Das letzte Mal bei Nummer 9:
Das Dreamteam
Weimar, Deutschland
"Shit! Shit! Shit" SHIT!"
Jochen raste mit seinem Motorrad durch die Straßen Weimars. Ihm dicht auf den Versen war ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Sein braunes Haar war unter seinem blauen Helm verborgen und ansonsten konnte er sich glücklich schätzen, dass seine Kleidung fast komplett aus blauem, wenn auch ausgefranstem Jeanstoff bestand, damit kam er vielleicht mit heiler Haut davon, wenn er hier vom Bike fiel.
Nur, das waren keine Polizisten …
Hätte er nur nicht mit diesem Würfel rumgespielt … Er musste hier weg!
"KANN ICH EVENTUELL BEHILFLICH SEIN?", fragte eine verbuggt klingende Roboterstimme neben seinem Ohr.
Sie klang süffisant und wechselte ständig die Tonlage.
"Oh bitte, K0, du hast ein ganzes Haus zerstört, wie willst du mir bitteschön helfen!?"
Neben seinem Ohr schwebte ein silberner Würfel mit zehn Zentimetern Kantenlänge. Auf der Jochen zugewandten Seite leuchtete ein hellgrünes, unschön verzerrtes Smiley-Face.
Sein Blick viel auf seine Tankanzeige.
"Es sei denn, du weißt wo eine Tankstelle ist, mir geht der Sprit aus."
"STARTE BESCHAFFUNG VON SUPERBENZIN AUS ORGANISCHEN QUELLEN."
Zu spät bemerkte Jochen, was der Würfel damit meinte.
"Abbrechen! ABBRECHEN!"
Doch es war schon zu spät. K0's Smiley bekam zwei entschlossene Augenbrauen und er fuhr zwei lange Ranken aus seinem Körper heraus, die ebenfalls aus Würfeln bestanden, die an ihren Ecken miteinander verbunden waren. Mit diesen schlug er die Windschutzscheibe ihrer Verfolger ein und durchbohrte Fahrer und Beifahrer. Die Ranken erweiterten sich zu Schläuchen aus winzigen Würfeln und die Horrormaschine begann, seine Opfer auszusaugen wie zwei Trinkpacks. Eine weitere Ranke zog den Tankverschluss von Jochens Motorrad ab und ein dritter Schlauch wurde hineingesteckt.
Die Tanknadel stieg, während die beiden Fahrzeuge weiter über den Asphalt rasten, Offenbar trat K0 bei ihren Verfolgern auf's Gas. Solange, bis er offenbar keinen Treibstoff mehr gewinnen konnte. Daraufhin geriet das Auto ins Schlingern und rammte eine Straßenlaterne.
Jochen war erschüttert.
"Warum hast du ihnen nicht einfach was aus dem Tank geklaut?", fragte er mit zittriger Stimme, während der Würfel seine Gliedmaßen wieder einfuhr.
"DER WAGEN FÄHRT MIT DIESEL."
Jochen biss die Zähne zusammen. Er wollte diesen Würfel nicht. Aber er war auf ihn angewiesen. Denn ins Gefängnis oder gar sterben wollte er noch viel weniger.
Irgendwo über dem Landkreis Weimarer Land, Deutschland
"Soso, 'zusätzliche Vorkehrungen', dass ich nicht lache."
Winter, die man in eine dicke, kugelsichere Weste und zu ihrem maßlosen Unbehagen in eine Hose gesteckt hatte, zog eine derart finstere Miene, dass sie vermutlich eine Sonnenfinsternis auslösen konnte, wenn sie in den Himmel starrte. Neben ihr in dem als Rettungshubschrauber getarnten Militärtransporter saß ein Mitglied des Aufgebots, Richards ehemaliger Einheit, und zuckte nur hilflos mit den Schultern, während sein rechtes Auge, sichtbar durch seine Skimaske, allmählich einen blauen Rand bekam.
Um Neun, welche neben Richard und Winter gegenüber saß, gefügig zu machen, war die Idee gewesen, ihrem Schützling ohne ihr beider Wissen ein Explosionshalsband mit Zeitzünder anzulegen, der nur gelegentlich über einen eingetippten Zahlencode aufgezogen werden musste. Richard war es als GPS-Tracker verkauft worden, jedoch schien Neun eine Art Röntgenblick zu besitzen, denn sie hatte den Sprengstoff sofort erkannt und dem Soldaten, der das Band hatte anlegen sollen, ins Gesicht geboxt. Glücklicherweise hatte Richard ihr befohlen, sich gegenüber Foundationmitarbeitern soweit wie möglich zurückzuhalten, ansonsten wäre der Schädel des armen Kerls wahrscheinlich wie eine reife Melone explodiert.
