Das letzte Mal bei Nexus:
Träumen mit Elli, Teil 2
Dieses Mal dauerte es länger, bis sich die Welt um Elli herum wieder konsolidierte.
Ich bin Chloe!
Es war, als sträube sich etwas in ihrem Geist dagegen, diesen Traum aufzurufen.
Das ist nicht meiner!
Sie befand sich in einer Art kleiner Kabine. Wände, Boden und Decke waren unverputzt und bestanden aus grauem Metall. Alles, was dieser Raum hatte war eine Tür zu einem winzigen Bad mit Dusche, ein Schreibtisch, auf dem mitten in der Luft ein Hologramm zu schweben schien, das die ungefähre Form eines Computerbildschirms und einiger weniger Tastaturtasten hatte und ein Bett mit weißem Bezug. Eine abgegriffene Plüschschildkröte lag darauf, fein säuberlich dekoriert.
Das war ihr Zuhause. Hier war Elli aufgewachsen.
Ich bin Chloe!
Eine an die Wand projizierte Uhr zeigte ihr an, dass sie zu spät war. Heute war ein Tag der Auswahl. Sie musste erscheinen!
Die Schiebetür zu der Kabine öffnete sich augenblicklich mit einem mechanischen Zischen.
Draußen schloss sich ein langer Korridor an. An ihm aufgereiht waren Türen zu weiteren Kabinen wie der von Elli.
Sie rannte hinunter, damit sie es noch rechtzeitig schaffte. Heute war jemand von der Regierung anwesend. Die nahmen nur die Besten.
Am Ende des Ganges war ein Fahrstuhl. Glücklicherweise war er gerade auf ihrem Stockwerk.
Knöpfe gab es darin nicht, man sagte der KI einfach, wo man hinwollte.
Geschwind setzte sich das Gerät in Bewegung.
Elli sah auf die Fahrstuhluhr. Wenn sie die Geschwindigkeit des Fahrstuhls richtig berechnete, dann würde sie es noch rechtzeitig schaffen. Bisher war es ihr noch nie passiert, dass sie zu spät kam-"
ICH BIN CHLOE!
Chloe wurde schwindlig, als ihr Hirn scheinbar einen Absturz erlitt und neu hochfuhr. Sie ging auf die Knie und atmete schwer.
Nur noch ein wenig und sie wäre fort gewesen! Der Konzentrationssteigerer von Dean schien fast abgeklungen zu sein. Noch einen Traumwechsel würde sie mit Sicherheit nicht überstehen.
Das einzige Gute an der Sache war, dass sie sich bereits auf dem Weg zu Elli befand. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hier war, aber wahrscheinlich irgendwo in der Zukunft. Oder auf einem anderen Planeten. Oder beides.
Erst einige Minuten später hielt der Fahrstuhl an einem Korridor an. Er führte in eine große Halle. Darin waren einige Computer und Labortische mitsamt Equipment für alle nur erdenklichen und teilweise auch unerdenklichen Experimente aufgebaut. Es wirkte ein wenig wie der Stationsbetrieb aus dem Sportunterricht.
Eine Reihe von Leuten in einer Art weißen Pyjamas stand vom Eingang abgewandt in Reih und Glied. Chloe durchquerte den gewaltigen Raum an der Wand und ging hinter einer Art Kran in Deckung, von wo aus sie das Geschehen gut überblicken konnte.
Sie meinte, Elli gesehen zu haben, aber es gab ein Problem. Von den bestimmt fünfzig Personen sahen mindestens sieben so aus wie Elli in verschiedenen Stadien des Erwachsenwerdens.
Es gab erwachsene Versionen, welche, die in Chloes Alter zu sein schienen und dann noch Ellis, die aussahen wie kleine Kinder.
Aber alle hatten einen unnatürlich harten Ausdruck im Gesicht.
Das stimmte nicht, merkte sie plötzlich.
Eine sah menschlicher aus als die anderen. Sie schaute neugierig zur gegenüberliegenden Wand, wo sich in diesem Augenblick eine andere Schiebetür öffnete. Herein kam ein ziemlich kräftiger Mann, den Chloe eher in einem Katalog für Herrenunterwäsche erwartet hätte und Lawrence1. Chloe erinnerte sich an ihn. Er hatte Elli bei ihrer letzten Begegnung vor Angst erzittern lassen.
