Das letzte Mal bei Neun:
Neuns Leere
Irgendwo bei Zürich, Schweiz
Die Global Occult Coalition unterhielt als weltweiter Zusammenschluss zahlreicher im anomalen angesiedelten Gruppierungen Horchposten in aller Herren Lande, um schnell auf Vorfälle reagieren zu können. Davon betroffen war auch die Schweiz, auch wenn ihre Regierung nicht allzu begeistert davon war. Das kleine Häuschen war als Funk-Relaisstation getarnt und funktionierte sogar als solche, beherbergte aber ebenfalls ein ganzes Arsenal an Sensoren und Aufklärungstechnologie.
Turner, einer der drei Wachposten hier, schaute gelangweilt auf eine Karte der Schweiz, die ihm ein Bildschirm präsentierte, bevor ein roter Punkt darauf aufzuleuchten begann. Mit mäßigem Interesse äugte er sich vor. Wahrscheinlich irgendwelche Vollidioten, die sich nicht an die Verordnung für anomale Flugutensilien hielten. Es dauerte kurz, bevor er registrierte, dass sich der rote Punkt schneller bewegte als es für einen Menschen gesund sein konnte und keine anderen Messgeräte ausschlugen.
Diese langsame Reaktion kostete wertvolle Sekunden, in denen der Punkt die halbe Schweiz durchquerte und scheinbar sein Ziel erreichte.
Standort-DE20, Schweiz
Nachdem Neun ohne jede Vorwarnung ihren Ausbruch vollendet hatte, war in Standort-DE12 die Hölle los gewesen. Man hatte Richard panisch darum gebeten, zu Neun zu sprechen, aber noch während er aus dem Gebäude sprintete, war Neun abgehauen. Sie war weit entfernt gewesen, aber Richard meinte gesehen, nein, gespürt zu haben, dass sie irgendwas furchtbar quälte. Richard hatte Probleme damit, dahinter zu kommen, warum er plötzlich glaubte, den Wachcyborg verstehen zu können …
Neun war im Vergleich sehr klein und sehr schnell unterwegs, daher bestand keine Gefahr für den Schleier, solange sie nicht entschied, in einem dicht besiedelten Gebiet runterzukommen. Dennoch galt es, sie schnellstmöglich einzuholen, unter normaler wie anomaler Mittel. Man hatte Richard daher per Magnetbahn nach Standort-DE19 befördert, wo er dann über das Raumportal in die Taschendimension zum Standort-DE9 rüber nach Standort-DE20 gewechselt war, der ebenfalls eine Verbindung zu der Dimension besaß. Er saß bereits zusammen mit einem Kontingent des Aufgebots, das zusammen mit einigen Einheiten der Verteidiger ausgerückt war, in einem Transporter, bevor ihn der vermummte Zugfüher endlich ansprach.
"Tschuldigung, dass es so schnell gehen musste, aber je eher wir dieses Federvieh wieder einfangen, umso besser. Ich habe gehört, sie kann Räume verlassen, ohne die Tür zu benutzen."
"Kein Problem, wenn ich schneller gewesen wäre, hätten Sie das Problem gar nicht", erwiderte Richard trocken. "Da wir uns mit dem Auto bewegen, nehme ich an, Neun ist inzwischen irgendwo gelandet."
"Hat Ihnen niemand was gesagt?" wunderte sich der Zugführer. "Dann halten Sie sich besser fest bei dem, was ich ihnen gleich erzähle."
Steinbruch Thunersee, Schweiz
Die Space Speeder, das Interrealitätenschiff mit dem wahrscheinlich käsigsten Namen aller Zeiten, glitt mit voller Geschwindigkeit durch den Null-Raum, der sich zwischen den Universen befand. Nero und Ferra saßen an Bord des dreizackartigen Gefährts in protzigem Mattgold, er steuerte, während sie sämtliche Waffen nachlud, die sie in ihrem Subraum hatte. Es waren zu viele, als dass sie rechtzeitig fertig werden würde.
Vor ihnen öffneten sich die Grenzen eines Kosmos und sie kamen auf einer erstaunlich grünen Welt heraus. Unter ihnen war das Schiff von Ziziwirr zu erkennen. Er war in einer Art Grube gelandet und werkelte an seinem Zeitmanipulator herum. Was auch immer er damit vor hatte.
"Hallo Fischgesicht!", freute sich Nero und öffnete das Cockpit. Ferra wollte gerade mit einer frischen Zigarre im Mund herausspringen, als ein gewaltiger Wind das Schiff erfasste und es ins Trudeln brachte.