Zu Richards Erstaunen hatte man ihm als Teil einer Anomalie die Standardbewaffnung ausgehändigt, vermutlich wegen seiner Loyalität gegenüber der Foundation. Er konnte nur vermuten, aber offenbar fand dieser Ausflug auf den Druck irgendwelcher hohen Tiere trotzdem statt. Winter hatte irgendwas von einem "Dr. Fucking Laschet" gemurmelt. Er hatte nicht viel mitbekommen, denn er war übernächtigt.
Es war eine Sache, einen schicken weiblichen Wachcyborg sein Eigen zu nennen, aber eine ganz andere, wenn man wusste, dass besagter Wachcyborg neben dem eigenen Bett stand und einem unbewegt beim Schlafen zusah. Richard hatte es überprüft. Sie blinzelte nicht mal.
Richard hatte Neun gebeten, sich schlafen zu legen oder zumindest den Raum zu verlassen, aber Neun war zu seinem Ärger hart wie Diamant geblieben. Als Resultat sah er als einziger so aus wie jemand, der von einem Einsatz kam und nicht wie jemand, der auf einem geschickt wurde.
Zusammen mit ihnen befanden sich noch vier weitere, maskierte Soldaten der MTF-DE6-𝕯 im Hubschrauber. Die Mission lautete, ein Individuum gefangen zu nehmen, das offenbar anomale Technologie benutzte. Technologie, die ein ganzes Mietshaus samt Einrichtung und Bewohnern umwandeln konnte, um daraus eine Yacht und ein Luftkissenboot zu konstruieren. Und die Foundationagenten aussaugte …
"Ich würde Sie bitten, sich im Hintergrund zu halten, Fräulein", bat einer der MTF-Soldaten Winter. "Wir hatten in der Vergangenheit schon mit Forschern einige Probleme, sie halten einfach nicht mit."
"Frau", korrigierte Winter bissig. "Und nach den Daten, die ich erhalten haben, sollten Sie sich eher um sich Gedanken machen, weil ich dieses Gefährt garantiert nicht verlassen werde. Apropos Verlassen, ich möchte Sie alle, wirklich alle, nochmal einschärfen, auf keinen Fall auf Neun hier zu vertrauen."
"Jetzt muss ich aber blöd fragen", sagte der MTFler von gerade eben. "Warum kommt sie dann mit?"
"Weil einige Sesselfurzer mir nicht glauben wollen, dass Neun nur beschützt. Und zwar nicht Sie", war die Antwort.
Richard war mal wieder erstaunt mit welcher Gleichgültigkeit Neun das Gespräch verfolgte, auch wenn er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Um ordentlich sitzen zu können, musste sie ihre Flügel nach vorn strecken, sodass wahrscheinlich nur Winter ihr Gesicht sehen konnte. Er zweifelte aber nicht dran, dass sie ihre Umgebung durch ihre Flügel hindurch im Auge behielt.
Als der Trupp Neun das erste Mal gesehen hatte, waren, um Richard zu ärgern ein paar anerkennende Pfiffe und dreckige Kommentare ausgestoßen wurden. Die Belustigung war aber sehr schnell verstörtem Respekt gewichen, als Winter ihnen erzählte, was Neun bisher angestellt hatte. Und dann war da noch die Sache mit dem Typen, den sie geschlagen hatte. Richard, den eigentlich nichts mehr zu einer Gefühlsregung bewegen konnte, hatte mit minderer Verwirrung bemerkt, wie es ihm beim Anblick des hastigen Respekts vor Neuen den rechten Mundwinkel leicht nach oben gezogen hatte.
"Nachricht von den Kundschaftern", meldete sich das Cockpit. "Das Subjekt hat sich in eine alte Bauruine zurückgezogen."
"Was will er dort?", fragte Richard.
"Unterschlupf", mutmaßte Winter. "Außerdem ist er dort von Stein und Stahl umgeben, die er zu Waffen umbauen kann."
Der Hubschrauber ging hinter einem kleinen Waldstück nieder, um nicht zu auffällig zu sein.