Beide Männer trugen eine Art graue Uniformen aus Plastik, bestehend aus Segmenten, allerdings verhielt sich das Material wie gewöhnlicher Stoff. Die beiden wirkten, als wären sie in modische Insektenkokons gekleidet.
"Das sind sie also?", fragte Lawrence beim Näherkommen.
"Ja, die fünfzig Besten aus unserer derzeitigen Charge", sagte das Unterwäschemodel und klang dabei wie ein Staubsaugervertreter, der ein gutes Geschäft witterte. "Wie versprochen …"
"Wie viele waren das nochmal insgesamt?"
"Äh, eineinhalb Millionen."
"Hm …"
Lawrence trat vor einen hochgewachsenen Jungen. Er las, was auf seinem Hemd stand.
"Also, A356, richtig?"
"Ja, mein Herr", kam es seelenlos von dem Angesprochenen.
"Ah, Sie haben ein gutes Auge. A356 ist der beste von dem Trupp hier, wenn es um hyperfortgeschrittene mathematische Berechnungen geht, er-"
Lawrence schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.
"A356, folgendes Problem. Der Planet Taunus 778 liegt fünfundzwanzig Grad neben seiner Rotationsachse. Du hast einen Planet-Cracker der Kronos-Klasse mit ecteontropischen Kulma-Antrieb zur Verfügung. Wie korrigierst du mit diesen Mitteln die Lage des Planeten, ohne seine Landmassen zu beschädigen?"
"Ich würde den Planet-Cracker in einem der Meere versenken und dann die Thruster benutzen, um den Planeten erst ruhig zu stellen, zu verschieben und dann wieder zu beschleunigen. Sollte sich innerhalb von drei Stunden erledigen lassen."
Lawrence nickte.
"Guter Ansatz … bei Taunus 787 und nicht Taunus 778! Der hat keine Meere, es ist ein verdammter Gasriese, was der an Ozeanen hat, ist aus Xenon und gefroren. Du hättest fragen sollen, ob du Traktorstrahlen einsetzen kannst."
A356 schaute ihn ausdruckslos an.
"Das tut mir leid, mein Herr. Ich werde mich in Zukunft daran erinnern."
Lawrence schüttelte den Kopf und lief die Reihe ab.
Er hielt vor einem kleinen Mädchen mit braunen Haaren an, die es im Pferdeschwanz gebunden trug.
"X367, noch ziemlich jung, aber eine unserer Besten wenn es um das Ingenieurwesen geht", stellte der Vertreter vor. "Außerdem zeigt sie vielversprechende Leistungen im Bereich der Memetik und Kinetologie."
Lawrence runzelte die Stirn.
"Na dann, aufgepasst. Unspezifizierter Zwergstern, Entwicklungsstadium der Hauptreihe, achttausend Kilometer Durchmesser. Du sollst eine Dysonsphäre bauen, erläutere grob wie du vorgehst.
"Soll das umliegende Planentensystem intakt bleiben?", fragte das Mädchen.
"Nimm an, dass das System fünfzehn Planeten und drei Asteroidengürtel enthält. Nähere Angaben sind nicht verfügbar und werden es auch nie, weil das System als wertlos und ohne Leben eingestuft wird."
"Ich würde die Planeten und Asteroiden aufbrechen lassen und die Materialien für das Grundgerüst verwenden, sofern verfügbar, außerdem mache ich damit auch gleichzeitig Transportrouten frei, falls Teleport-Reisen unmöglich werden sollten. Die restlichen Materialien stelle ich durch ecteontropische Materieerzeuger. Dauer bei durchschnittlichem Planetenabstand: dreizehn Monate."
Lawrence schüttelte den Kopf.
"Dauert zu lange, das wurde schon in sieben Monaten geschafft. Außerdem Fangfrage, ohne nähere Informationen zu den Planetensystemen fängst du gar nicht erst an."
"Das tut mir leid, mein Herr. Ich werde mich in Zukunft daran erinnern."
Lawrence ächzte unterdrückt und ging weiter.
Er stellte auch den anderen Anwesenden Fragen, wenn er überhaupt vor ihnen anhielt. Teilweise ging er schon weiter, wenn sein Gegenüber länger als einen Augenblick für eine Antwort brauchte. Wenn er zufriedenstellende Antworten herhielt, bohrte er mit anderen Fragen weiter. Aber keiner der Kandidaten stellte ihn zufrieden. Nachdem er ungefähr die Hälfte der Reihe hinter sich gebracht hatte, stöhnte er auf.