Es handelte sich um die Druckwelle, die ein geflügelter Mensch erzeugte, der sich mit extremer Geschwindigkeit auf den Fischmenschen stürzte. Der aktivierte gerade noch rechtzeitig den Manipulator, um die Luft zwischen sich und dem Angreifer in der Zeit erstarren zu lassen und so eine undurchdringliche Barriere zu erschaffen.
Nun, normalerweise undurchdringlich …
Die Blondine flog einfach hindurch und trieb dem Geschuppten das Schwert bis zum Heft in die Brust.
Die Space Speeder derweil fing sich wieder und die beiden Kopfgeldjäger schauten verwirrt dabei zu, wie dieser Engel Ziziwirr mit dem Fuß von seinem Schwert entfernte und beinahe manisch auf ihn einzustechen begann, während der arme Kerl am Boden lag.
Nero warf Ferra einen Blick zu.
"So sehr wie ich es der Fischfresse gönne, ich glaube wir sollten uns beeilen, bevor das Daunenkissen mit unserem Kopfgeld abhaut", meinte er.
"Ich stimme zu", gab sie zurück und sprang.
Nero stellte die Space Speeder auf Autopilot, sodass sie im Tarnmodus über der Grube schwebte und sprang ebenfalls hinaus. Ferra hatte bereits im Fall die Plasmawaffe gezogen, mit der sie die Wand des Parkhauses zerstört hatte und zielte auf den Engel.
"Hey, Blondie!", brüllte sie, nachdem sie aufgekommen war. "Lass das Fischstäbchen los! Wir brauchen das noch!"
Der Engel wandte sich ihr zu. Und die Kopfgeldjäger blickten in die vor Qualen verzerrte Fratze einer Wahnsinnigen. Er nahm Ferras Waffe ins Visier …
"W-Weitere … Be-Be-Be-Bedrohung identifiziert", gab die Blondine abgehackt an.
Weder Ferra noch Nero konnten schnell genug reagieren, um zu verhindern, dass die Geflügelte plötzlich Ferra mit der rechten an der Gurgel packte und vom Boden hob. Es war, als hätte sie sich von ihrem vorherigen Opfer direkt zu der Kopfgeldjägerin teleportiert, aber der Wind, der ihr folgte verriet, dass sie tatsächlich die gesamte Streckte innerhalb eines Augenblicks zurückgelegt hatte.
Ferra hielt sich nicht mit Gezappel auf, nichtmal ihre Zigarre hatte sie fallen lassen. Stattdessen hielt sie ihre metallschmelzende Waffe auf den Kopf des Engels und drückte ab.
Die Geschosse zerplatzten harmlos an der Stirn der Blondine und brannten Löcher in die umliegenden Steine, lediglich Rus blieb auf der Haut zurück. Sogar das Haar war unversehrt geblieben. Ferra bekam tellergroße Augen und hielt den Zeitpunkt für gekommen, um mit Zappeln anzufangen und mit den Händen den Würgegriff aufzubiegen, nachdem sie die Waffe, wohlweißlich aber nicht ihren Kotzbalken fallen gelassen hatte. Aber selbst mit ihrer Kraft, mit der sie normalerweise Steine zerquetschen konnte, schaffe sie es nicht, auch nur einen Finger zu lösen.
Nero, dem mittlerweile ebenfalls dämmerte, dass diese Frau richtig schlecht für die Gesundheit war, formte seine rechte Hand zu einer Klinge aus Knochen, der härter war als Stahl. Damit versuchte er, ihr den Arm abzuhacken.
Sie stoppte den Angriff mit der Linken. Es war, als hätte Nero gegen eine Mauer geschlagen, denn der Engel rührte sich trotz des Aufpralls kein Stück.
Er merkte plötzlich, wie ihn die Geflügelte warf. Ferra flog ihm hinterher, dann kollidierte er mit einem wiederhergestellten Ziziwirr, der die Verwirrung genutzt hatte, um sich durch Zurückspulen der Zeit zu heilen und seinen Zeitmanipulator auf den Rücken zu schnallen. Er krachte mit ihm zusammen und rammte ihn in einen Geröllhaufen, bevor er seine Partnerin in die Magengrube bekam. Ferra, die anders als er nicht auf alle organischen Notwendigkeiten wie etwa Schwindel oder Desorientierung angewiesen war, zog, noch während sich der Engel auf den Weg zu ihnen machte, eine sechseckige Waffe aus ihrem Subraum. Ferra feuerte nur Momente nachdem sie die Waffe gezogen hatte, doch ihr Ziel machte keine Anstalten, den vier leuchtenden Kugeln auszuweichen, die sie abfeuerte. Die Kugeln bildeten einen Tetraeder um die Geflügelte, dessen Kanten durch leuchtende Linien zwischen den Kugeln dargestellt wurde, bevor das Gebilde zusammen mit dem Ziel verschwand und durch einen Tetraeder aus geschmolzenem Stein ersetzt wurde.