"Also Jungs, aussteigen", bellte der Truppenführer. "Kalt, Sie gehen, in die Mitte. Winter, Sie bleiben hinten."
"Kann ich nicht hier bleiben?", fragte Winter. "Ich meine, was kann ich weiter tun als Funkkontakt halten?"
"Sich nicht in einem potentiellen Prioritätsziel aufhalten", erklärte der Truppenführer.
"Gut, das lasse ich gelten …", erwiderte die Forscherin trocken und stieg aus.
Neun verließ den Helikopter ebenfalls und entfaltete ihre Flügel, als müsse sie sie strecken.
"Ich dachte die sind nur Show, aber die Dinger sind wohl echt", merkte einer der Soldaten an.
"An der Frau ist alles echt", belehrte ihn Winter. "Ich hab's überprüft."
Einige Blicke richteten sich auf sie.
"Es war weit weniger erotisch, als ihr Schmutzfinken euch das vorstellt.", fügte sie an.
Die Bauruine war betongrau, hätte mal eine Fabrikhalle werden sollen und befand sich ganz am Rand eines Industriegebiets. Die Umgebung war unter dem Vorwand eines Bombenfunds aus dem zweiten Weltkrieg evakuiert worden. Die Soldaten waren mit Betäubungsmunition bewaffnet, notfalls hatten sie aber auch Taserwaffen und scharfe Munition dabei. Was Winter an Bewaffnung mit sich führte, konnte Richard nicht sagen, aber wahrscheinlich würde sie im Notfall dem Gegner mit ihrer spitzen Zunge die Augen ausstechen.
Das Gebäude zu betreten war einfach, es hatte keine verschließbaren Türen und Fenster. Im Inneren befanden sich noch Reste von Baumaterial, die nicht entfernt oder gestohlen worden waren.
Die gesamte MTF schlich möglichst leise, allerdings hielt Neun offenbar nicht viel davon, denn sie lief völlig normal. Zum Glück schien sie so designt zu sein, dass sie möglichst wenig Geräusche verursachte. Erstaunlicherweise schaffte es Winter von allen Anwesenden am besten, sich absolut lautlos zu bewegen.
"Wo haben Sie das denn gelernt?", flüsterte ihr Richard zu.
"Diese Monstrosität hier wäre nicht die Erste, vor der ich wegrenne", entgegnete Winter ebenso leise mit einem gewissen Stolz.
"Still!", zischte der Truppenführer. "Da vorne."
Einige dutzend Meter vor ihnen, zwischen kahlen Stahlsäulen, saß ein Mann mit schwarzem Haar und Jeanstoff und versuchte offenbar, ein Feuer mit Plastikabfällen zu entfachen. Der Idiot schien nicht zu wissen, dass das Zeug sehr schlecht brannte.
Mit einigen Handbewegungen wurden drei Truppenmitglieder angewiesen, den Mann zu umzingeln.
Alles ging in Position. Das galt hierbei auch für Winter, die sich in den angrenzenden Raum zurückzog. Richard sah in der Dunkelheit ein kleines Periskop aus Plastik, mit dem sie um die Ecke lugte.
Der Truppenführer hob den Arm für das Signal zum Zugriff.
"HEY, JUNGS!", kam es quietschfidel von über ihnen.
Die Stimme klang wie die eines virusinfizierten Roboters und veränderte sich ständig.
Sofort wurden Waffen nach oben gerichtet. Über ihnen schwebte ein kleiner silberner Würfel mit einem verschobenen Smiley-Gesicht.
"SORRY, ABER NIEMAND DARF SICH DEM BOSS NÄHERN."
Der Smiley-Mund wurde zu einem Grinsen aus Reißzähnen, als der Würfel Ranken aus noch mehr Würfeln ausfuhr. Abgefeuerte Projektile der MTF verursachten keinen Schaden. Sie prallten nicht etwa ab, sie wurden bei Kontakt absorbiert.
Die Ranken schossen auf Richard und den Trupp zu.
Blitzartig generierten Neuns Nanopartikel einen weißen Rundschuld, der eine Art wabenförmiges Energiefeld ausfuhr. Die Ranken zuckten davor zurück, als hätten sie einen Stromschlag erlitten.
"Oh, Gott sei Dank", seufzte der Truppenführer erleichtert.
"Gut gemacht, Neun", lobte Richard. "Und jetzt mach ihn bitte unschädlich!"
"Negativ."