"Angeblich sollten das die Besten sein, mit vom besten Hersteller … Ich denk dafür steht Mindtech mit seinem Namen."
Der Vertreter druckste ein wenig herum.
"Der Fairness halber, Sie stellen aus dem Blauen heraus ziemlich spezifische Fragen. Sie selbst bräuchten bestimmt auch Vorbereitungszeit für eine passende Antwort, oder nicht?"
"Ja", bestätigte Lawrence. "Aber die hier wurden mit dem Ziel geschaffen, besser als ich zu denken. Passen Sie auf, wir machen das kurz. Führen Sie mir die Einheit mit den besten Specs von allen vor."
Der Mann war kurz still.
"Äh, sind Sie sicher? Es tut mir leid das zugeben zu müssen, aber diese Einheit ist etwas … eigen …"
"Das entscheide ich, guter Mann", entgegnete Lawrence genervt. "Jetzt machen Sie schon!"
"Okay, ähm … I773, vortreten!"
Mit einem Ausfallschritt trat eine der Elli-Versionen vor. Chloe schätzte sie auf vierzehn Jahre. Sie schaute Lawrence mit gut gelaunter Neugier an.
Lawrence und der Vertreter wechselten einen Blick. Letzterer lächelte entschuldigend.
"Dann geben Sie mir mal eine ausführliche Kundenansprache", verlangte Lawrence "Nicht so kurz wie bei den anderen. Ein Kunde Ihrer Firma hängt daran …", verlangte Lawrence.
"Ääh … Also, wenn Sie darauf bestehen … Das ist I773, extremer Erfolg für unsere Firma, Produkt einer unserer neusten Fertigungseinrichtungen. Beste Gedankenverschlüsselungsalgorithmen und Telepathieabwehr, göttergetestet. Kopiergeschützt, sowohl mental als auch genetisch. Behält absolut alles was sie einmal gelernt hat korrekt im Kopf. Das Einzige, wo andere Einheiten überlegen sind, ist die Geschwindigkeit in einzelnen Bereichen, aber I773 wartet dafür gerne mit teilweise … unkonventionellen Lösungen auf. An sich ein absolutes Prachtstück, nur … Sie übersteht gerade so die Evaluierungen, sie scheint rudimentäre Emotionen ausgebildet zu haben, ist als Resultat extrem neugierig. Wir haben Sie nur noch nicht entsorgt, eben weil sie so unglaubliches Potential hat und eigentlich nur aus Prinzip heute mit vorgeführt. Sie hat als einzige hier jemals nach einem Luxusgegenstand gefragt …"
"Was denn?"
"Ein Plüschtier. Einer unserer Mitarbeiter hat ihr ein Gebrauchtes zukommen lassen."
"Hm …", machte Lawrence. "Neugierde … das könnte genau das sein, das wir brauchen …"
Er lief auf I773 zu, die ihn erwartungsvoll musterte.
"Also, Instabilität im Hyperraum, ausgelöst durch einen Raumzeitverzerrer, betrifft ein Gebiet drei Millionen Lichtjahre im Durchme- Hab' ich was im Gesicht?"
I773 sah ihn skeptisch an.
"Sie werden entschuldigen, aber was soll das für ein Monster von einem Verzerrer gewesen sein? Der letzte und größte bisher ist vor zweihundert Jahren explodiert, der Wirkungsbereich betrug gerade mal dreihunderttausend Lichtjahre."
Lawrence gab ihr einen anerkennenden Blick.
"Gar nicht mal so schlecht. Aber nimm alle meine Angaben als gegeben hin. Du hängst im Zentrum fest. FTL-Reisen sind unmöglich. Wie benachrichtigst du den nächsten Planeten?"
"Wo bin ich?", fragte Elli.
"Kleines Sportraumschiff. Sagen wir, Kryon BNV-23, in rot."
Das Mädchen runzelte die Stirn.
"Ich würde seinen Gravitronantrieb mit dem Dimensionskonverter kurzschließen. Wenn ich dann noch den richtigen Strom einstelle, da kann ich ja sukzessive alle Einstellungen durchprobieren, dann sollte ich einen Gegenimpuls erzeugen können, der die Verzerrung unabhängig von der Größe wieder entwirrt. Dann kann ich einfach den Äther benutzen."