Nero richtete sich stöhnend auf, packte dabei Ferra unter den Achseln und stellte sie aufrecht hin. Sie betrachtete nur mit leichter Missbilligung im Gesicht ihre geknickte Zigarre in der Hand. Wenn man die Emotion auf ihrem Gesicht ablesen konnte, konnte man die tatsächliche Intensität ihrer Gefühlslage berechnen, indem man den Faktor tausend anwandte.
"Junge, was war das?", entfuhr es Nero endlich. "Das letzte Mal, das wir solche Probleme hatten, war mit Karke Clent. Erinnerst du dich noch? Er hat einen Mond nach uns geworfen! Der Nachthimmel von Zurgon Prime ist seitdem nicht mehr derselbe … Wo hast du sie eigentlich hingeschickt?"
"Nach unten", lautete Ferras kurze und bissige Antwort.
"Unten, aber unter uns ist doch gar kein-", Nero schaute auf den gerade erschienen Haufen heißer Schlacke, die allmählich unter Dampfentwicklung abkühlte. "Oh … Schade, die sah eigentlich echt schnieke aus …"
"Nero, steck' dein Ding nicht in Irrsinn, das habe ich dir schon mal gesagt", mahnte seine Partnerin und wandte sich Ziziwirr zu, der versuchte, auf die Beine zu kommen.
Sie sah zu spät, dass der Zeitmanipulator unbeschädigt gewesen war … Anstatt allerdings wegzulaufen, wie er es bisher getan hatte, flogen plötzlich aus sehr vielen Richtungen spitze Gegenstände wie Steine, Schraubenzieher, Messer, Meißel und Bergbauwerkzeug auf die Beiden zu. Nero, der Treffer besser verkraften konnte, beugte sich schützend über Ferra, die dadurch unversehrt blieb.
"So, du willst also Krieg?" fragte er, während zahlreiche Metallgegenstände, die sich in seinen Rücken gebohrt hatten, langsam wieder herausgetrieben wurden. "Wir geben dir die verdammte Apokalypse …"
In der Nähe der St. Beatus-Höhlen, immer noch Schweiz
Winter umkreiste das kalksteinerne Gebilde langsam. Es war schwer, hier drin zu atmen, denn die Luft war sehr feucht, sodass sogar ihr Monokel beschlug. Beim Laufen bemerkte sie, dass neben dem Eingang noch zwei Männer postiert waren. Klar, Zwingli konnte die Höhle ja nicht allein bewachen.
"Wie kommt ihr darauf, dass das was für meine Abteilung ist?", fragte sie.
"Erst dachten wir, es wäre ein richtiger Engel, aber die Messungen und die Durchstrahlung der Figur durch unsere Weißkittel lieferten exakt dieselben Ergebnisse, die auch Sie mit Ihrem Schützling erhalten haben, daher haben wir einen von euch angefordert, um unseren Befund zu verifizieren."
Zwingli hielt ihr einen Dossier hin. Agent Reier derweil beobachtete sie aufmerksam. Entweder kondensierte die Feuchtigkeit an seiner Stirn oder er schwitzte …
"Hm", machte Winter, während sie den Dossier überflog. "Das scheint tatsächlich einer für uns zu sein. Wie habt ihr dieses Ding überhaupt gefunden?"
"Der Eingang zu der Höhle wahr vor langer Zeit verschüttet worden, allerdings wurden hier vor einer Weile geologische Studien durchgeführt, bei denen er entdeckt und freigelegt wurde. Wir haben die Neuigkeiten abgefangen, bevor sie publik werden konnten", erklärte Zwingli.
"Was werden Sie tun?", fragte Reier. "Werden Sie das Wesen einsperren, wie das andere?"
Winter kicherte humorlos.
"Unsere Neun lässt sich durch keine Eindämmung der Welt aufhalten, wenn sie es drauf anlegt. Wir haben nur Glück, dass ihr Macker einer von uns ist. Ich möchte mit diesem Kerlchen hier kein Risiko eingehen. Wir lassen es vorerst hier, bis wir ihn sicher transportieren kö-"
In der Ferne rumpelte etwas leise, aber hörbar.
"Was war das?", fragte Winter.
"Vielleicht eine Sprengung?", vermutete Zwingli. "Hier in der Nähe liegt ein Steinbruch. Aber für heute war gar nichts anberaumt …"
"Sollten wir vielleicht nachsehen?", fragte Agent Reiher.
