Träumen mit Elli, Teil 1

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Das letzte Mal bei Nexus:
Der Zornregulator, Teil 3

Elli war zum Zerreißen gespannt, während sie die gewaltigen Hallen durchschritt, die sich in Weiß und Grau über ihr auftürmten. Durch Fenster konnte man die gnadenlose Leere des Weltalls sehen.

Sie musste das tun. Es gab keine andere Möglichkeit …

Vor ihr war eine große automatische Schiebetür aus Metall. Elli benutzte den Nexus, um einfach hindurchzulaufen. Auf der anderen Seite erwartete sie: Ihr Ebenbild.

"Ja was zum-", entfuhr es der zweiten Elli.

Ihr begannen die Tränen über die Wangen zu laufen.

"Es tut mir so leid …"

Wütende Schreie.

Ein leuchtendes Licht, das in der Leere einen Kreis zog.

Eine wachsende, schwarze Sonne.

Elli schreckte schwer atmend aus dem Schlaf.

Sie hasste es, zu schlafen. Sie hatte jedes Mal Alpträume, wenn sie sich nicht gerade ins Koma gesoffen oder K.O. geschlagen worden war. Aber leider war es bitter nötig. Sie hatte versucht, mit dem Nexus ohne Schlaf auszukommen. Es hatte keine drei Tage gedauert und Dean hatte bei ihrem Anblick gedacht, die Zombieplage sei im Nexus ausgebrochen. Wohl oder übel musste sie sich dieser biologischen Funktion unterwerfen, die sie dazu brachte, ihr Bett zu zerwühlen und gelegentlich auf den Boden zu fallen. Und das war eine Leistung, denn Ellis tiefrot bezogenes Bett bemaß aus genau diesen Gründen acht Quadratmeter.

Das Problem war nun Folgendes: Schlafengehen hasste sie sehr. Aufstehen aber noch viel mehr.

Stöhnend stand sie mit zerzausten Haaren auf. Sie trug einen flauschigen, lila Pyjama. Sie hatte auch Nachtgewänder für andere Gelegenheiten, auch solche die mehr als eine Person erforderten, aber der hier war am gemütlichsten.

Während sie grummelnd in die Küche schlurfte, kämmte sich ihr Haar von selbst. Sie beschwor eine angefangene Flasche Gin, um einen angemessenen Alkoholpegel zu erreichen.

Dean stand in der für Ellis Verhältnisse relativ kleinen Küche am Herd.

Sie setzte sich halb schlafend an den Tisch.

"Ziemlich früh heute. Ist heute ein besonderer Tag?", fragte Dean und warf die Kaffeemaschine an.

Elli brummte etwas Unverständliches und wartete auf den Kaffee.

Die Kaffeemaschine hatte sie selbst gebaut. Der Kaffee, den Dean schließlich servierte, hatte die Konsistenz von dickem Kleister und war schwarz wie ein Stück Kohle. Elli rührte mit einiger Anstrengung Milch und zwei Würfel Zucker hinein und ließ die Brühe in ihren Rachen laufen. Während das Koffein allmählich ihren Körper hochfahren ließ, setzte Dean ihr ein Raptor-Omlette und zwei Scheiben Toast vor, die perfekt goldbraun gebrannt waren. Elli gab sich nicht mit Qualitätsware zufrieden. Sie nahm sie auseinander und baute "kleine Verbesserungen" ein. Das galt für die Kaffeemaschine und den Toaster, aber auch für den Herd, den Ofen, den Kühlschrank und die Brotschneidemaschine, die die Scheiben gleich mit vorwärmte.

Elli aß zu ihrem Toast Weltraummarmelade, Honig von drei Meter großen Bienen und Nutella vom Mars.

Dean stand derweil neben ihr und nahm ihr sämtliche Flaschen mit Alkohol ab, die sie an den Tisch zu schmuggeln versuchte. Heute waren es neun.

Heute war mal wieder Zeit für Unterricht, so hatte Elli sich vorgenommen. Gestern hatte sie die Arbeiten fertig korrigiert, auch wenn sie nur zu einem Drittel bei der Sache gewesen war.

Der zweite Teil ihres Hirns beschäftigte sich in solchen Fällen mit anderen Problemen, wie etwa neuen Geräten, die sie bauen oder ergattern wollte oder was sie als nächstes in Deans neue Körper einbauen wollte. Momentan hatte er nur den, den er gerade benutzte. Der weibliche lag in Fetzen1. Der dritte Teil ihres Hirns derweil schlenderte immer fort und dachte so viel wie möglich an Sex.