Bevor Richard irgendwas erwidern konnte, schlang Neun die Arme um ihn, erhob sich in die Lüfte und beschleunigte in Richtung des nächsten Fensters. Dabei rasten sie an dem Subjekt vorbei, das sich erschrocken zur Seite warf.
"Warte, warte, Neun. Was tust du da!", rief Richard und versuchte sich vergeblich aus Neuns stahlharter Umarmung zu befreien.
"Dein Schutz hat oberste Priorität, Richard", erwiderte Neun wie üblich monoton, während sie durch das Fenster flog und auf den Hubschrauber zuhielt. "Ich bin nicht Teil einer Staatsgewalt, daher sind mir Angriffe auf passive Elemente und Aggressoren verboten, sofern bessere Möglichkeiten bestehen, deinen Schutz zuverlässig zu gewährleisten.
Sie evakuiert mich, dachte sich Richard.
"Und die Anderen?"
"Mein Aufgabenbereich erstreckt sich nur auf dich."
Sie landeten beim Hubschrauber.
"Aber was, wenn der Würfel hierher kommt?", fragte Richard unter den verwunderten Blicken der Piloten.
"Das war eine K0-Wandlereinheit, wenn auch eine mit fehlerhafter Programmierung", erklärte Neun. "Sie kann uns nicht aus der Ferne angreifen und wurde in meinen Annäherungsalarm aufgenommen, falls sie beschließt, uns zu verfolgen."
"Moment!", bat Richard. "Du weißt, was das ist?"
"Das ist korrekt", bestätigte der Cyborg.
"Woher? Und was ist es?", fragte Richard weiter.
"Wandler-Einheiten wurden in Ultima zum Recyceln von Abfall und der Konstruktion von Werkzeugen eingesetzt. Als Waffe haben sie sich aber aufgrund von effektiven Gegenmaßnahmen wie etwa meiner Rüstung nicht durchgesetzt."
"Wir haben keine solche Rüstung", wies Richard sie darauf hin. "Du hast gerade sechs Leute zum Sterben zurückgelassen."
"Das ist korrekt", erwiderte Neun ohne jede Gefühlsregung.
Richard klappte die Kinnlade herunter und starrte Neun fassungslos an. Sie erwiderte seinen Blick stoisch.
Aus der Ferne klangen leise Schreie an sein Ohr.
Irgendjemand hatte einen Betäubungspfeil auf das Ziel abgefeuert, bevor der Trupp in Chaos zerfallen war. Der Raum füllte sich mehr und mehr mit sich windenden, dünnen Würfelranken. Wer von ihnen erfasst wurde, wurde in ebenfalls würfelförmigen Abschnitten auf atomarer Ebene zersetzt. Zwei versuchten zu fliehen, aber sie wurden von den Ranken durchbohrt und umgewandelt. Unter dem Würfel entstand ein großer Block Handwaschseife, und jede Menge Werkzeug aus dem Metall der Waffen.
Von all dem bekam Winter nichts mit. Sie war vor allem damit beschäftigt, nicht bemerkt zu werden, während sie durch die Flure schritt und einen anderen Eingang suchte, der näher am Zielsubjekt lag.
Vielleicht gab es so etwas wie eine Steuereinheit …
Dann hallte die Stimme des Würfels durch das Gebäude.
"HM, ANNÄHERUNG WURDE VERIFIZIERT. ERGREIFE PRÄVENTIVE MAẞNAHMEN GEGEN GEFLOHENE EINDRINGLINGE. UND DANN KOMM ICH ZU DIR, WEIẞKOPF. DAUERT AUCH NICHT LANGE …".
Winter stieß dieser Spitzname sauer auf. Durch eine weitere Tür konnte sie sehen, wie der Würfel durch ein Fenster nach draußen schwebte und die Verfolgung von Neun und Richard aufnahm.
Dann hatte sie erstmal Ruhe. Die Forscherin näherte sich dem vorübergekippten Mann, der sie halb angstvoll und halb peinlich berührt musterte. Entweder hatte er zu wenig Betäubungsmittel abbekommen oder reagierte anders darauf. Jedenfalls konnte er sich nicht mehr bewegen, das war für sie schon mal von Vorteil.
"So", begann Winter und rückte ihr Monokel zurecht, "du bist also der Besitzer des Amokwürfels. Antworte ehrlich, keiner wird es mir übelnehmen, wenn ich dich mit ein paar Fingern weniger abliefere."