"Reiher, Sie sind mein Bodyguard", erinnerte ihn Winter genervt. "Wenn irgendwo laute Geräusche ertönen, bewegen Sie mich gefälligst von ihnen weg, und nicht zu ihnen hin."
"Ich mein' ja nur, falls Gefahr besteht …"
Ein Funkgerät am Gürtel von einem der beiden Männer knackte. Die wache hielt das Gerät ans Ohr und gab dann weiter, was er gehört hatte.
"Der Krach gerade eben wurde von einer Anomalie ausgelöst, die im Steinbruch gelandet ist, wir sollen evakuieren."
"Kein Problem, ich bin hier sowieso erfrischend schnell fertig geworden", entgegnete Winter in einem seltenen Anfall von Freude. "Hach, da komme ich ja heute noch pünktlich nach Hause."
"Scherz beiseite, wir müssen los", warf Zwingli ernst ein. "Wir treffen uns bei Standort-DE20, aber wir müssen um den See herumfahren, auf dem Weg, den Sie hergekommen sind, findet gerade der Vorfall statt."
Alles setzte sich in Bewegung. Das Aufgebot verschwand irgendwann im Besucherstrom der St. Beatus-Höhlen, welcher aufgrund akuter Explosionsgefahr in nahen Steinbruch zum Evakuieren bewegt wurde. Winter wollte auf der Fahrerseite einsteigen, wurde aber von Reiher an der Schulter gepackt.
"Ich fahre", sagt er fest.
Ohne Winters Erwiderung abzuwarten, schwang er sich ins Auto. Winter stieg widerwillig neben ihm ein.
"Anschnallen", verlangte der Leibwächter.
Winter gehorchte seufzend. Der Wagen setzte sich in Bewegung.
In die falsche Richtung.
Genau wie es die Nachwuchsforscherin geahnt hatte…
"Agent, uns wurde aufgetragen, nicht den direkten Weg zurück zu nehmen", erinnerte sie den Fahrer versuchsweise, aber der hörte nicht.
Nach ein paar hundert Metern wurde es ihr zu doof. Sie hatte keine Lust, herauszufinden, wo der Mann mit ihr hinwollte. Sie schnappte sich ihre Tasche, schnallte sich los, öffnete entgegen der Proteste von Reier die Beifahrertür und warf sich hinaus. Im Flug rollte sie sich zu einem Ball zusammen in der Hoffnung, so weniger Blessuren erdulden zu müssen. Ihre Hoffnungen wurden enttäuscht …
Der Wagen hielt einige Dutzend Meter hinter ihr, während sich Winter stöhnend aufrappelte. Der Wagen war zum Glück nicht allzu schnell gewesen und so hatte sie außer einigen blauen Flecken keine Verletzungen davongetragen. Der Schmerz ließ sich ignorieren, sie hatte schon weit schlimmeres erlebt … Auch wenn sie ihr Monokel durch ihre während des Sturzes zusammengekniffenen Augen merklich in ihre Augenhöhle gegraben hatte. Jedenfalls musste sie von der Straße runter, damit Reier ihr nicht mit dem Auto folgen konnte. Rechts von ihr war der See, links von ihr eine Art kleine Schlucht mit Hängen aus Geröll. Die Auswahl erschien begrenzt. Und das Auto wendete bereits … Winter entschied, sich in Bewegung zu setzen. Als sie hinter sich das zuschlagen der Autotür hörte, drehte sie kurz den Kopf.
"Nope! Nope! Nope! Nope!", sagte sie sich, als sie Reier hinter sich den Hang hinauf kraxeln sah und beschleunigte ihre Schritte.
Sie erreichte ein flaches Stück Land, als weit neben ihr eine Pistolenkugel einschlug.
"Das war ein Warnschuss, der nächste trifft", rief Reier hinter ihr.
Als sie merkte, dass sie dem Mann nicht entkommen konnte, entschloss sich Winter zu einem für eine Frau in ihrer Situation sehr untypischen Schritt. Sie begann zu tanzen. Eine merkwürdige Mischung aus Ballet und Tai-Chi, die auch Reier verblüffte, als er sich ihr näherte.
"Winter, was soll das werden, wenn es fertig ist?"
"Das, Agent Reier, wenn das wirklich Ihr Name ist, war ein Fluchtversuch. Wer ist wirklich Ihr Auftraggeber?", entgegnete Winter, ohne mit dem Tanzen aufzuhören.
Reier runzelte verwirrt die Stirn.
"Winter, was soll der Quatsch, ich bin auf Ihrer Seite."
