir gekommen. Deine Astralsignatur lässt sich super anpeilen."

Arbarab nahm sie unter die Lupe. Dann lachte er.

"Wie niedlich. Du solltest wissen, dass du mich nicht aufhalten kannst. Du hast ja nicht einmal einen Funken Magie im Leib. Das sehe ich zum allerersten Mal."

"Das stimmt", sagte die Frau ernst und nickte. "Ich kann nie im Leben ein Kräftemessen mit dir überstehen.

Dann begann sie zu grinsen.

"Er aber schon. ALLE RUNTER UND NICHT NACH OBEN GUCKEN!"

Jeder im Raum außer der Frau und Arbarab warf sich hin. Er merkte erst jetzt, dass sie hinter ihrem Rücken Fingerzeichen gemacht hatte.

Die Luft über ihnen begann zu knistern. Blitze zuckten hindurch und eine Kugel aus Licht entstand, die schnell anwuchs. Sie gab eines der unmöglichsten Wesen frei, die Arbarab je gesehen hatte. Ihr Anblick konnte Sterbliche töten und er spürte, wie auch sein Wirt unter dem Ansturm auf seinen Geist wankte. Er stabilisierte ihn, um diesem Wesen mit definitiv zu vielen Händen gegenüberzustehen. Seine Hände formten unablässig Gesten und auf seinem scheibenförmigen Kopf brüllte ein Mann wie am Spieß.

Die Frau schien über Handzeichen mit ihm zu kommunizieren.

Das sonderbare Wesen beschleunigte plötzlich seine Bewegungen und fegte Arbarab mit einer unsichtbaren Macht von den Füßen, direkt in ein Netz aus glühenden Symbolen in der Luft hinein, die Arbarab nicht zu lesen vermochte.

Er stoppte seine Bewegung mit seiner Magie und feuerte einen blauen Blitz auf die Kreatur mit dem scheibenförmigen Kopf.

Ihre Hände verschwammen durch die Geschwindigkeit, mit der sie gestikulierte. Arbarab registrierte keinerlei Magie, doch sein Blitz zerplatzte plötzlich. Stattdessen gab der Boden unter ihm nach, als wäre er aus Sand.

Arabarab konterte das durch Fliegen und schoss auf das Wesen zu. Er nutzte seine Macht, um ihm einfach den Kopf von den Schultern zu trennen. Das Monster konterte mit einer Art grünen Reflektorschild.

Arbarab knurrte, als er zurückprallte und begann, die Realität um sich herum zu beeinflussen, um das Wesen zu verwandeln.

Er bemerkte gerade noch, wie die Frau am Boden plötzlich schmunzelte, bevor seine Realitätsbeugung einen völlig anderen Verlauf nahm. Ihm fiel eine Blechwanne auf den Kopf.

Er entging gerade so den glühenden Glyphen, die das Wesen auf ihn feuerte und an der Wand hinter ihm explodierten.

Dann eben anders.

Er sammelte sie, bündelte sie und setzte die Macht des alten Mannes dann als gewaltigen Impuls frei.

Das Monster schien zu spät zu bemerken, was passierte, bevor ihm die Hände wegfaulten. Das brachte offenbar seine Beschwörungen durcheinander, denn es schockte sich plötzlich selbst und wurde gegen die Decke geschleudert. Arbarab fing es mit einem Magiestrahl und begann, diese sonderbare Macht in sich aufzunehmen.

"Ähm, was hattet Ihr gesagt?", fragte er die Blondine.

Sie nickte widerstrebend.

"Ich gebe zu, das lief nicht in die Richtung, die ich wollte, aber zumindest hat es dich lange genug abgelenkt …"

Das Astralwesen legte die faulige Stirn in Falten und sah sich um.

Er und die Blondine waren nun die Einzigen im Raum.