Lawrence überlegte kurz angestrengt, dann begann er zu grinsen.
"Das kann durchaus funktionieren. Bravo."
Dann drehte er sich zum Vertreter.
"Ich nehme sie."
"Sind Sie sich wirklich sicher, dass-"
"Ich. Nehme. Sie.", wiederholte Lawrence.
"Aber was, wenn sie ungehorsam wird? Das Risiko besteht bei Emotion."
"Oh, damit komme ich schon zurecht …"
Aus dem Nichts heraus schossen um das Mädchen herum lange, schwarze Stacheln aus dem Boden hervor und verfehlten sie alle nur um Haaresbreite.
Der Gesichtsausdruck von I773, Chloe war sich jetzt sicher, dass sie Elli war, wandelte sich von Frohmut zu verwirrtem Grauen. Aber so schnell wie die Stacheln erschienen waren, verschwanden sie auch wieder.
"Ich hoffe, wir verstehen uns?", erkundigte sich Lawrence.
Elli nickte vorsichtig.
"Äh, wenn Sie erlauben, wofür genau brauchen Sie Neugierde?"
"Kennen Sie das Nexus-Weltencomputer-Forschungsprojekt? Sie wäre alles andere als das, was sie mir hier verkaufen wollen, wenn sie sich dabei gegen uns stellt."
Die Miene des Vertreters hellte sich auf.
"Oh, verstehe."
Die beiden schlugen ein.
"Das Geld wird wie üblich-"
Er drehte den Kopf als er sah, wie Gaunt in den Saal trat.
"Wer sind Sie denn?", fragte der Vertreter.
"Beachten Sie mich gar nicht, ich möchte nur mit dem Mädchen da sprechen", sagte Gaunt mit einem entschuldigenden Lächeln und näherte sich Elli.
Chloe sah sich hektisch um und huschte unbemerkt hinter einen Tisch, auf dem ein Haufen Chemikalien standen.
Ihr blick fiel auf eine Flasche Salpeter …
Elli hatte ihnen im Unterricht vorgeführt, wie Rauchgranaten funktionierten. Und dank ihrer besonderen Lehrmethoden konnte Chloe das nicht mehr vergessen.
Sie schnappte sich die anderen nötigen Zutaten und begann hektisch zu mischen.
Mittlerweile war Lawrence vorgetreten.
"Ich habe keine Ahnung, wo Sie Clown so plötzlich herkommen, aber wenn Sie sich nicht sofort verdünnisieren, dann ist der Boden Lava."
Vor Gaunt tat sich tatsächlich eine Erdspalte auf, in der geschmolzenes Gestein brodelte.
"Von mir aus, dann eben von hier", murmelte der alte Mann. "Hey, Elli, sag mir doch bitte, wie-"
Chloe stopfte den Becher zu, schüttelte kräftig, damit ihr chemischer Zünder auslöste und warf ihre Schöpfung zu der Menschengruppe.
Wie bereits erwähnt, war Chloe grottenschlecht darin, etwas zu werfen.
Das machte sie aber mit ihrem Einfallsreichtum wieder wett, denn was da aus dem Becher quoll als er zersplitterte, hätte ausgereicht, um ein Fußballstadion einzunebeln.
Großes Husten setzte ein, als die weiße Wand Ellis Kollegen und ihre Peiniger erreichte. Chloe für ihren Teil huschte nur mit einem Papiertuch von einer Papierrolle auf einem der Labortische vor dem Mund hindurch, ergriff Ellis Hand und zog sie mit tränenden Augen hinter sich her zum Ausgang.
Der Nebel hinter ihnen verschwand von einem Augenblick auf den anderen.
Und tauchte sofort wieder auf. Hinter ihr brüllte Lawrence wie am Spieß, aber Elli konnte nicht erkennen was passiert war.
Wortlos folgte ihr Elli bis zum Fahrstuhl. Chloe schlug mit der Faust auf den Knopf für das unterste Stockwerk, woraufhin sich die Tür gehorsam schloss.
"Was ist mit diesem Lawrence passiert?", hustete Chloe und atmete wieder auf.
"Der hat gerade mit seiner eigenen Realitätsbeugung das erlitten, was ich ihm angetan hätte, wenn ich damals schon gewusst hätte, was ich heute weiß."