"Sie sind offenbar noch nicht sonderlich lange im Doppelagentengeschäft. Sie gehen viel zu dilettantisch vor. Ich wähne mich zum Beispiel nicht auf der Seite von jemandem, der mich mit einer Waffe bedroht. Ich weiß, dass Sie keiner von der Foundation sind, seit sie mich angesprochen haben. Geleitschutz wird, wenn notwendig, vor Ort gestellt. Außerdem haben Sie mich nicht korrigiert, als ich Ihren eigentlichen Vorgesetzten mit dem falschen Namen belegt habe. Er heißt nicht Major Schröder."
Agent Reier stieß einen leisen Pfiff aus, als er merkte, dass er das Ruder nicht mehr herumreißen konnte.
"Das erklärt, warum Sie mich nicht ans Steuer lassen wollten und sich allgemein gegen meine Führung gewehrt haben. Ich bin beeindruckt. Es stimmt. Ich arbeite nicht für die Foundation. Und ich habe monatelang auf die Gelegenheit gewartet, Sie allein und ohne Zeugen anzutreffen, aber Sie verlassen den Standort ja fast nie und auf Ihrem Nachhauseweg konnte ich Ihnen nicht auflauern. Wissen Sie, wie frustrierend dieser Job für mich war? Und das alles nur, weil die GOC Ihnen gerne ein Jobangebot machen würde, dass Sie nicht ablehnen können."
"Die Gocks?", vergewisserte sich Winter während einer Piourette. "Da wird aber noch eine dicke fette Beschwerde für die Verbindungstelle fällig. Ich habe kein Verlangen danach, den Job zu wechseln."
"Wenn Sie erlauben, würde ich das Gespräch gerne an einen anderen Ort verlagern. Ich bin sicher, wir werden uns einig."
"Zwingen Sie mich doch", grinst ihn Winter an, als es ihr Getanze zuließ.
"Okay …"
Reier griff nach dem Arm der Nachwuchsforscherin. Und wurde durch die wirkenden Kräfte zu Boden geworfen. Winters Tanz hatte sich durch ihn nichtmal verlangsamen lassen …
"Was zum Henker?!", entfuhr es dem Doppelagenten, während er sich wieder aufrappelte.
"Das, Agent, ist mein Safety Dance. Solange ich diesen Tanz tanze, bin ich unantastbar."
"Also sind wir in einem Patt, bis Ihnen die Puste ausgeht?", schloss Reier.
"Patt?", fragte Winter mit einem bösen Lächeln. "Schätzchen, dein erster Fehler war, mir ohne Zeugen der Foundation aufzulauern …"
Steinbruch Thunersee, Schweiz
Ziziwirr erwies sich als seiner Spezies entsprechend schlüpfrig. Ferra feuerte zwar so, dass jeder Treffer sitzen sollte, aber es war extrem schwer, etwas zu treffen, dessen Zeit schneller verlief als die eigene. Und noch dazu etwas auf dem Rücken trug, das für ihre Geschosse unantastbar war, da es die Luft um sich herum einfror. Nero derweil machte mittlerweile unliebsame Bekanntschaft mit der Physik, die hinter chronokinetischen Kampftechniken steckte. Geschwindigkeit etwa bedeutete in diesem Fall nicht unbedingt mehr Kraft, die dahintersteckte, allerdings hatte der Zeitdieb mehr Zeit, um etwa einen Faustschlag mit ordentlich Wucht zu versehen, während er selbst kaum Schaden nahm, selbst wenn er den Kopfgeldjäger mit einem Kinnhaken von den Füßen hob.
Am nervigsten war es, wenn er die Zeit anhielt. Dann kam immer irgendwas aus dem Nichts geflogen oder sie bekam dutzende unsichtbare Faustschläge und Tritte verpasst. Ferra vermutete, dass er sie nur deswegen nicht einfach erstach, weil er nur Materie manipulieren konnte, die er unmittelbar berührte. Alles andere war hart wie Stein.
Nero, von bisherigen Misserfolgen nicht im Geringsten entmutigt, attackierte mit Tentakeln im Versuch, Ziziwirr am Ausweichen zu hindern, damit Ferra ordentlich schießen konnte. Der Fischmensch steig einfach mit aus in der Zeit gefangener Luft bestehenden Stufen nach oben, bevor er seinen Würgegriff schließen konnte. Der Zeitdieb holte vor Neros Gesicht zu einem Tritt aus, als ihn plötzlich eine Art Kette aus Licht von Hinten am Hals ergriff und zu Boden zerrte. Die Kopfgeldjäger sahen sich verwirrt um und folgten der Kette, die sich in der Hand eines Mannes befand, der eine kahkifarbene Kampfmontur mit Helm und ein Kampfvisier trug, das sein Gesicht verbarg.