Arbarab ärgerte sich nur kurz darüber, bis sich die Macht des Malidramagiuan plötzlich manifestierte. Sein Rücken brodelte, bevor plötzlich dutzende Arme aus ihm hervortraten und ihm das Aussehen einer finsteren hinduistischen Gottheit verliehen. Das Wissen des heiligen Hratak von Azt flutete durch seinen Verstand.

Wo das Wesen zuvor gewesen war, fiel nun der schreiende Mann zu Boden. Beim Aufschlag brach er sich das Genick und verstummte.

"Oh Junge …", bemerkte die Blondine und begann, das Astralwesen in einem weiten Bogen zu umkreisen. "Was ich aber immer noch nicht verstehe, was willst du hier? Dieser Ort gehört nicht hierher, das solltest du wissen. Du lieferst deine ganze Welt und dich dem Vergessen aus."

Arbarab kichert, während er sich den Kisten näherte.

"Ich will Macht. Und trotz Eurer Einmischung bin ich dank der Kräfte dieses Körpers endlich am Ziel."

Er deutete auf die Reihen um Reihen an titanischen Gefängnissen.

"Schaut es Euch an. Tausende Götter und Dämonen, wehrlos und bereit zum Verzehr."

Er breitete die Arme vor den gewaltigen Bauten aus.

"So …", schloss die Frau. "Du willst also eine Art Super-Gottheit werden? Das würde die Geschichte dieser Welt verändern. Du wärst das mächtigste Wesen überhaupt, aber nur für ein paar Stunden, wenn du beschließt, Einfluss zu nehmen."

"Nur, wenn ich nicht die Realität wechsle", korrigierte Arbarab sie. "Und da kommst du ins Spiel."
Die Blondine erstarrte.

"Oh ja, ich weiß was du bist. Ich habe in die Gedanken deines Mädchens gesehen", erklärte das Astralwesen und lachte. "Nur zu, verlasse dieses Universum. Ich werde dir folgen, wohin auch immer du gehst, denn hier drin ist sicher jemand mit dieser Kraft. Du wirst mich in andere Welten führen, in denen ich noch mächtiger werden kann, bis ich dich kriege."

Er formte Kinetoglyphen. Blaue Strahlen aus reiner Astralenergie schossen aus ihm hervor und drangen in die Eindämmungskammern ein. Er begann zu wachsen, sich zu verändern …

"Also willst du unzählige Universen durch deine pure Anwesenheit vernichten, nur um deine Machtgelüste zu befriedigen?", vergewisserte sich die Blondine. "Du bist die niederste Lebensform von allen."

Arbarab bemerkte zu spät, dass sie sich an eines der Löcher im Boden bugsiert hatte. Sie öffnete plötzlich ihr Portal und sprang hinein. Es scherte ihn nicht. Jetzt hatte er die Macht. Die absolute Macht!


In einem Bogen, geformt durch einen Baum, der auf einem Graben gestürzt war, öffnete sich ein Nexusportal. Elli trat heraus und schleifte eine Chloe hinter sich her, die sie zurückzuziehen versuchte. Matheus und Thatcher folgten ihr.

"Elli, du hast selbst gesagt, dass wir nicht mehr die Zeit haben, warum bleibst du dann hier?", fragte Chloe.

"Weil Arbarab nicht bleiben wird, wenn er merkt, dass ich gegangen bin. Das wäre ein wesentlich größerer Schaden als wenn ich verschwinde", erklärte Elli und trat auf einen Waldweg.

Vor ihnen erhoben sich die Ruinen von Standort-13.

Tief unter ihren im Erdboden rumorte es, während sich etwas Gewaltiges emporarbeitete.

Ein außerweltliches Lachen erklang, als ein Wesen groß wie ein Berg aus dem Boden unter der Einrichtung herausbrach. Es wirkte teils organisch, teils wie eine Maschine und gehorchte einer so fremden Geometrie, dass es unmöglich war, seine Form oder auch nur seine Farbe zu beschreiben. Selbst von hier konnten sie alle die Kraft spüren, die von diesem Ding ausgingen.

"Was ist das?", flüsterte Thatcher.