Sie betrat die Schule wie üblich über den Chemie-Vorbereitungsraum im zweiten Stock, zusammen mit Dean und machte sich auf den Weg zum Klassenzimmer.

Das Erste, was Elli generell tat war, Kurzkontrollen schreiben zu lassen. Dank ihrer Mems, die sie in ihrem Unterrichtsstoff verarbeitete war es inzwischen eine Art Errungenschaft, wenn man bei ihr schlechter als Drei abschnitt. Das Thema des Tages waren Enthalpie- und Entropieberechnungen, allerdings solche, die erst an Universitäten gelehrt wurden. Elli für ihren Teil verstand das Problem nicht, Kindern Dinge beizubringen, die angeblich noch außerhalb ihres Horizonts lagen. Es funktionierte ja offensichtlich. Sie selbst hatte mit fünf Jahren schon fortgeschrittene Berechnungen der Quantenchemie können müssen, ohne Formelsammlungen zu Rate zu ziehen, da erschien ihr das hier doch ziemlich barmherzig.

Wer die Schüler um sie herum beobachtete, der merkte, das einige von ihnen vor Elli zurückwichen, wenn sie sie in ihrer Nähe wussten. Das waren ehemalige Drangsalierer von Chloe, mit denen sich Elli eindringlich unterhalten hatte.

Wo man gerade von ihr sprach, allmählich machte sich bemerkbar, dass ihre Lebenszeit begrenzt war. Mit Sorge sah Elli, wie die ohnehin nicht sehr beleibte Chloe zunehmend an Gewicht verlor. Sie wurde blass und was sie so aus dem Sportunterricht hörte ließ nichts Gutes erahnen. Sie erschöpfte immer schneller. Elli versuchte, sich dem entgegenzustemmen, indem sie Chloe immer zum Essen mitnahm, aber scheinbar fehlte ihrem Körper inzwischen die Kraft, große Mahlzeiten vollständig zu verwerten.

Sie verwendete einen Teil ihrer Denkkapazitäten auf dieses Problem, während sie eine andere Klasse im fünften Schuljahr über menschliche Fortpflanzung aufklärte. Sie wusste, dass eine Menge Kinder, die in dieser Zeit geboren wurden eigentlich nur Unfälle waren, daher tat sie das nächstbeste zu Verhütung, sie erklärte den Prozess und die dabei zum Einsatz kommenden Organe in größtmöglichem Detail. Sie war schon zweimal zum Rektor zitiert worden, weil sie es hinbekommen hatte, dass sich jemand während solcher Erklärungen übergeben musste, allerdings war Direktor Luft ein sehr pragmatisch eingestellter Mensch, der ihren Kurs sogar guthieß, nachdem er selbst einer solchen Stunde beigewohnt hatte, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

Trotz solcher Vorkommnisse, wie auch unter anderem ihrer "versehentlichen" Freisetzung von Buttersäure, sowie ihre sehr anschaulichen Beschreibungen der Zustände in den deutschen Konzentrationslagern während des Nazi-Regimes, war sie leider die beliebteste Lehrerin an der Schule.

Elli mochte diese Aufmerksamkeit nicht. Sie bekam Belobigungen für etwas, bei dem sie sich nichtmal Mühe gab. Es fühlte sich … unnatürlich an. Wenn Dean einen von ihr gebauten Körper pries oder Chloe während ihrer Ausflüge zur Abwechslung mal breit grinste, dann schwellte ihr die Brust vor Stolz, aber das hier …

Das Ganze wurde auch nicht besser, denn später war noch Lehrerversammlung und Elli wurde mit Lob überschüttet, da ihre Schüler in der PISA-Studie den Durchschnitt nach oben verschoben hatten.

Sie ächzte innerlich.

Man mag es sich kaum vorstellen, aber Elli litt an Erfolg. Diese ganzen Lobpreisungen zehrten sie aus.