Und er war nicht allein. Nero und Ferra stellten fest, dass sie umzingelt waren. Ferra für ihren Teil stieß es sauer auf, dass man mit Waffen auf sie zielte, die chemisch funktionierten.
"Ergebt euch, ihr seid umstellt!", bellte einer der Neuankömmlinge durch ein Megafon.
Als einziger trug er kein Visier, allerdings eine Art Skibrille und einen Dreitagebart.
"Wem sollen wir uns denn ergeben?", fragte Nero verwirrt.
Ferra unterstrich die Frage mit einem Nicken. Wie das PARAGON sahen diese Jungs nicht aus …
"Sie werden von der Global Occult Coalition in Gewahrsam genommen und für illegale Kampfhandlungen vor Gericht gestellt", antwortete die Stimme.
"Global … Occult Coalition?", wiederholte Nero verwirrt. "Hast du schon mal von denen gehört, Ferra?"
Ferra zuckte mit den Schultern.
"Muss irgendwas extrem Antikes sein. Global Occult Coalition … Hey, warte mal, GOC? Gock?"
"Der Gründer muss große Stücke auf sein bestes Stück gehalten haben", bemerkte Nero.
Die beiden brachen in einem Anfall von pubertärem Humor in Gelächter aus.
"Oh Mann, die heißen wirklich Gock!", lachte Nero.
Irgendwas Unsichtbares ergriff Ferra an den Handgelenken und drehte sie mit extremer Kraft auf ihren Rücken. Ihre Waffe behielt sie nur aufgrund ihrer Cyborg-Stärke in der Hand, dem was sie da hielt konnte sie sich aber nur unzureichend zur Wehr setzen. Nero erging es ähnlich, aber er konnte seinen Körper modifizieren und leistete mit zusätzlichen Armen Widerstand. Ferra schaltete auf Wärmesicht und erkannte, dass sie tatsächlich von jemandem gehalten wurde, der eine Art Unsichtbarkeitsanzug trug. Ein Umschalten auf EVE-Sicht offenbarte, dass es eine Servokampfrüstung war.
Der Mann mit dem Megafon trat vor sie.
"Das kommt davon, wenn man uns unterschätzt, Freunde", merkte er trocken an. "Großer, stell' bitte endlich dieses Rumgezappel ein, du tust dir noch weh."
"Bitch, ich tu' dir gleich weh!", spie Nero und fuhr eine lange Zunge mit einem spitzen Knochen am Ende aus dem Mund aus.
Bevor er allerdings zuschlagen konnte, hielt er inne. Ferra bemerkte es ebenfalls. Der Boden vibrierte. Und die Vibrationen wurden mit jedem Moment stärker.
"Das ist nicht dein Ernst!", entfuhr es Ferra ungläubig.
Der Boden unter ihnen bäumte sich auf, bevor er aufbrach und den Engel freigab, den die Kopfgeldjägerin mindestens hundert Kilometer unter die Erdoberbläche teleportiert hatte. In den ausgestreckten Händen hielt sie eine Art Tunnelbohrmaschine, die sich in silbernen Staub aufzulösen begann. Sie starrte vor erkaltetem Magma, war aber anderweitig unversehrt.
Zahlreiche Waffen unterschiedlichen Kalibers richteten sich auf den Neuankömmling.
"Landen Sie mit erhobenen-", begann Megafon-Mann, wurde allerdings grob durch den Engel unterbrochen, der plötzlich vor ihm stand und ihn mit weit aufgerissenen Augen und hängenden Schultern anstarrte.
Erst nach einer Sekunde folgte der Wind, den er bei seiner Bewegung verursacht hatte und erst danach kamen die anderen Agenten auf die Idee, ihre Waffen wieder auf ihn zu richten. Die Erscheinung musste verstörend auf den Mann wirken, denn selbst mit krummen Rücken musste die Blondine immer noch nach unten guckten.
Die Geflügelte nahm ohne den Kopf zu bewegen die Kopfgeldjäger und dann Ziziwirr ins Visier. Dann fixierte sie wieder Megafon-Mann.
"Name. Zugehörigkeit. Und. Anführer?"
"Äh …", machte Megafon-Mann perplex. "Agent Harm … Global Occult Coalition … Ich?"
Offenbar hatte er nicht erwartet, dass der Engel reden konnte.
Der Engel ließ seine Augen kurz über das versammelte Personal schweifen, das immer noch auf ihn zielte.
"Seid ihr mein Feind?"
"Äh … nein?", stammelte Harm.
"Ihr zielt mit Waffen auf mich", merkte die Geflügelte an.