"Gier", entgegnete Elli trocken. "Reine, maßlose Gier."

Unten in Allinges war sicher die reine Panik ausgebrochen. Aber es würde nicht lange dauern …

"Vollidiot, der Auftritt allein reicht wahrscheinlich aus, um dieses Universum zu zerstören", murmelte Elli. "Schade um Dean. Schade um Reinhardt …"

"Warum sind wir dann noch hier?", fragte Chloe panisch. "Würde Dean das wollen?"

"Gibt es keine Hoffnung mehr?", fragte Matheus. "Könnt Ihr es nicht aufhalten?"

"Was hier in Gang gesetzt wurde, kann nicht mehr aufgehalten werden, Matheus", entgegnete Elli nur. "Ihr müsst hinnehmen, dass Ihr bei eurer Aufgabe, ihn zu töten, versagt habt …"

Vor ihnen hatte sich Arbarab endlich aus dem Boden gearbeitet.

"Hörst du mich, Elli?", dröhnte er. "Komm zu mir. Ergib dich. Gib mir all dein Wissen, all deine Tricks, all deine Macht! Erspare dir unnötiges Leid. Nichts was du tust mach noch einen Unterschied. Nichts kann mich mehr aufhalten!"

Elli grinste nur. Und Tränen rollten ihr über die Wangen.

"Und drei … zwei … eins …"


Tief unten in Standort-13 erwachte der Bildschirm des THRESHER-Geräts flackernd zum Leben und begann die Sequenz abzuspielen, die ihm vorgegeben worden war. Die Maschine hinter ihm ächzte und fuhr langsam hoch. Lichter sprangen an, während sich die beweglichen Teile des Geräts zu drehen begannen.

Dem Apparat war bewusst, dass er keine Kapazitäten mehr für einen weiteren Sprung hatte, aber Befehl war Befehl und er befolgte ihn mit jener mechanischen Sturheit, die Maschinen zu eigen ist.

Das THRESHER-Gerät heulte auf. Blitze leckten über seine Oberfläche und den umgebenden Boden, während es zum dritten und letzten Mal tat, wofür es geschaffen worden war.


Elli sah mit Genugtuung, wie Arbarab und Standort-13 verschwammen, als würden sie durch einen Wasserfall betrachtet.

Der frischgebackene Gott brüllte vor Zorn und feuerte einen Strahl reiner Energie ab, der an einer unsichtbaren Grenze einfach verpuffte. Das Gebrüll intensivierte sich und wurde panisch. Wasserstrahlen, Feuerstöße, Windböen, elektrische Blitze, Lichtstrahlen, Felsbrocken, eine Atomexplosion und noch viele weitere Angriffe prasselten auf die Barriere ein, doch keiner von ihnen konnte sie durchdringen.

"Was passiert dort?", fragte Chloe. "Endet das Universum?"

"Was?", fragte Elli. "Nein, wer erzählt denn sowas? Das THRESHER-Gerät hat sich gerade wieder eingeschaltet, nachdem es jetzt genug Energie gesammelt hat. Eigentlich wollte ich, dass es weiterläuft und das Labyrinth aufrechterhält, aber, naja, Made in America …"

"Aber habt ihr uns nicht erzählt, dass Arbarab nun der mächtigste aller Götter ist?", fragte Matheus.

"Sicherlich", bestätigte Elli mit einer Erinnerung an eine Unterredung im Nexus. "Aber es gibt Gesetze, denen können sich nicht mal Götter widersetzen. Schau, um sich zu verschicken, erzeugt dieser Ort eine Art Blase, eine eigene abgeschlossene Welt um sich herum, die es komprimiert, um sich durch die Dimensionen zu zwängen. Allerdings hat das THRESHER-Gerät nicht mehr die Kraft, seine Blase den ganzen Trip über aufrecht zu erhalten."

"Realraumerrosion …", murmelte Thatcher.