Elli beließ es bei dieser kryptischen Beschreibung, brach trotz ihres Hustens, der Augentränen und der Rotzfahnen den Sicherungskasten des Fahrstuhls auf und begann Drähte umzustöpseln.
"Und jetzt meine Frage. Was machst du in meinem Traum?"
"Muss ich dir das wirklich jedes Mal auf's Neue erklären?", seufzte Chloe und machte sich an die Arbeit.
Es war merkwürdig mit ihr zu reden, denn Chloe musste nicht nach oben gucken. Diese Elli war nur ein paar Millimeter größer als sie. Sie stellte zwischendurch einige Fragen während sie weiterarbeitete, nickte aber, als Chloe geendet hatte.
"Ich verstehe das Problem", sagte sie. "Aber warum fahren wir nach unten? Ich habe zwar gerade sämtliche Beschränkungen des Fahrstuhls entfernt, aber trotzdem."
Chloe runzelte die Stirn.
"Um hier rauszukommen, Elli."
"Äh, Chloe, das hier ist kein Wolkenkratzer, sondern ein unterirdisches Erziehungslager", wies Elli sie auf ihren Denkfehler hin.
"Oh, dann müssen wir nach ob-"
"Auf keinen Fall fahren wir nach oben!", legte Elli fest. "Wir wären beide schneller tot als du 'ups' sagen könntest. Hier werden potentiell gefährliche Individuen festgehalten. Da kommt niemand ohne Genehmigung lebend raus und die Wachcyborgs hier bewegen sich mit halber Lichtgeschwindigkeit."
Chloe machte große Augen und presste die Lippen aufeinander.
"Äh, was machen wir dann?"
"Keine Sorge, sie dürfen hier nicht rein. Und es wird etwas dauern bis jemand merkt, was passiert ist. Einmal dank Lawrences Einmischung und dann noch, weil du es irgendwie hinbekommen hast, schwaches Senfgas herzustellen. Die Wachmannschaften werden ein paar Minuten brauchen, um die Situation zu klären. Und mit etwas Glück sind wir weit genug von Gaunt weg, sodass er aus dem Traum fällt."
"Wie habe ich das mit dem Senfgas geschafft?", fragte Chloe verwirrt.
Sie merkte erst jetzt, dass ihre Haut leicht brannte.
"Du hast einen chemischen Zünder gemischt, oder?"
"Ja?"
"Und du hast versehentlich nach der grünen Flasche gegriffen und reingeschüttet bevor du gemerkt hast, dass du eine der braunen brauchst?"
"Ja?"
"Und da haben wir auch schon den Grund. Kein Wunder, dass du solchen Rauch erzeugen konntest."
Der Fahrstuhl kam endlich zum Halten und öffnete sich.
Der Raum dahinter wurde von weißem Licht erhellt, das von Boden und Decke zu kommen schien, als wären zwischen zwei riesigen Lampen ein paar Wände gezogen worden.
Chloe konnte die Maße des Raums nicht abschätzen, aber er war mit zahlreichen identischen Maschinen mit den Ausmaßen eines Campingwagens bestückt, alle fein säuberlich aufgereiht. Ihre graue Farbe und ihr Design ließen sie bedrohlich wirken.
Jede der Maschinen hatte eine Art zylinderförmige Ausbeulung, etwa dreißig Zentimeter im Durchmesser und sechzig Zentimeter lang. Eine Schiebetür war daran angebracht. Elli machte sich an einem Panel neben dem Fahrstuhl zu schaffen und gab offenbar so etwas wie einen Code ein. Chloe beachtete sie gar nicht. Und ihre Neugier siegte.
Sie schob eine der Türen auf.
Darunter kam ein Glaszylinder mit einer grünen, durchscheinenden Flüssigkeit zum Vorschein.
Und in dieser Flüssigkeit schwamm ein menschlicher Fötus, vielleicht acht Monate alt. Die Nabelschnur verschwand in einer der Deckflächen des Glaszylinders. Seine Augenlider zuckten unruhig ob des plötzlichen Lichteinfalls.
Zutiefst verstört schloss Chloe die Tür und ließ den Blick über die scheinbar unendlich vielen identischen Maschinen schweifen.
Und in jeder von denen ist ein-
Sie quiekte erschrocken, als Elli ihr von hinten auf die Schulter tippte. Sie drehte sich erschüttert um.
"Wie viele sind das, Elli?"
