Die Strafe eines Gottes, Teil 1

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Es gibt Leute, denen fliegt das Glück einfach zu. Die werden mit überragendem Talent geboren, erhalten eine gute Schulbildung, finden gleichgesinnte Freunde, eine erfolgreiche erste Liebe und einen gut bezahlten Job.

Chloe Winter gehörte nicht zu diesen Leuten. Das erkannte man im Moment daran, dass sie gerade versuchte, ihre Schuhe zu finden. Sie waren nach dem Sportunterricht weggekommen und nach einigem Suchen hatte Chloe festgestellt, dass wohl jemand versehentlich auch ihre Turnschuhe eingesteckt hatte. Vermutlich, weil sie sie wieder irgendwo hingestellt hatte, wo sie nicht hingehörten.

Sowas passierte leider ständig. Chloe war ein unglaublich schusseliges Mädchen. Mal schien sie geistesabwesend ihre Federmappe auf den Schrank mit dem Schulmaterial gelegt zu haben, dann konnte sie sich nicht mehr erinnern, wo genau sie ihre Jacke hingehängt hatte; und gelegentlich schien sie, ohne es zu merken, auf ihren Tisch gekritzelt zu haben. Letztens hatte sie sogar ihre Schultasche im Müll gefunden. Chloe ärgerte sich durchgehend maßlos über ihre Geistesabwesenheit.

Nein, keine Spur von ihren Schuhen.

"Ich glaube, du wirst sie hier nicht mehr finden."

Susanne Graf stand am Eingang zur Umkleidekabine und lächelte traurig.

Susanne und Chloe waren von der Erscheinung her völlige Gegensätze. Beide waren zwar 13, aber Chloe war um einen halben Kopf kleiner als die meisten ihrer Altersgenossinnen; Susanne dafür einen halben Kopf größer. Chloe besaß dunkelbraunes, offenes Haar; Susanne dafür erdbeerblondes, das in einem Pferdeschwanz gebunden war. Chloe trug gerne Röcke und Kniestrümpfe; Susanne war eher der Hosentyp.

"Scheint so", erwiderte Chloe resigniert.

"Willst du so nach Hause gehen?"

Gute Frage. Das war zwar die letzte Schulstunde gewesen, aber auf dem Weg nach Hause würde sie sich die Strümpfe ruinieren. Moment!

"Naja, ich will sowieso lernen, wie man Löcher stopft."

"Hehre Ziele hast du da. Ich geh schon mal vor. Du kommst klar?"

"Natürlich."


Chloe kam nicht klar. Es war Herbst, es regnete in Strömen, Chloe hatte keinen Schirm und alles war matschig. Patsch, patsch, patsch - so hörten sich ihre Schritte an. Die Strümpfe konnte sie wegschmeißen, wenn sie nach Hause kam …

Plötzlich fielen ihr ein paar hellgrüne Schnürschuhe in die Augen. Wohlweislich Schuhe, in denen keine Füße steckten. Sie standen in einem Schaufenster und teilten sich den Platz mit einer Menge anderem Zeug, was definitiv keine Schuhe waren. Das hier war wohl ein Allerleiladen.

Der Name, der auf einem großen Schild über dem Eingang prangte, bestätigte Chloes Vermutung. Wunderkiste stand da zu lesen. Komisch. Chloe ging diesen Weg jeden Tag, aber sie war sich sicher, dass dieses Geschäft gestern noch nicht da gewesen war. Auf jeden Fall, so sagte sie sich, war es eine willkommene Möglichkeit dem Regen zu entfliehen.

Ein kleines Glöckchen tat kund, dass Chloe die Ladentür geöffnet hatte. Sie trat ein, traute sich aber nicht, vom Fußabtreter im Eingangsbereich herunterzutreten. Schließlich wollte sie den Boden nicht dreckig machen.

Es dauerte eine Weile, in der sie den Abtreter allmählich volltropfte, dann erschien eine Frau in einem smaragdgrünen Kleid vor ihr. Die braunen Haare waren zu einem festen Knoten gebunden, was ihr das Aussehen einer strengen Lehrerin verlieh. Ihr warmes Lächeln stand dazu im krassen Gegensatz.

"Ach du liebe Zeit, du bist ja pitschnass!", entfuhr es ihr mit einer Stimme, die, trotz des augenscheinlich noch nicht sehr weit fortgeschrittenen Alters, auf eine Menge Katzen und frisch gebackene Kekse hindeutete. "Und wo sind deine Schuhe?"