"Exakt", bestätigte Elli. "Standort-13 und Arbarab werden gleich auf eine Art Wand treffen und zwischen den Realitäten zerrieben. Wie auch alles andere innerhalb der Ruinen …"

Arbarabs Gebrüll wurde ohrenbetäubend, während er sich zu befreien versuchte. In seinem Zorn schien er gar nicht zu bemerken, was für seine Misere verantwortlich war. Unter ihm erreichte das THRESHER-Gerät endlich volle Leistung. Standort-13 verschwand in einem Lichtblitz und einem kosmischen Knirschen. Zurück blieb ein gewaltiger Krater, der sich allmählich mit Wasser aus unterirdischen Adern zu füllen begann.

Stille kehrte ein.

Matheus war der erste der sprach.

"Also ist Reinhardt jetzt …"

"Dean leider auch", bestätigte Elli und seufzte gefasst.

Sie legte die Hand auf Chloes Schulter. Weniger als Trost, sondern mehr um nicht selbst umzukippen, während sie ihr Gesicht mit der anderen Hand verbarg.

"Hast du nicht ein Back-up?", fragte Chloe hoffnungsvoll.

"Nein. Dean hat sowas strikt abgelehnt und ich auch", schniefte Elli. "Bei mir ist niemand austauschbar …"

Sie kramte in ihrer Tasche und holte ihren Flachmann hervor. Sie trank lange.

"Ähm …", begann Thatcher. "Ich weiß, der Zeitpunkt ist gerade unpassend, aber wieso versteht ihr diesen Mann? Ich kann seine Sprache nicht."

"Er spricht Germanisch", erklärte Dean. "Falls es Sie tröstet, er versteht Sie vermutlich ebenso wenig."

"Ich glaube das ist kein Trost, Dea-", begann Elli, bevor sie registrierte, was sie eigentlich sagen wollte. "DEAN!?"

Alle drehten sich um. Hinter ihnen stand ein ziemlich ramponierter und verdreckter Dean. Er sah aus, als wäre er erst durch einen Sumpf und dann durch den Wald gelaufen. Und auf seinen Schultern …

"REINHARDT!", entfuhr es Matheus und rannte sofort zu Dean, der ihm das Kind stirnrunzelnd übergab.

Matheus drückte seinen Sohn fest an sich.

"Papa …", flüsterte Reinhardt. "Ich habe Böses getan … Ich habe alles gesehen. Immer …"

"Das warst nicht du, Reinhardt. Nie und nimmer. Ein böser Geist hat von dir Besitz ergriffen, aber jetzt ist alles gut", tröstete ihn Matheus.

Tränen der Freude rannen ihm aus den Augen.

"Aw", machte Elli und wandte sich dann fragend an Dean. "Wie zur Hölle seid ihr dort rausgekommen?"

"Wir haben den Abflusskanal gefunden", erklärte Dean. "Und da dachte ich mir, Abflüsse führen immer nach draußen … War extrem eklig da drin …"

"Dean, ich habe gedacht ich hätte dich unter den Bus geworfen!", tadelte Elli ihn extrem erleichtert.
Dean verdrehte die Augen.

"Tut mir ja leid, aber was hätte ich tun sollen? Rauchzeichen? Außerdem ist es nicht das erste Mal gewesen, dass ich wider Erwarten nicht umgekommen bin. Ich erinnere nur an die Sache mit der Hindenburg."

Elli wusste darauf keine Antwort und überließ es Chloe, Dean zu knuddeln.

"Was machen Sie jetzt, Thatcher?", fragte sie. "Falls sie von mir mitgenommen werden wollen, vergessen sie's. An sich sollten Sie nirgendwo mehr sein …"

Thatcher zuckte mit den Schultern.

"Ich schätze, ich hänge mich an die beiden", antwortete sie mit Blick auf Matheus und Reinhardt. "Zumindest, bis ich mich hier gut genug selbst zurechtfinde. Und Sie?"