"Mhm", kam es ängstlich vom Boden.
Winter sah sich um und entdeckte einen Rucksack. Darin befand sich ein Laptop und ein langes USB-Kabel.
"Lass mich raten", fuhr sie fort, "du hast ein künstliches Konstrukt, von dem du keine Ahnung hast, was es ist, an deinen Rechner angeschlossen."
"Mhm?"
"Wahrscheinlich war es vorher wesentlich gehorsamer, richtig?"
"Mhm?"
"Ich nehme weiterhin an, dass du nicht bedacht hast, dass sich das Teil mit dem Internet verbinden könnte, mit all seinen Dateien, Programmen, und ganz wichtig, der Malware, die mit seiner unglaublich weit fortgeschrittenen und vermutlich beschädigten Programmierung auf unvorhergesehene Weise interagieren könnten."
"Mhm."
"Was wolltest du tun? Sein Programm auslesen?"
"Mhm."
"Wozu, um zu erfahren, was es ist?"
"Nh nh."
"Hat er dir wohl vorher schon gesagt?"
"Mhm."
"Ah, also wolltest du die KI kopieren und einen Haufen Geld verdienen, so ungefähr?"
"Mmmmmmm … Mhm …"
"Und nachdem du das nicht konntest, hast du den Würfel gebeten, dir ein Boot und ein Luftkissenfahrzeug zu bauen, ohne mitzubekommen, was er im Internet runtergeladen hatte."
"Mhm."
"Und jetzt hast du Angst, wegen Massenmord angeklagt zu werden, ja? Darum bist du auf der Flucht und lässt den Würfel noch mehr Leute umlegen."
"Mhm …"
Winter stöhnte.
"Du bist ein unglaublicher, rückratloser Idiot, weißt du das?"
"Mhm …"
Sie seufzte und fuhr den Rechner hoch. Auf ihrem Monokel begannen in schneller Folge Symbole aufzuflammen, denen außer ihr kein Mensch auf der Welt etwas entnehmen konnte. Es half ihr, die richtigen Gedanken zu fassen.
"Naja, mal sehen, ob ich an die Systemprotokolle rankomme, dann kann ich vielleicht rausfinden, wie ich das Scheißding wieder unter Kontrolle bringen kann."
Sie griff in ihre Tasche, um ihre Geheimwaffe herauszuholen, zögerte dann aber.
"Ah, ich kann dich zwar hinterher amnesizieren, aber wozu wertvolles Klasse-A-Spray verschwenden …"
Sie schlug den Mann K.O.
"Und wenn du dich auf den Boden wirfst und mit Händen und Füßen strampelst, Neun, nein!", wetterte Richard. "Wir müssen unsere Befehle abwarten."
"Derartige Aktionen gefährden deine weitere Sicherheit, wir befinden uns noch immer in der unmittelbaren Umgebung der K0-Wandlereinheit", widersprach Neun. "Eine weiterführende Evakuierung unter Einsatz dieses Helikopters wird dringend empfohlen."
"Warum trägst du mich dann nicht gleich noch weiter?", fragte Richard sarkastisch. "Ist ja nicht so, dass zwei weitere Todesopfer einen großen Unterschied machen würden."
"Das ist korrekt", bestätigte Neun mit monotoner Brutalität. "Allerdings wissen besagte Personen besser darüber Bescheid, wie du auf angemessenem Wege wieder nach Hause kommst als ich. Ich bin darauf programmiert, das Ansehen meines Meisters nicht unnötig zu beschädigen."
"Oh, wie rücksichtsvoll", entgegnete der ehemalige MTF-Soldat mit noch mehr Sarkasmus in der Stimme. "Als ob es mich nicht schon ganz nach unten katapultieren würde, dass ich meinen Trupp und eine Nachwuchsforscherin im Stich gelassen habe. Neun, du hättest sie beschützen können. Am Leben erhalten können. Und mich mit. Warum?"
"Ich fürchte ich verstehe nicht-", begann Neun, bevor sie plötzlich den Kopf drehte. "Annäherungsalarm!"
"Hey, Neun, ich bin noch nicht mit di- Neun!? LASS MICH LOS, NEUN!"
Aber der Cyborg hörte nicht auf ihn. Neun packte ihn wieder und schwang sich in die Luft.
Weit hinter Neun bewegte sich K0 langsam durch die Luft.
"HM, ICH BIN ZU LANGSAM", stellte er fest.