Es dauerte kurz, bis der Kommandant verstand.
"Oh, okay. MÄNNER! DIE WAFFEN RUNTER, DAS IST EIN BEFEHL!"
Die Geflügelte beobachtete, erneut ohne den Kopf zu bewegen, wie die Männer ihre Waffen runternahmen. Ferra war sich sicher, dass sie seitdem sie angekommen war, nicht einmal geblinzelt hatte. Ebenfalls bemerkte sie, wie sich neben ihr große Fußabdrücke im Staub bildeten, die sich als Spur auf den Engel zubewegten …
"Gut, äh … Nachdem das geklärt ist, könnten Sie sich bitte in Gewahrsam begeben? Wir haben einige Fragen an Sie-"
Ohne hinzusehen steckte die Blondine den rechten Arm von sich und krallte die Hand in etwas unsichtbares, das sich offenbar neben ihr befand. Was auch immer es war schrie vor Schmerzen auf, bis sie endlich etwas abriss, das wie ein Hightech-Kampfvisier aussah. In der Luft neben ihr wurde ein Gesicht sichtbar, in das sich Metallsplitter, abgerissene Drähte und Glasscherben gebohrt hatten. Und offenbar war der Kiefer gebrochen. Ferra konnte nur vermuten, aber der Mann ging wimmernd in die Knie. Die Waffen kamen wieder nach oben, was nicht unbemerkt blieb.
"Ihr sagt, ihr seid meine Verbündeten", begann der Engel mit ätzendem Zorn. "Richtet aber Gewehre und Kanonen auf mich, wenn ich mich nicht füge und versucht sogar, mich hinterrücks anzugreifen. Bedrohung entdeckt! Bedrohung entdeckt! Fahre fort mit Eliminierung. Eliminieren. Eliminieren. ELIMINIEREN!
Es war nur der Geistesgegenwart eines anwesenden Thaumaturgen zu verdanken, dass Harm durch den Faustschlag, denn die Wahnsinnige führte, nicht in tausend Stücke zersprengt wurde. Eine Art leuchtender Kokon bildete sich während ihres Monologs um ihn, der dem Aufprall genug Wucht nahm, um den Mann überleben zu lassen. Allerdings nicht genug, um nicht vom Boden gehoben zu werden und etwa fünfzehn Meter entfernt in eine Wand zu krachen.
Ganze Magazine wurde auf die Aggressorin abgegeben, aber prallten harmlos an ihrer Haut und Rüstung ab. Ferra hätte schwören können, dass ein Geschoss sogar ohne Nachwirkungen ihr Auge getroffen hatte. Sie machte einige Schritten nach vorn, bevor sie wieder stehen blieb. Ihr Blick glitt an ihrem linken Arm entlang und blieb irgendwo in der leeren Luft hängen. Ferra schaltete wieder auf EVE-Sicht und sah, dass fünf Träger dieser Tarnrüstungen die Geflügelte tackelten und sie an Armen und Flügeln niederzuhalten versuchten.
Genauso gut hätten sie einen Berg rammen können, sie bewegte sich kein Stück.
Sie breitete trotz der beiden Kämpfer, die daran hingen ihre Flügel aus und begann, nach oben zu schweben, wobei die den Ballast an ihr einfach mitnahm. Dann begann sie sich schneller und schneller zu drehen …
Fünf menschengroße Projektile rasten in verschiedene Richtungen davon, eines mit merklich längerem Weg, da die Blondine den Angreifer festgehalten hatte, bis sie eine extreme Drehzahl erreicht hatte. Nero nutzte die Ablenkung, um seinen Gegner mit noch mehr Armen zu überwältigen und ihn anschließend als Waffe gegen seinen Kollegen zu führen, der immer noch Ferra festhielt. Es dauerte kurz, aber dann war auch sie wieder frei.
"Du hast mich voll auf dem Scheitel getroffen mit dem Kerl!", meckerte sie sofort los.
Für Schmerzbekundungen wie etwa "Aua!" hatte sie keine Verwendung.
"Ja Tschuldigung, ich seh' nicht, wo die Kerle aufhören", redete sich Nero heraus. "Es sind doch Kerle, oder?"
"Scherz beiseite, lass uns den Fisch holen und dann verschwinden wir", empfahl Ferra mit Blick auf den Engel, der gerade sein Schwert materialisierte.
Dann schaute sie sich nach Ziziwirr um. Der Thaumaturge hatte offenbar seinen Zauber brechen müssen, um seinen Kommandanten zu beschützen. Der Zeitdieb kletterte in diesem Moment etwa fünfzig Meter entfernt aus der Grube. Nur wollte die Blondine ihn noch nicht gehen lassen, denn sie schwebte plötzlich hinter ihm und benutzte ihn als Wurfgeschoss gegen die sich hastig zurückziehenden Gocks.