Dean für seinen Teil trug jeglichen Applaus mit Fassung. Inzwischen nannte ihn absolut jeder "Meister Proper", da dank ihm das Schulgebäude inzwischen wahrscheinlich in besserer Verfassung war als am Tag seiner Erbauung. Mittlerweile gab es auch keine Schmutzfinken mehr an der Schule. Dean machte bei ihnen sauber. Er reinigte Fahrräder von allem, selbst Schmierfett, befreite Mopeds und andere Motorfahrzeuge der Täter von sämtlicher Schmiere, Öl und Fett und säuberte sie so gründlich, dass sogar der Lack und die Farbe vollständig verschwanden2 und wusch Buntwäsche weiß, während sie beim Turn- oder Schwimmunterricht in den Garderoben zurückgelassen wurde. All das, ohne dass man ihm jemals was hatte nachweisen können.

Bei Dean wurden Leute nicht nur außen sauber, sondern wenn Not am Mann war auch im Inneren.

Elli beneidete ihn um seine Unfähigkeit zu erschöpfen, denn sie war am Ende des Tages völlig alle. Sie torkelte mehr als sie ging, als sie endlich in den Nexus zurückkehrte. Sie merkte, dass sie ihr Nexusportal im Vorbereitungsraum offengelassen hatte, während sie zur Küche schlurfte, um sich ein fünfzig Zentimeter langes Sandwich zum Abendbrot zu machen. Was soll's, dachte sie sich. Es war Freitag, also hatte sie für mindestens zwei Tage sowieso Ruhe.

Sie schlang ihr Abendmahl hinunter, während Dean neben ihr saß und Ellis Lieblingssocken stopfte. Danach gab es ein heißes Bad.

Wer Ellis Küchenuntensilien gesehen hat, der kann sich vorstellen, wie ihre Badewanne aussah. Oder allgemein ihr Badezimmer, denn sie hatte mehrere Badewannen und Duschen für verschiedene Anlässe. Und ein Klo mit beheizbarer Brille und mehreren Reinigungsdüsen, die sämtliche Hinterlassenschaften sofort in ihre atomaren Bestandteile zerlegten.

Die größte Wanne hatte die Abmessungen eines Swimmingpools und war in den Boden eingelassen. Sie besaß Sitzflächen, Beleuchtung in verschiedenen Farben und mehrere hundert Hochdruckwasserhähne, je nachdem, was genau Elli an Badewasser eingelassen haben wollte. Sie waren beschriftet mit Wörtern wie "Alpenfrische", "Eselsmilch", "Dschungelfeeling", "Kräuterbad", "Wein", "Eisberg", "Hamstermilch", "Für späteren Spaß zu zweit" und "Orgie". Die zweite war für mehrere Personen ausgelegt, ebenfalls ein Whirlpool und hatte ein eingebautes Radio sowie Getränkehalter. Dann gab es noch eine mit heißem Wasser befüllbare Hängematte, einen enttäuschend normalen Jacuzzi, wenn man von der Antigravitationsfunktion absah, die Wasser unberührt ließ und eine Badewanne, die ebenfalls ein Whirlpool war, Wasserstrahler besaß, Elektromassagen durchführen konnte und auf Knopfdruck zahnlose Doktorfische freiließ, die tote Haut direkt vom Körper fraßen.

Elli verzichtete heute auf all diese Funktionen und ließ sich einfach ins warme Wasser (mit Lavendelöl) sinken.

Später kam sie wieder in ihrem Schlafzimmer an um das zu tun, was sie absolut nicht leiden konnte, aber leider absolut notwendig war.

Sie ließ sich auf ihre Formgedächtnismatratze sinken und deckte sich mit einer völlig normalen Bettdecke zu. Sie arbeitete bereits an einem Ersatz, der fliegen konnte und sich im Schlaf nicht verschob.

Ein Teil von ihr weigerte sich, einzuschlafen, aber dieser Aspekt der menschlichen Natur duldete auf Dauer keinen Widerspruch. Elli sank in das Reich der Träume.

Und durch das offene Portal begann etwas in den Raum zu strömen, das nur darauf gewartet hatte, dass ein Geist wie der der von Elli sich endlich schlafen legte.


Chloe träumte schlecht. Sie war in einem dunklen Raum gefangen. Irgendwas war ziemlich warm hier drin, aber sie wollte sich nicht umdrehen.

Nun schwanden vor dem heiligen Strahle des schwarzen Dunkels gräuliche Schatten.

Die Stimme war ruhig und bestimmt. Chloe Herz blieb beinahe stehen, als sie sie hörte.

Der erste Tag entstand. Verwirrung weicht, und Ordnung keimt empor.