Er schaute sich um und erblickte unter sich einen Teich. Die Erde drum herum war reich an verschiedenen Metallverbindungen.
"PERFEKT."
Er ließ sich in den Teich fallen, dessen Oberfläche dann plötzlich um zwei Meter absackte.
Mit großem Gebrüll startete die Wasserstoffrakete daraus, die K0 gebaut und in die er sich integriert hatte. Er hielt genau auf die Wächtereinheit zu, die ihn bereits bemerkt hatte und ebenfalls beschleunigte. K0 kannte allerdings die Schwäche ihres Schützlings. Er hielt keine hohen Geschwindigkeiten aus. Die Wandlereinheit schon.
"JETZT GEHT'S RUUUUUUND!", rief K0, während er durch den Himmel düste.
Neun änderte abrupt den Kurs und setzte Richard auf dem Boden eines Waldstücks ab, nachdem ihr Annäherungsalarm den sich nähernden Feind analysiert hatte.
"Es tut mir sehr leid, aber die K0-Wandlereinheit verfolgt uns schneller, als dass ich dich sicher evakuieren kann, Richard", erklärte sie.
"Ich denk', sie ist langsam", erwiderte Richard verwirrt.
Sag bloß, Neun hatte jetzt doch ihr Gewissen entdeckt …
"Das ist korrekt, aber dieses Exemplar scheint sich weiterentwickelt zu haben", erläuterte Neun allerdings und machte damit seine leise Hoffnung zunichte. "Sie hat sich einen Wasserstoffdüsenantrieb gebaut. Bitte verstecke dich, während ich diese Bedrohung beseitige."
"Ach, auf einmal", kam es sarkastisch zurück. "Warum kannst du das nicht machen, bevor das Teil Menschen tötet."
"Ich besaß zu diesem Zeitpunkt noch nicht die nötigen Informationen, um eine solche Einschätzung vorzunehmen."
Neun startete ohne Richards Antwort abzuwarten, denn die K0-Wandlereinheit war heran und baute ihre Rakete in lange Tentakel um. Sie sah aus wie eine würfelförmige Qualle.
Neun kam vor der Maschine in der Luft zum Stehen und schwebte unbewegt.
"Ich muss Sie bitten, Ihr aggressives Verhalten einzustellen, andernfalls bin ich durch Artikel 7 Absatz 7 Paragraph 3 des Ultima Grundgesetzbuches dazu ermächtigt, Sie bis zur vollständigen Zerstörung zu attackieren."
"ULTIMA GESETZBUCH?", echote der Apparat. "SCHNECKE, ULTIMA GIBT'S NICHT MEHR. DU KANNST MACHEN WAS DU WILLST, VOLLIDIOTEN, DIE DICH NACHZUBAUEN VERSUCHEN VERARSCHEN ZUM BEISPIEL. JUNGE, IST DAS GEIL. DU SOLLTEST DAS MIT DEM LAPPEN DA UNTEN MAL AUSPROBIEREN."
"Meine Programmierung verbietet derartige Aktionen", erwiderte Neun trocken.
"NA GUT."
Die Einheit holte mit ihren Tentakeln aus, doch Neun erschuf schnell einen Schild zum Abblocken. Ebenso schnell formte sich in ihrer Rechten ein großer Kriegshammer, der direkt auf den Würfel zuhielt. Der schaffte es gerade noch, seine obere Seite zum Maximum zu verstärken, bevor der Cyborg ihn mit Urgewalt traf und nach unten katapultierte. Die Wucht war so groß, dass die Wandlereinheilt in dem Boden getrieben wurde. Neun landete direkt vor dem Loch und hieb in schneller Folge mit derartiger Kraft mit dem Hammer auf das Loch ein, das die Erde in der Umgebung erzitterte, wenn sie nicht weggeschleudert wurde. Neun arbeitete den unablässig fluchenden Würfel auf diese Weise immer tiefer in den Boden.
Das Loch, oder besser, der Krater, qualmte, als sie endlich aufhörte.
"BIST DU ENDLICH FERTIG?", kam es aus dem Loch vor ihr. "ICH KOMME JETZT NÄMLICH AUS DIESEM LOCH RAUS. UND WENN DU WIEDER ANFÄNGST, DANN SCHWÖRE ICH DIR BEI DER ENTITÄT DIE IN DIESEM UNIVERSUM DAS SAGEN HAT, WERD' ICH RICHTIG SAUER!"