"Nicht so wichtig", wehrte Chloe ab. "Ich warte hier nur bis der Regen nachlässt und dann bin ich wieder weg. Kein Aufwand nötig."

"Kein Aufwand nötig", brummte die Frau und verschwand kurz im hinteren Teil des Ladens, um mit einem Paar Schuhe zurückzukehren, die denen im Schaufenster haargenau glichen.

"Nein wirklich, ist schon in Ordnung! Das war meine Schuld, dass ich sie verloren habe."
Die Frau, Chloe hatte durch ein Kärtchen an ihrer Brust erkannt, dass sie Mirabilis hieß, verdrehte genervt die Augen.

"Mädchen, nimm diese Schuhe; du verletzt dir nur die Füße!"

Chloe war zögerlich.

"Aber ich habe nicht genug Geld für ein Paar Schuhe!"

"Das ist mir doch egal! Ein junges Mädchen hat gefälligst ordentliches Schuhwerk zu tragen! Dafür nehme ich auch 50 Euro Verlust in Kauf. Und jetzt warte hier, ich hole ein Handtuch und einen Föhn, damit du etwas trocknest."

Chloe tat mit einem extrem schlechten Gewissen wie geheißen. Das hatte sie nun wirklich nicht beabsichtigt. Mirabilis kam mit einem Akkuföhn und einem rosa Handtuch, geschmückt mit blauen Kaninchen, zurück und blies Chloe warme Luft ins Gesicht, während sie ihr das Tuch in die Hand drückte. Sie wurde unnatürlich schnell trocken.

"H-Hören sie, ich kann das nicht annehmen", nahm Chloe den Faden wieder auf.

"Willst du etwa so wieder raus?"

"Ich habe meine Schuhe selber verloren, dafür kann ich doch nicht-"

"Gut, pass auf. Such dir was aus, was du hier findest. Die Schuhe gibt's als Gratisprämie dazu."

"Aber-"

"Kein Aber! Ohne Schuhe trittst du nicht aus meinem Laden, verstanden?"

Chloe gab einen gequälten Laut von sich. Sie war sich sicher, dass sie das das ganze Wochenende über wurmen würde.

Allzu viel Geld hatte sie nicht dabei, deswegen schaute sie sich, nachdem sie die Schuhe angezogen hatte, nach etwas Billigem um. Der Laden hatte eine merkwürdige Auswahl: Es gab Schuhe, Puppen, Mützen, Bauklötze, Tische, Knüppel, Äxte, Schüsseln und noch allerlei mehr. Besonders eine große Schaufensterpuppe in einem komplett verhüllendem Gewand und Maske fiel ihr auf. Sie hatte das Gefühl, dass die Puppe sie anstarrte. Schließlich fand sie ein kleines Notizheftchen, auf dem in fröhlichen Buchstaben Wie ich meine Ferien verbracht habe geschrieben stand.

"Äh, das hier …"

"Eine gute Wahl, macht drei fünfzig."


Mirabilis schaute dem Mädchen mit einem besorgten Kopfschütteln nach, während es zögerlich den Laden mit ihrem neuen Heft und den Schuhen verließ. Wenigstens würde sie mit dem Heft ein wenig Spaß haben. Mirabilis war sehr stolz auf diese Kreation. Ein Heft, das einen für eine halbe Stunde an jeden Ort aus den eigenen Erinnerungen bringen konnte, wenn er darin niedergeschrieben wurde. Das war ideal, um die Seele baumeln zu lassen.

Da niemand weiter kam, machte sich die Verkäuferin nach einer halben Stunde wieder daran, weiter an neuen Produkten zu arbeiten. Auf dem Weg dorthin kam sie an einem Korb vorbei, dessen Inhalt sie augenblicklich stehen ließ. Besagter Inhalt war nämlich nicht-existent.

"MARKUS? HAST DU DEN AUSSCHUSS ENTSORGT?"

Die verhüllte Puppe im Verkaufsraum knarzte hölzern, während sie sich in Bewegung setzte und herantrat.

"Auschüss? Madmoiselle, Isch 'abe mit keinem Abfall 'antiert."

"Warum ist der Korb hier dann leer?"

"Oh. Isch dachte, das wären neue Prodükte. Isch 'abe sie alle einsortiert."

Mirabilis schliefen die Gesichtszüge ein.

"War da zufällig eines der Erinnerungsheftchen dabei?"

"Euh … Oui, Madmoiselle."