Elli betrachtete die wiedervereinte Familie. Dann sah sie zu Chloe und Dean. Die, die sie fast verloren geglaubt hatte …

"Etwas, das ich schon sehr lange hätte tun sollen …"


Kassandra Winter mochte das Nachtleben in Dresden. Vor allem, weil es hier einfach war, sich als Frau eine schnelle Nummer zu organisieren. Deswegen hatte sie sich heute mit einem stilvollen roten Kleid herausgeputzt und Extra-Rouge aufgetragen. Heute versuchte sie es bei einem ihrer Lieblingsnachtclubs. Beim Eintreten hatte sie kurz den Eindruck, alles wäre finster, aber das schien nur eine optische Täuschung zu sein.

Alles im Inneren war wie normal, nur den Barkeeper hatte sie noch nie gesehen. Ein riesenhafter Kerl mit schwarzen Haaren. Er musterte sie mit steinerner Miene. Aber an sich sah er gar nicht so schlecht aus …

"Was darf's sein?", fragte er.

"Ein Prosecco."

Kassandra lächelte anzüglich. Der Barkeeper brummte nur etwas Unverständliches und holte ein Glas hervor.

Kein Glück.

Eine blonde Frau nahm neben ihr auf einem Barhocker Platz. Ihr beiges Kleid, wenn man es denn so nennen konnte, überließ wesentlich weniger der Fantasie als Kassandras, gegeben wie viel ausgeschnitten worden war. Für sie wäre das zu gewagt gewesen. Allerdings sah die Blondine auch aus, als hätte sie Schwierigkeiten, ihren Namen richtig zu buchstabieren. Und mit Neid stellte Kassandra fest, dass sie super in diesen Klamotten aussah.

"Versuchen Sie's gar nicht erst", sagte sie. "Ich kenn den Typen. Die Frau, die den rumkriegt muss erst noch erfunden werden."

"Sie sind wohl öfters hier?", fragte Kassandra.

"Oh, ständig", sagte die Frau quietschfidel. "Sie sehe ich hier aber zum ersten Mal."

Kassandra zuckte mit den Schultern.

"Ich bin mal hier und mal da. Ich will Abwechslung."

"Oh wirklich?", fragte die Frau immer noch fröhlich, aber jetzt wesentlich eisiger. "Und waren Sie zur Abwechslung auch mal zu Hause bei ihrer Tochter?"

Kassandra sank das Herz in die Hose. Sie wich von der Frau weg.

"Wer sind Sie?"

"Frau Jäger mein Name", stellte sich die Blondine vor. "Ich unterrichte Ihre Tochter an der Schule. Und Sie, Frau Winter, haben inzwischen sieben Mal meine Aufforderung zum Elternabend ignoriert."

"Das Gespräch ist vorbei."

Kassandra stand auf und lief zum Ausgang. Doch plötzlich fand sie sich auf ihrem Hocker wieder.

Frau Jäger hinter ihr sog scharf die Luft ein.

"Ich sollte Sie vielleicht darauf hinweisen, dass Sie hier nach meinen Regeln spielen, Frau Winter."

Kassandra sprang vom Stuhl auf und rannte dieses Mal zum Ausgang. Doch plötzlich saß sie wieder auf dem Stuhl.

"Prosecco?", bot die Lehrerin an. "Ölt die Zunge."

Kassandra versuchte erneut zu entkommen, doch das Ergebnis blieb gleich.

"Sie haben keine Ahnung, was für eine Geduld ich habe", sagte Frau Jäger ungerührt. "Ich kann das den ganzen Abend machen. Oder die ganze Woche …"

In Panik drehte sich Kassandra zu ihr um.

"LASSEN SIE MICH GEHEN!"

Die Blondine kicherte höhnisch.

"Tut mir leid, Frau Winter. Wir zwei haben jetzt Sprechstunde. Ob sie das wollen oder nicht. Brauchen Sie was Stärkeres? Whiskey? Bourbon? Wodka? Absinth? Ich habe auch unvergällten Industriealkohol da, wenn Sie auf sowas stehen."

Kassandra begann zu zittern.

"Was wollen Sie?"