Sie hasste diese sanfte Stimme. Aber sie konnte nirgendwo hin fliehen. Sie hörte ein metallisches Klirren und etwas Heißes näherte sich ihr. Und als sie an sich herunter sah, da sah sie den Körper eines vierjährigen Mädchens …

Erstarrt entflieht der Höllengeister Schar in des Abgrunds Tiefen hinab zur ewigen Nacht.

"FISS!"


Ein Klicken schreckte Chloe aus ihrem Alptraum. Sie vergaß fast sofort, worum es gegangen war.

Dann kam das Klicken wieder. Es schien von ihrem Fenster zu kommen.

Müde und verwirrt stand sie auf und schlurfte hinüber, während das Klicken ein weiteres Mal ertönte. Es stammte offenbar von einem Kieselstein, der gegen ihre Scheibe geworfen wurde.

Das hier ist der vierte Stock!

Sie öffnete das Fenster und erblickte den großen Umriss von Dean unten auf der Straße.

"Dean?! Was machst du hier? Es ist drei Uhr morgens!", flüsterte sie.

Dean schien sie zu hören, denn er hielt ein Schild hoch.

DIE ZEIT DRÄNGT, ELLI IST IN GEFAHR! DU MUSST MITKOMMEN, stand darauf geschrieben.

"Warte kurz …", sagte Chloe und zog sich rasch an.

Ungekämmt und müde verließ sie ihre Wohnung und kam hinunter. Dean erwartete sie mit kaum ersichtlicher aber dennoch vorhandener Ungeduld.

"Endlich", sagte er. "Ich wusste nicht, wen ich sonst fragen kann, aber das ist wichtig. Komm mit."

Er zog eine verwirrte Chloe hinter sich her.

"Dean. Was ist denn los?"

"Irgendwas scheint in Ellis Geist eindringen zu wollen, während sie schläft. Ich habe da so eine Ahnung, aber ich brauche dich, um es zu bestätigen."

"Warum? Und woher willst du das wissen?"

"Dazu später. Am besten, du siehst es dir selbst an …"

Dean leitete Chloe zur Schule und half ihr durch ein offenes Fenster hinein. Sie hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, aber ihre Schule war gruselig bei Nacht.

In einem Chemievorbereitungsraum befand sich ein Nexusportal, das in Ellis Wohnzimmer führte.

Von da aus nahm Dean einen sinnverwirrenden Weg durch Ellis Haus, der teilweise an der Decke von Räumen entlangführte, bis sie Ellis Schlafzimmer erreichten.

Das Bett war riesig. Daneben befand sich ein Spiegel und eine Kommode mit der Aufschrift "Mein Spielzeug! Finger weg!"

Elli lag auf dem Bett. Ihre Augen rollten unter ihren Augenliedern unablässig umher. Und sie wiederholte mit monotoner Stimme immer wieder denselben Satz.

"Warnung: Angriff auf geistige Verfassung festgestellt. Fehlercode 38890. Erbitte Extraktion mentaler Fremdkörper."

"Was ist Fehlercode 38890?", fragte Chloe, aber Dean war weg. Es dauerte kurz bis er mit einem Glas mit blauer Flüssigkeit zurückkam.

"Dean? Was ist das für ein Fehlercode? Und was hast du da?"

"Ich habe keine Ahnung", sagte Dean. "Ich habe noch nie erlebt, dass Elli sich so verhalten hat. Normalerweise hat sie einfach nur Alpträume und wirft sich im Schlaf hin und her. Aber das hier ist völlig neu."

Er stellte das Glas auf Ellis Nachttisch und nahm eine eingeschweißte Schlucktablette aus der Tasche, die er Chloe reichte.

"Was ist das?"

Dean seufzte gequält.

"Schau, eigentlich gibt es Spezialisten für sowas, aber solange Elli außer Gefecht ist, stecke ich hier fest. Darum muss ich dich schicken, damit wir wenigstens herausbekommen, was hier los ist. Darum werde ich dich in ihren Traum schicken."

Er nahm wieder die blaue Flüssigkeit an sich und flößte Elli einen Becher ein.

"Das hier ist Link", erklärte er. "Versetzt mit Schlafmittel. Es erlaubt es, die Gedanken zweier Menschen miteinander zu verbinden. Wurde eigentlich erfunden, damit Psychiater die Träume ihrer Patienten analysieren können, aber inzwischen gibt es an einigen Orten regelrechte Denk- und Traumparties, wo das Zeug als Partydroge herhält. Auf Elli wirkt das Zeug allerdings anders, darum die Pille da. Jetzt schluck sie endlich!"