Ferra stöhnte gequält …
"Geld? Oder Leben? Leben? Oder Geld? WARUM MUSS ICH WÄHLEN!?"
Richard merkte anhand des Krawalls, dass sie sich dem Ort des Geschehens näherten. Man hatte ihm ein Sturmgewehr ausgehändigt, um sich verteidigen zu können, aber er bezweifelte, dass er sich damit gegen etwas verteidigen konnte, das Neun Schwierigkeiten bereitete. Der Laster hielt unvermittelt, es wurde der Befehl zum Aussteigen gegeben und die ganze Truppe rückte aus. Das Aufgebot bewegte sich nie mit voller Geschwindigkeit auf ihr Ziel zu, um noch genug Puste zu haben, wenn es wegrennen musste, aber es dauerte nur Minuten, bis sie den Rand der Schottergrube erreichten, in der ein Kampf tobte.
Ein sehr einseitiger Kampf, wie Richard schwer atmend feststellte. Er war nicht mehr in Form. Unter ihnen schienen einige Thaumaturgen, etwas, dass er als sarkisch identifizierte, ein Fisch im Taucheranzug und eine silberhaarige Frau mit einer wahrhaft riesigen Plasmawaffe alles zu tun, um Neun zu bändigen, die hin und her sauste und Leute durch die Gegend warf. Dazwischen standen offenbar Grubenarbeiter wie mitten im Tun eingefroren.
Als sie die Grube hinabrutschten, erkannte Richard, dass irgendwelche Soldaten vor ihnen hinter großen Gesteinsblöcken Deckung suchten. Einer von ihnen bemerkte das Aufgebot und die Verteidiger, die ihnen folgten und brüllte eine Warnung. Richards Truppe ging ebenfalls hastig in Deckung, als zahlreiche Sturmgewehre und größere Waffen auf sie gerichtet wurden. Das Aufgebot und die Servoanzugträger richteten aus dem Schutz besagter Deckung heraus ebenfalls ihre Waffen auf die Fremden. Noch fiel kein Schuss.
"Wer seid ihr!?", blaffte einer der Fremden zu ihnen hinüber.
Der Truppenführer überlegte kurz, bevor er mit den Schultern zuckte und offenbar jede Geheimhaltung fahren ließ.
"Wir sind die SCP Foundation, wir sind hier, um eine entflohene Anomalie dingfest zu machen und um diesen Kampf zu beenden. Wer seid ihr und was macht ihr hier?"
Es herrschte kurz relative Stille, in der auf der anderen Seite Geraune ertönte, dann sprach der mutmaßliche Zugführer wieder.
"Wir sind von der GOC, wir sind ebenfalls hier, um den Kampf zu beenden."
Wieder Stille.
"Waffenstillstand?", brüllte Richards Chef.
Kurzes Gemurmel entbrannte auf der anderen Seite.
"Waffenstillstand!", bestätigte der GOC-Agent dann. "Kommen Sie rüber, wir treffen uns in der Mitte.
"Ich komme mit", sagte einer der Servoanzugträger.
Keiner widersprach ihm, denn Verteidiger konnten sehr starrköpfig sein, wenn sie dachten, dass sie recht hatten.
Er setzte sich zusammen mit dem Zugführer in Bewegung, um den GOC-Agenten zu treffen. In der Mitte angekommen zog der Agent eine Augenbraue hoch.
"Warum haben Sie die Blechbüchse mitgebracht?"
"Sie haben doch auch eine", antwortete die Blechbüchse und deutete auf einen leeren Fleck neben dem GOC-Agenten. "Ich kann dich sehen, Kollege, ich hab' Infrarot."
"Hätte ja klappen können", ertönte es aus der Leere.
"Faires Argument", antwortete der Truppenführer der GOC-Kräfte. "Also, wer von diesen Verrückten ist ihnen denn ausgebüxt?"
"Die Blonde."
"Oh. Macht Sinn."
Weiter unten in der Ferne explodierte irgendwas.
"Könnt ihr sie wieder einfangen?"
"Möglich, wir haben was dabei, auf das sie hoffentlich anspringt, aber es wird schwierig, sie mit unseren Truppen allein zu erreichen."
Die beiden Truppenführer sahen sich an. Wieder explodierte irgendwas.
"Bündnis?", fragte der Mann von der GOC.
"Bündnis", bestätigte Richards Truppenführer.
Das nächste Mal bei Neun:
Zeitbombe