"Meinen Job machen, Frau Winter", antwortete die Blondine düster. "Ich versuche schon eine ganze Weile, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen, denn Sie sorgen alles andere als gut für Chloe."

Die Frau ging Kassandra auf die Nerven. Das kam davon, wenn man versuchte, das Richtige zu tun …

"Sie ist doch versorgt, oder nicht?", blaffte sie empört.

Die Lehrerin sah sie resigniert an.

"Sie stirbt, Frau Winter. Ist ihnen etwa noch nicht aufgefallen, wie dürr sie geworden ist. Dass ihr Haar alle Farbe verloren hat?"

Kassandra starrte sie an.

"Was?"

"Ich verarsch Sie nicht, schauen Sie sich das an."

Sie holte scheinbar aus dem Nichts ein Foto.

Chloe war darauf abgebildet, aber sie sah anders aus, als Kassandra sie in Erinnerung hatte. Sie war ausgemergelt und ihr Haar war schlohweiß.

"Wa-Was ist das? Haben sie das gephotoshopt, oder-"

"Das ist von vor einer Woche, Sie blöde Kuh", zischte Frau Jäger stocksauer.



Chloe machte sich gerade bettfertig nach diesem hektischen Geburtstag. Nachdem sie in ihren Pyjama geschlüpft war, hörte Sie, wie die Wohnungstür geöffnet wurde.



"Das kann doch nicht sein, Chloe-"

"Chloe ist chronisch unterernährt, vereinsamt und war bis vor kurzem noch Mobbing-Opfer. Aber wenigstens dem habe ich einen Riegel vorschieben können", fuhr die Lehrerin auf. "Ernsthaft, waren Sie überhaupt dabei, als sie geboren wurde?!"



Die Schritte gehörten nicht ihrer Mutter, die hätte Chloe überall erkannt. Außerdem wäre sie viel zu früh gewesen. Und Elli und Dean kamen immer durch ihren Schrank …



"Ich liebe Chloe!", verteidigte sich Kassandra. "Aber alleinerziehende Mutter zu sein … Ich … Ich-"



Ihr sank das Herz in die Hose, als sie merkte, dass die Schritte direkt auf ihr Zimmer zuhielten.



"Ausrede", schmetterte Frau Jäger ab. "Sie hätten Chloe den Behörden übergeben können, wenn ihnen klar war, dass Sie nicht zurechtkommen. Oder Hilfe anfordern können, selbst ohne ihre Verwandten. Ich weiß, dass Sie keinen Kontakt mehr haben. Liebe sieht anders aus."



Die Türklinke von Chloes Zimmer wurde von außen heruntergedrückt. Sie wich zurück und hielt nach etwas langem Ausschau, das sich als Waffe benutzen ließ.



"Die Behörden?", echote Kassandra erschrocken und schluckte.

Sie griff nach dem Glas Prosecco und stürzte es hinunter.

"Nein, nein, keine Behörden. Er hätte Chloe gefunden, sie mitgenommen."

Frau Jäger legte den Kopf schräg.

"Sie haben Angst. Vor wem?"

Kassandra lächelte traurig.

"Sie denken, dass ich eine schreckliche Mutter bin, nicht wahr? Wahrscheinlich kann ich es Ihnen nicht einmal verübeln …"



Chloe hatte sich für ihren Stuhl entschieden, da sie nicht anderes hatte. Die Tür öffnete sich …



"Aber glauben Sie mir, dann kennen Sie noch nicht …"



Chloe wollte zuschlagen, aber erstarrte, als sie das Gesicht erkannte. Der Stuhl flog ihr durch die bereits aufgebaute Wucht aus der Hand. Sie verlor die Kontrolle über ihre Blase und sackte vor Todesangst zitternd zu Boden …



"… ihren Vater."



"Hallo, Angelika …"

Das nächste Mal bei Nexus:
Das Schlimmste Geschenk, Teil 1

Sofern nicht anders angegeben, steht der Inhalt dieser Seite unter Lizenz Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 License