"Warum? Was passiert dann?", wollte Chloe wissen.

Dean druckste ein wenig herum.

"Ellis Gedankenwellen sind so stark, dass sie, anstatt mit anderen zu harmonieren, einfach alles niederwalzen. Dadurch wird jeder Linker automatisch in ihren Geist gezogen."

"Das wollen wir doch erreichen, oder?"

Dean zögerte kurz mit der Antwort.

"Ja, aber du hast keine Ahnung davon, wie absolut titanisch Ellis Geist ist. Das hier ist ein Konzentrationsverstärker, normalerweise muss den der Patient nehmen, dessen Träume untersucht werden sollen, damit der Psychiater in seine Träume eindringen kann. Du musst sie nehmen, weil es deinem Verstand sonst wie einem Tropfen Wasser ergeht, der in den Ozean fällt. Wäre nicht das erste Mal. Normalerweise kann man überhaupt nicht in ihren Geist eindringen und wenn sie schläft … Nun, es gibt Leute, die sich in Elli verloren haben. Entweder sie kamen mit schweren geistigen Schäden zurück oder … Überhaupt nicht … Vermutlich so eine Art letzte Verteidigungslinie oder so. Auf jeden Fall, Elli kann dich im Schlaf umbringen."

Chloe schluckte hörbar, bevor sie endlich die Tablette einnahm.

Plötzlich gewann ihr Sichtfeld eine neue Schärfe. Sie nahm mehr Details war.

"Und was ist mit dir? Du kannst keine Tabletten nehmen", erkundigte sie sich.

"Ich muss hierbleiben, Chloe. Ich bin eine Maschine. Ich kann nicht träumen."

"Oh … ich muss alleine da rein?"

"Allerdings. Und schnell, trink. Die Hälfte sollte reichen aber bitte pass auf dich auf. Wir haben nach deinem Schluck nur noch eine Dosis Link und keine Pillen mehr."

Mit zitternden Händen nahm Chloe den Becher entgegen und trank behutsam. Sie gab das Gefäß zurück, dann schluckte sie.

Und wurde sehr schnell müde.

Sie spürte noch, wie Dean sie auffing, bevor sie in einen tiefen Schlaf fiel.


Chloe fand sich plötzlich in einer abendlichen Stadt wieder. Überall um sie herum waren Holzhütten mit bunten Fassaden. Sie brauchte kurz, um die Architektur und die Kleidung der Leute um sie herum einzuordnen. Sie war im Wilden Westen gelandet.

Ihr blauer Rock und ihr Shirt waren schmerzhaft anachronistisch, aber außer ein paar komischen Blicken zog dieser Umstand nichts auf sie. Sie sah sich um.

Wo hielt sich Elli in einer Wild-West-Stadt auf?

Sie nahm den kürzesten Weg zum Saloon.

In der Kneipe, deren Wände mit den Köpfen erlegter Weidetiere tapeziert waren, schien eine Party gefeiert zu werden. Überall waren Leute mit Trinken beschäftigt, an einem Tisch wurde gewürfelt, an einem anderen wurde mit Karten gespielt. Allgemein herrschte in dem Laden heitere Stimmung.

Und in all dem fröhlichen Chaos entdeckte Chloe blondes Haar.

Elli trug ein Cowgirl-Outfit und befand sich in einem Duell mit einem großen, bulligen, unrasierten Cowboy mit einem roten Halstuch.

Die Waffe der Wahl: Whiskey.

Um die beiden herum standen einige Männer und Frauen und feuerten die beiden Kontrahenten an.

"Los, Big John, mach sie fertig!"

"Komm schon, Elli! Ich habe zehn Dollar auf dich gesetzt!"

Elli leerte lächelnd ein weiteres Glas und goss sich wieder ein.

Das schien als Provokation aufgefasst zu werden, denn Big John setzte nach.

Und kippte vom Stuhl.

Elli trank nochmal und warf im Triumph die Faust in die Luft, während um sie herum gleichzeitig Jubel und Wehklagen ausbrach. Gewettetes Geld wechselte den Besitzer.

"Elli!", rief Chloe.

Sie drehte sich erschrocken zu ihr um. Ein paar der Gäste taten es ihr gleich.

"Chloe!? Was machst du hier? Du gehörst hier nicht rein!"

Ein Mann stieß ihr sanft mit dem Ellenbogen gegen die Schulter.