Mirabilis wusste, dass Malkuth nicht aus Fleisch und Blut bestand und daher nicht blass werden konnte. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er das trotzdem tat, während sie zur Laubsäge griff. Das Mädchen hatte das oberste Heft genommen; aller Wahrscheinlichkeit nach das defekte. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie die Kleine finden sollte. Alles, was sie machen konnte war, darauf zu hoffen, dass es sie nicht an einen allzu schlimmen oder überhaupt an irgendeinen Ort verschlug …


Chloe betrat ihre Wohnung. Stille begrüßte sie. Nun, relative Stille, sie wohnte an einer Hauptstraße und einem Bahnübergang in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Da ist es selten absolut still. Überraschen tat sie die relative Ruhe nicht. Ihre Mutter arbeitete immer sehr lange.

Chloes Zimmer bestach den Betrachter durch eine erstaunliche Vielzahl von Details. Sie mochte helle Farben und chaotische Muster, dementsprechend war ihre Bettwäsche in entsprechenden Farben gehalten, die einen erbitterten Kampf gegen das fade Rauhfasertapetenweiß der Wände und Decke zu führen schienen. Auf dem Parkettboden stand außerdem noch ein Regal mit zahlreichen Heften, zerlesenen Büchern, einigen Andenken an erinnerungswürdige Ereignisse und mehreren Kisten mit Zeug, das sich im Laufe der Jahre in Kinderzimmern ansammelt, von den Besitzern aber niemals bereitwillig weggeworfen wird. Dazu kam ein großer, schwerer Kleiderschrank, der aussah, als hätte er zwei Weltkriege überstanden - was er tatsächlich auch getan hatte - und ein Schreibtisch mit einem kleinen Spiegel und einem billigen Laptop, auf dem zahlreiche Sticker klebten. Der Tisch wurde von Chloe, die im Zuge des allmählich einsetzenden Erwachsenwerdens langsam Interesse daran hatte, auch wirklich gut auszusehen, auch als Schminktisch missbraucht, wie eine kleine Schminkschatulle verriet.

Chloe zeigte nun ein für Kinder ihres Alters eher untypisches Verhalten: Sie machte bereitwillig und auch noch mit voller Konzentration ihre aufgetragenen Hausaufgaben. Danach überlegte sie stirnrunzelnd, was sie mit dem Heftchen machen sollte, das ihr die Frau im Laden verkauft hatte.

Schließlich entschied sie sich dazu, daraus ein Zeichenheft zu machen. Sie schaute in ihren Spiegel und begann mit einem Selbstportrait.

Dem imaginären Beobachter wäre aufgefallen, dass Chloe zwar keine auffallend gute Künstlerin war, aber dennoch war ihr ein gewisses Talent nicht abzusprechen. Sie ging komplett in ihrer Kunst auf.

Jedenfalls so lange, bis sie von einem plötzlichen Vibrieren des Heftes aus der Konzentration gerissen wurde. Ihre Augen verengten sich, während sie versuchte herauszufinden, warum sich bloßes Papier aufführte wie ein stumm geschaltetes Smartphone. Und jetzt wurde es auch noch heiß …

Chloe kam gerade der Gedanke, das Heft aus der Hand zu legen, bevor sie unvermittelt von einem kräftigen Wind erfasst wurde, der sie mit dem Gesicht nach vorne geradewegs in das Heft stieß.

Und hindurch. Das Papier schien plötzlich nicht mehr zu existieren. Chloe sah nur schwarz, während sie unter heftigem und vor allem panischen Geschrei versuchte, sich an den immer heißer werdenden Kanten des Heftes gegen den stärker werdenden Sog zu stemmen, der sie unerbittlich immer weiter hineinbeförderte. Panik erfasst sie endgültig, als sie plötzlich den Halt verlor. Ein letzter Schrei hallte durch ihr Zimmer, bevor er von den sich schließenden Seiten erstickt wurde. Die Seiten des zu Boden gefallenen Hefts begannen zu schwelen, als die Hitze immer weiter zunahm. Es kam nicht zu einem richtigen Feuer, aber das Heft verwandelte sich nach kurzer Zeit trotzdem vollständig zu Asche.


An einem anderen Ort fing plötzlich ein großer, quaderförmiger Apparat an zu rattern. Dann blinkten mehrere grüne Lichter an ihm auf und ein lautes Piepen ertönte, ähnlich einem Weckerläuten. Es dauerte kurz, bis eine Person den Raum betrat, den technologischen Radau mit Sachkunde betrachtete und dann zu grinsen begann. Das würde spaßig werden.

Das nächste Mal bei Nexus:
Die Strafe eines Gottes, Teil 2

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