"Ungefähr tausend, warum?", kam es wie aus der Pistole geschossen.
"Elli! Was ist das für ein Ort? Und warum bist du so ruhig?"
"Das ist eine Brutkammer", erklärte Elli. "Ich bin hier nicht zum ersten Mal, darum bin ich ruhig."
Chloe klappte die Kinnlade herunter.
"Was hast du hier unten gemacht? Menschenexperimente!?"
Elli schüttelte den Kopf.
"Nein, Chloe. Ich wurde hier geboren."
Chloe prallte vor dieser Antwort zurück und musste sich festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dann merkte sie, an was sie sich festhielt und ließ angeekelt wieder los.
Elli schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund.
"Oh verdammt!, Chloe, ich-"
Sie brach furchtsam ab, als sie sah wie Chloe eingehend die Maschinen betrachtete.
Elli wurde künstlich erschaffen …
Und trotzdem menschlicher als viele, die sie kannte …
Ihr rasender Puls beruhigte sich mit diesem Hinweis. Immerhin konnte sich niemand aussuchen, auf welche Weise er geboren wurde, oder?
Sie drehte sich zu Elli um.
Und zuckte mit den Schultern.
"Was soll's. Ich habe Dean verkraftet, deine Herkunft macht doch keinen Unterschied, oder?"
Elli sah sie fassungslos an.
Es herrschte absolute Stille, nur unterbrochen vom leisen Summen der Brutmaschinen.
Chloe fühlte sich gezwungen, das Schweigen zu brechen.
"Ähm, ich fühl' mich in der Gegenwart von diesen Dingern trotzdem unwohl, können wir-"
Sie wusste nicht so recht, was sie erwartet hatte, allerdings nicht, dass Elli ihr in den Arm fiel und zu weinen anfing.
"Danke, Chloe …", kam es mit unendlicher Erleichterung von ihr. "Du hast keine Ahnung, was mir das bedeutet …"
Sie wurde von einem weiteren Weinkrampf geschüttelt.
Allerdings hatte Elli recht. Chloe hatte tatsächlich keine Ahnung, was ihr das bedeutete. Aber wenn man von Lawrence ausging war Ellis Zuhause extrem rau und kalt zu ihr gewesen … Sie klopfte Elli auf den Rücken.
"Ist ja gut. Ist ja nicht so, als wäre ein Monster aus dir geworden …"
Elli wurde schlagartig starr.
"Das ist es!"
Elli löste sich von Chloe und kehrte zum Panel zurück.
"Ich habe die perfekte Erinnerung, selbst wenn noch einer von diesen alten Säcken nachgekommen ist. Da ist nur ein Problem … Es ist meine Schlimmste … Mist hier gibt es nichts Spitzes … Dann muss ich wohl die Hände nehmen …"
Chloe lief ihr hinterher.
"Warte, Elli!", rief sie. "Ich glaube nicht, dass ich noch einen Traum überstehen kann! Ich habe es gerade so in den hier geschafft."
Sie kam hinter Elli zum Stehen.
"Ich weiß …"
Und mit diesen Worten drehte sich Elli um und packte Chloe an der Gurgel. Chloe sah, wie ihr die Tränen aus dem Gesicht rannen.
"Ich weiß es tut weh, Chloe. Aber du musst dich beeilen und hier rauskommen. Ich kann diesen Traum nicht mehr lange halten, nicht seitdem du mir die Idee gegeben hast. Bitte …"
Chloe versuchte nicht sich zu wehren, aber sie konnte ihren Körper nicht davon überzeugen zu ersticken. Und sie spürte, wie Elli begann, locker zu lassen.
"Nein! NEIN! Kämpf' nicht dagegen an, Chloe!"
Eher unwillkürlich holte sie wieder Luft, als Elli es nicht mehr über sich brachte Chloe zu erwürgen.
Und mit einem gewaltigen Ächzen brach der Traum in sich zusammen.
Gaunt atmete schwer, als sich der Traum wieder konsolidierte. Er hatte es nur geschafft nicht herauszufallen, weil sich die Träumende nach unten bewegt hatte. Hieß, dass er immer wieder durch den Boden in die darauffolgenden Stockwerke gefallen war. Er hatte jede Menge blaue Flecken.
Er sah sich um.