"Elli, wer ist das? Deine Toch-"

Er verstummte wegen dem Blick, den Elli ihm zuwarf.

"Elli, du bist in Gefahr!", versuchte Chloe es erneut.

"Ich weiß", entgegnete Elli so leise, dass sie keiner hören konnte. "In ein paar Minuten kommt Lieutenant Armstrong von der Union Investigation Unit durch diese Tür und wird versuchen mich festzunehmen, weil ich eines ihrer Aufbewahrungslager verwüstet habe."

Chloe schüttelte verzweifelt den Kopf.

"Nein, Elli, irgendwer versucht in deinen Kopf einzudringen … Moment, woher weißt du, was passieren wird?"

Elli zuckte mit den Schultern.

"Mein Hirn ist anders gestrickt als das normaler Menschen. Zum Beispiel kann ich nicht vergessen und meine Gedankengänge sind derart verschlüsselt, dass niemand sie lesen kann. Allerdings träume ich auch nicht wie andere Leute. Mein Gehirn spult alte Erinnerungen ab und untersucht sie auf Dinge, die ich ursprünglich nicht oder nur am Rande bemerkt habe. Jemand versucht in meinen Geist einzudringen, sagst du?"

"Heißt das, das hier ist eine Erinnerung von dir?", fragte Chloe.

"Was anderes gibt's in meinen Träumen nicht, Chloe", sagte Elli lapidar und stand von ihrem Stuhl auf, um Chloe beiseite zu ziehen. "Darum weiß ich immer, wenn jemand wie du fehlplatziert ist. Und jetzt konzentrier dich, was ist los?"

"Du redest die ganze Zeit von irgendeinem Angriff auf deinen Geist und einem Fehlercode, darum hat Dean mich hier rein geschickt", gab Chloe an.

"Das mentale Gefahrenerkennungssystem?", wunderte sich Elli und zog die Augenbrauen zusammen. "Das hat sich ja noch nie aktiviert. Was für ein Fehlercode war es denn?"

Chloe zermarterte sich das Hirn.

"Äh, 38890?", sagte sie unsicher.

"Hm, Angriff durch Kollektivbewusstsein?", wunderte sich Elli. "Könnte hinkommen."

"Was meinst du eigentlich mit 'Mentales Gefahrenerkennungssystem'", wollte Chloe wissen. "Du bist doch kein Roboter."

"Das stimmt, aber das Nächstbeste, ich bin-"

Die Saloontür flog auf.

Herein kamen drei Männer und eine Frau, alle drei trugen graue Geschäftsanzüge und wirkten alt, sehr alt. Sie alle hatten weiße Haare und faltige Gesichter. Die Körper waren dürr aber bewegten sich ungewöhnlich geschmeidig für das Alter.

Sie zogen die Blicke aller Anwesenden auf sich, während sie selbst den Raum überblickten und schließlich auf Elli zusteuerten.

"Ah, endlich", sagte der Größte von ihnen, er war breiter gebaut als die anderen und hatte das Gesicht eines korrupten Politikers. "Sie wechseln so häufig die Träume, es ist schwierig, mit ihnen Schritt zu halten. Ich bin Dorian Gaunt, stolzer Bürger von Oneiroi West, das hier sind Tom Jester", ein Mann mit einem sorgsam gepflegten Bart nickte, "Elton Pinkerton", ein Mann mit dem Gesicht eins verrückten Opas hob die Hand. "Und Lesley Hills", die Frau nickte.

"Das Oneiroi Collective?", wunderte sich Elli. "Was wollt ihr denn hier? Ich kann kein Mitglied von euch werden, das wisst ihr."

"Was ist das?", fragte Chloe"

"Eine Schwarmintelligenz, bestehend aus jedem Wesen, das gerade schläft. Du bist auch Teil davon, wenn du nicht wach bist", sagte Elli. "Dazu kommen noch jede Menge Traumgestalten."

Bevor sie ihre Erklärung weiter ausführen konnte, ergriff Gaunt wieder das Wort.

"Also, um sofort zur Sache zu kommen bevor wir wieder wechseln, wir möchten unser Reich aus genau diesem Grund Ihrem Verstand öffnen", erklärte er. "An unserem Ende sind wir bereits fertig, aber Ihr Geist bleibt uns verschlossen. Wir vier sind die Einzigen von einigen Hundert, die es geschafft haben hier hinein zu kommen ohne einfach zu verblassen."

"Das würde euch umbringen", merkte Elli an. "Ihr in Oneiroi West mögt ein Kollektiv sein, aber wenn ihr versucht, mich zu einem Teil davon zu machen, werdet ihr euch alle nach und nach in mir auflösen, ob ihr das wollt, oder nicht. Mein Geist ist einfach zu groß für sowas."

"Ich weiß", erklärte der Mann. "Das ist es, was wir wollen. In Oneiroi West sind alle unsterblich, aber besonders die Älteren unter uns sind des Lebens überdrüssig. Aber wir können nicht sterben. Unser Kollektiv verhindert es."

Ellis Miene verfinsterte sich.

"Also wollt ihr Massenselbstmord begehen und all jene hineinziehen, die eigentlich noch leben wollen?", fasste Elli zusammen. "Wenn ihr so gerne umkommen wollt, warum sammelt ihr nicht einfach alle, die daran Interesse haben und stürzt euch in mich hinein?"

"Wissen Sie, wie schwer es ist, überhaupt einen Zugang zu Ihnen zu finden?", erkundigte sich der Greis. "Wir treffen uns hier zum ersten mal, obwohl wir seid Jahrtausenden versuchen, hier einzudringen. Das hier ist unsere einzige Chance und unter denen, die Sie zu erreichen versucht haben befanden sich nur die Mutigsten, die Verzweifeltsten. Aber da sind noch viele Unentschlossene. Und die, die es nicht besser wissen können. Jetzt wollen Sie noch leben, aber gib ihnen ein paar hundert Jahre, dann-"

"Da mache ich nicht mit", sagte Elli fest. "Es tut mir leid um die Opfer, die ihr erbringen musstet, um hier her zu kommen, aber ich weigere mich, euch bei sowas zu unterstützen. Auch wenn ihr denkt, ihr tut Oneroi West einen gefallen."

Der Mann seufzte traurig.

"Also gut. Aber erklären Sie mir wenigstens, wie man Ihren Geist als Außenstehender öffnet."

"Oh, das ist etwas kompliziert", entgegnete Elli. "Ich glaube, das muss ich euch aufmalen, damit ihr es versteht. Hat hier einer einen Stift?"

"Elli, was machst du da?", fragte Chloe verwirrt. "Hast du nicht gerade gesagt, du willst ihnen nicht helfen?"

Elli schlief das Gesicht ein.

"Oh Mist, du hast recht. Los, komm!"

Sie zog Chloe hinter sich her, in eine der hinteren Stuben des Saloons. Die Grauen nahmen sofort die Verfolgung auf, wobei die Gäste des Saloons angstvoll zur Seite wichen.

"Was ist los?", fragte Chloe, während sie sich zwischen einigen Stühlen hindurchschlängelten.

"Du redest hier mit meinem Unterbewusstsein", erklärte Elli, während sie ein Fenster öffnete. "Ohne mein Bewusstsein zum Blockieren oder Lügen werde ich auf alle Fragen, die man mir stellt, wahrheitsgemäß antworten, ob ich will oder nicht. Ist so ähnlich wie Gedankenlesen, nur kann ich mich im Schlaf nicht so gut dagegen wehren als wenn ich wach wäre, sonst hätten wir dieses Problem gar nicht. Danke für die Ablenkung, übrigens. Raus hier!"

Sie stiegen beide durch das Fenster und entgingen gerade so dem Griff von Pinkerton. Während die Vier noch aus dem Fenster kletterten, sprinteten Chloe und Elli auch schon fort.

"Wo gehen wir überhaupt hin?", fragte Chloe.

"Zum Bahnhof", schnaufte Elli. "Damals, als die Unit mich fangen wollte, habe ich dieselbe Route genommen, um einen Zug zu erwischen. Leider war der schon abgefahren, aber jetzt sind wir fünf Minuten früher dran."

"Können wir nicht deinen Nexus nehmen?", fragte Chloe.

"Nicht, solange es die Erinnerung nicht vorsieht. Wir stecken hier fest, bis ich in dieser Erinnerung den Nexus tatsächlich benutzt habe. Da ist auch schon der Zug!"

Tatsächlich kam zwischen den Häusern ein Bahnhof zum Vorschein. Eine glänzende schwarze Lock dampfte dahinter ruhig vor sich hin. Aber man konnte sehen, wie der Kohleschaufler bereits seiner Arbeit nachging. Der Lokführer betätigte die Pfeife …

"Oh Mist, sie heizen den Kessel auf", sagte Elli. "Schnell, Chloe, wir haben vielleicht noch Sekunden."