Alles um ihn herum war metallisch weiß. Er befand sich in einem weiten Gang. Schriftzeichen standen an den Wänden, die er lesen konnte, obwohl er sie noch nie gesehen hatte …
Aus der Ferne tönte Geschrei an seine Ohren.
Er bewegte sich darauf zu, denn inzwischen wusste er, dass er Elli immer da antraf, wo es am lautesten war.
Dann kam er an einem Aussichtsfenster vorbei …
Er konnte nur Schwärze dahinter erkennen, in der eine Art helles Licht in unendlicher Ferne langsam einen gewaltigen Kreis zog. Dann rannte ihm plötzlich dieser Mann mit dem blonden Pferdeschwanz entgegen, der versucht hatte, ihn in Lava zu werfen.
Er sah gehetzt aus.
Gaunt wollte umdrehen und vor ihm weglaufen, doch der Mann schien ihn gar nicht zu beachten, so schnell sprintete er an ihm vorbei und verschwand in einer Art winzigen Kabine mit Fenstertür, die in der Wand verbaut war.
Es kam zu einem kleinen Lichtblitz und er war verschwunden.
Wütendes Geschrei drang an seine Ohren. Gaunt setzte sich wieder in Bewegung und konnte tatsächlich Worte ausmachen.
"Es tut mir so leid …", hörte er Elli weinen.
"DU JÄMMERLICHER KLON! DU HAST UNS NICHT EINFACH GETÖTET! DU WIRST UNS VOLLSTÄNDIG LÖSCHEN! ICH WERDE-"
Plötzlich war nichts mehr.
Schneller als Gaunt es hatte mitbekommen können, breitete sich vom Raum vor ihm eine Art schwarze Sonne aus, die alles verschlang, was ihr in den Weg kam. Er merkte gar nicht, wie er zu existieren aufhörte und folglich aus dem Traum geworfen wurde. Aber er spürte mit jeder Faser seines Seins, wie Ellis Geist ihn zerquetschte.
Dean hatte vor einer Weile den Telepathieschild hochgefahren und harrte nun auf einem Hocker sitzend der Dinge, die da kommen würden.
Unvermittelt brach Ellis Fehlermeldung ab und sie drehte sich unruhig murmelnd auf die Seite.
Dean sprang auf und rüttelte an Chloes Schulter.
"Chloe, du hast es geschafft!", jubelte er in gewohnt gemäßigter Art.
Keine Antwort.
Chloe erschien ihm außerdem immer weniger schlafend und mehr und mehr leer.
"Chloe?"
"Komm schon, kämpfe, Chloe!"
Elli schlug die Augen auf. Sie kannte den Ort an dem sie war nicht. Es war eine Art Bibliothek mit weißen Wänden. Und sie schien sich mehr und mehr räumlich zu verzerren. Regale waberten wie durch heiße Luft betrachtet, der Boden bog sich mehr und mehr durch, um die Decke zu verschlingen und sie hatte das Gefühl, dass sie an einer Wand lehnte, obwohl sie auf dem Boden lag.
Über ihr kniete ein schlanker Mann mit Gewerkschafterbart und Augen so silbern, dass es schien als hätte er zwei Metallkugeln im Schädel stecken.
Elli wusste, dass sie träumte, aber sie kannte diese Erinnerung nicht. Sie war nie an einem solchen Ort gewesen. Vermutlich würde sie gleich gelöscht werden …
"Chloe! Wach auf!", bellte der Mann.
Elli runzelte die Stirn. Verwechselte er sie mit jemandem? Schien wohl so zu sein, denn als sie an sich herunterblickte erkannte sie sich selbst nicht wieder.
Ihr Körper war zu klein, eher der eines Mädchens als der einer erwachsenen Frau und was sie an Haar erkannte war weiß.
Aber noch während sie hinsah bemerkte sie beruhigt, dass sich ihr gewohntes Blond wie Tinte durch ihr Haar arbeitete, während sie in die Länge wuchs.
Die Reste der Decke über ihnen brach weg und offenbarte einen schwarzen Wirbel, in dem alle Farben des Regenbogens funkelten wie Glassplitter in einem Tornado.
Der Sog erreichte sie allmählich.
"CHLOE!", brüllte der Mann.
Wer zum Henker war Chloe?
Das Gesicht eines Mädchens blitzte in ihrem Kopf auf.
Um sie herum begannen Regale zusammenzubrechen, als sie den dimensionalen Spannungen nicht mehr standhalten konnten. Die Bücher wurden jedoch von einer Art weiß leuchtenden Gitter an Ort und Stelle gehalten, das urplötzlich auftauchte. Es wirkte heilig.
Ach ja richtig, Chloe Winter … Warum erinnerte sie sich nicht an sie? Sie war doch ihre …
Es war ungewohnt schwierig für Elli, einen Gedanken zu fassen. Lag sie im Saufkoma?
Sie nahm ihr Haar zwischen die Finger, das inzwischen wieder fast komplett blond war.
Sie kannte diese Erinnerung nicht …
Weil es keine Erinnerung war!
Und plötzlich wusste sie auch, warum …
Sie war nicht Elli!
Ich bin Chloe!
Mit einem gewaltigen Krachen reparierte sich die Decke und Chloes Gedächtnisbibliothek nahm wieder ihre gewohnten Raumdimensionen an.
Es dauerte aber noch etwas, bis sich Ellis Chloes Körper wieder normalisierte.
Sie stöhnte unterdrückt. Chloe hatte heftige Kopfschmerzen.
Ku atmete auf.
"Oh, Ein Glück … Weißt du, was du für einen Dusel gehabt hast, Fräulein!?"
"Was … Was ist passiert?", fragte Chloe und setzte sich vorsichtig auf.
"Das Link hat weit genug nachgelassen, sodass du dich aus Reflex wieder in deine eigene Traumwelt absetzen konntest, als Ellis Erinnerung wechselte", erklärte der tote Gott. "Allerdings war die telepathische Verbindung immer noch da und Elli hätte dich beinahe zerquetscht, wenn sie nicht so starke Erinnerungen an dich gehabt hätte. Nur so konntest du überhaupt bemerken, dass du noch nicht sie warst."
"Was ist mit Gaunt passiert?", fragte Chloe.
Ku zuckte mit den Schultern.
"Keine Ahnung. Wenn Elli ihre Drohung wahrgemacht hat, dann hat sie ihn selbst zerstört. Aber du kannst nicht mehr zurück, zumindest nicht, bis sich dein Geist wieder konsolidiert hat, sonst bist du beim nächsten Link direkt verloren. Es ist ein Wunder, dass deine Psyche und dein Gedächtnis keine bleibenden Schäden davongetragen haben …"
"Kann ich bitte aufwachen?", stöhnte Chloe durch ihre Migräne hindurch.
Kus Gesicht nahm den säuerlichen Ausdruck von eintausend Zitronen an.
"Okay, na gut. Kümmer' dich nicht um das, was ich dir gerade sagen will …"
Chloe wachte auf.
Dean schaute hinunter auf sie.
Und dann merkte sie plötzlich, was Ku ihr hatte sagen wollen.
Ihre echten Kopfschmerzen waren zehnmal schlimmer …
Elli grummelte müde, als sie sich aufsetzte. Irgendwas hatte sie aus dem Schlaf geholt und da sie nicht mehr einschlafen konnte, beschloss sie, den Vorgang unter Einsatz von Portwein zu erzwingen.
Stirnrunzelnd betrachtete sie den Telepathieschild, den Dean um sie herum aufgebaut hatte. Das würde er ihr später erklären müssen.
Als sie in die Küche gehen wollte, um sich ein Glas zu besorgen, hörte sie Dean darin herumhantieren.
Dafür war es aber noch ein wenig früh …
Normalerweise trieb er sich irgendwo im Haus rum und wischte Staub und Flecken weg, die außer ihm niemandem aufgefallen wären.
"Wie viele Aspirintabletten brauchst du?", hörte sie ihn fragen.
Und zu Ellis Überraschung antwortete Chloe stöhnend.
"Alle …"
"Ich geb' dir zwei …"
"Chloe?", fragte Elli und betrat die Küche. "Morgen. Wie bist du denn in die Schule gekommen? Heute ist Samstag.
"Du hast nichts mitbekommen?", fragte Dean.
"Nein, wieso?", fragte Elli verwirrt. "Ist was passiert?"
"Ich glaube, das müsste dir Chloe erklären …"
Die aber schaute Dean nur für zehn Sekunden mit stechendem Blick an.
Dann legte sie den Kopf in den Nacken und begann lauthals zu jammern …
Das nächste Mal bei Nexus:
Die Hexe, die Zauberin und die Dimensionsreisende, Teil 1