Mit schneller werdendem Stampfen setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Die beiden rannten an ihm entlang, um noch rechtzeitig aufspringen zu können und schafften es, auf einen Viehwagon zu hechten.

Doch hinter ihnen sprangen drei der alten Leute auf. Der Vierte, Pinkerton, packte Chloe am Fuß und zog sie wieder vom Zug, der sich schnell entfernte.

Sie sah noch, wie Elli aufsprang und vor den Männern durch den Zug floh.

Dann war er weg.

Sie trat dem Mann, der sie festhielt ins Gesicht, wodurch er vor Schmerz aufheulte und losließ.

Dann wollte er sich wieder auf Chloe stürzen, bemerkte aber offenbar noch rechtzeitig, dass sie etwas anstarrte, das sich hinter ihm abspielte.

Die Stadt, der Horizont und der Boden lösten sich nach und nach im abendlichen Himmel auf. Die Erde verschwand zu schnell, um davor wegzurennen und so fielen Chloe und Pinkerton schreiend in die Leere des Abendhimmels.

Sie sah, wie der alte Mann durchsichtig wurde und zu verblassen begann, während er schrie.

Dann schreckte Chloe aus dem Schlaf.

Sie setzte sich auf und sah sich um.

Sie lag neben Elli auf dem Bett, die immer noch die Warnmeldung vor sich hin murmelte. Dean saß am Rand und sah gehetzt auf Chloe.

"Und?", fragte er.

Chloe brauchte einen Moment, um sich zu sammeln.

"Irgendein Kollektiv, nannte sich Oneiroi Collective. Dean, sie versuchen, mithilfe von Elli ein ganzes Traumreich zu zerstören. Sie wollen, dass es in ihr verblasst."

"Klingt gut für Elli", überlegte Dean. "Das heißt, sie wird wieder aufwachen, sobald das Reich vergangen ist. Aber natürlich sind das schlechte Nachrichten für das Reich. Was genau ist passiert?"

Chloe sprudelte los. Dean hörte aufmerksam zu.

"Verstehe", sagte er dann. "Soweit ich weiß wacht man auf, wenn man in einem Traum fällt, für reine Gedankenentitäten muss das bedeuten, dass sie zumindest aus dem Traum geworfen werden, wenn nicht sogar Schlimmeres. Keine Ahnung, wo sich dieser Pinkerton jetzt aufhält, aber der wird dir wahrscheinlich nicht mehr gefährlich. Wahrscheinlich hat ihn Ellis Geist verschluckt."

"Aber warum hat sich der Traum aufgelöst?", fragte Chloe.

"Ich nehme an, dass Ellis Unterbewusstsein immer nur den Bereich wiedergibt, in dem sie sich befindet. Es macht keinen Sinn, einen ganzen Planeten oder gar ein Universum darzustellen, wenn es nur zu untersuchen gilt, was Elli tatsächlich gesehen hat. Vermutlich wurde der größte Teil der Umgebung den Elli nicht gesehen hat aus dem Nichts generiert. Wenn du es also schaffen solltest, Elli weit genug von den Anzugträgern wegzubringen …"

"… dann werden sie aus dem Traum geworfen", schloss Chloe. "Meinst du das reicht, um sie aufzuwecken?"

"Erinnere dich, Gaunt sagte, Hunderte hätten versucht, in Ellis Geist einzudringen. Die Tatsache, dass du dich nur Vieren und keiner wachsenden Armee gegenübergesehen hast beweist, dass niemand mehr aus Oneroi West in Ellis Traum eindringen kann oder will. Ich glaube, ich habe hier noch eine telepathische Abschirmvorrichtung rumstehen. Ich werde sie sicherheitshalber aufbauen, damit wirklich niemand mehr nachkommen kann. Vielleicht kann ich damit auch den kompletten Zugriff des Kollektivs unterbinden. Aber das muss geschehen, bevor Ellis Geist geöffnet wird. Darum musst du dort wieder rein, bis ich fertig bin. Glaubst du, du schaffst das?"

Anstatt zu antworten krabbelte Chloe zu dem Glas mit Link und trank es auf ex.
Sie schlief sofort ein.

Das nächste Mal bei Nexus:
Träumen mit Elli, Teil 2

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