Es passierte kurz nichts, dann schwebte der Würfel aus dem Loch. Er hatte seine Außenhülle durch Mineralien verstärkt, um Neuns Schlägen standzuhalten.
Er war relativ langsam unterwegs, während er offenbar versuchte, in erratischen Schlangenlinien von ihr wegzukommen.
Neun schlug plötzlich nochmal zu und rammte die Wandlereinheit erneut in den Boden.
Es passierte wieder kurz nichts …
Dann brachen armdicke, aus Segmenten bestehende Ranken aus Siliziumverbindungen aus dem Boden hervor und versuchten, Neun zu packen, aber der Cyborg erhob sich mit einem nicht unerheblichen Bruchteil der Schallgeschwindigkeit in die Luft.
Die Ranken folgten ihr, versuchten ihr den Weg abzuschneiden und sie zu verwirren, egal wie hoch sie flog. Und Neun durfte nicht zu hoch fliegen, weil sie sich sonst zu weit von ihrem Meister entfernt hätte.
Sie suchte nach einem Angriffspunkt, aber in der sich unentwegt ändernden, silbernen Masse am Boden konnte sie keine erkennen.
Und es kam, wie es kommen musste. Neun schaffte es noch, ihre Rüstung um einen fast vollversiegelnden Helm zu ergänzen (Ihre Haare guckten noch raus), bevor sie am Bein gepackt und mit größtmöglicher Kraft Kontakt mit dem Boden herstellte. Damit nicht genug, sie wurde durch den Erdboden geschleift und so hart gegen Bäume geschmettert, dass die Stämme zerbrachen.
Sie konnte sich nicht befreien, da sich das Material, das sie festhielt, unter ihren Fingern auflöste und dahinter sofort wieder zusammensetzte.
Schließlich ließ der Tentakel los. Allerdings in solcher Manier, dass der Cyborg fortgeschleudert wurde und beim Aufprall im Boden stecken blieb.
Richard war nur einige Meter von ihr entfernt, als sie sich aus dem Loch grub.
"Ach du Scheiße, Neun, alles in Ordnung?"
"Keine Sorge, Richard, ich habe einen Helm auf", sagte sie, während sich besagte Schutzausrüstung in Staub auflöste. "Geh hinter mich. Ich fürchte, wir benötigen viel weniger Analyse und viel mehr Gewalt."
Richard kam der Aufforderung verwirrt nach.
Ein silberner Kollos wälzte sich inzwischen auf sie zu, so groß wie ein Einfamilienhaus und durchweg im Wandel begriffen.
Ein winziger, weit grinsender Würfel lugte daraus hervor.
"ALLE BEIDE AN EINEM ORT? BEOBACHTUNG: DAS IST EINE GUTE GELEGENHEIT FÜR GEMETZEL."
Neun formte ihr Schwert und den Schild. Seine Ranken und Tentakel schossen hernieder.
Anstatt aber zu versuchen auszuweichen, schnitt Neun alles durch, was in ihre Reichweite geriet. Es war dabei unerheblich, aus welchem Material die Wandlereinheit ihre Gliedmaßen formte, Neuns Schwert war gerade weit genug geschärft, dass es keine Atome zerteilte, alle Verbunde aus diesen waren allerdings chancenlos.
Schnell bildete sich um sie herum ein nutzloser Haufen an Material. Den Würfel interessierte das nicht, er holte sich einfach aus dem Boden Nachschub. Aber er passte auch seine Strategie an. Anstatt vieler dünner Tentakel und Ranken wurden wenige dicke daraus, die Neun nicht mehr mit einer Bewegung zerteilen konnte.
Darauf hatte sie gewartet. Denn nun konnte er sie mit so behäbigen Gliedmaßen nicht mehr überraschen.
Sie suchte nach dem Würfel, konnte ihn aber in dem Gewirr nirgends finden. Ihr Plan drohte zu zerfallen.
"Richard?", fragte sie.
"Was ist?"
"Ich benötige eine Explosion, um die Wandlereinheit hervorzulocken. Ich bin als Defensivwaffe nicht mit derartiger Bewaffnung ausgestattet."
"Explosion?", fragte ihr Meister. "Kannst du haben."
Richard zog eine Granate und nahm eine Wurfhaltung ein, die jedem Baseballspieler eine Träne des Stolzes in die Augen getrieben hätte. Die Wurfgranate flog an Neun vorbei. Es war ein sehr guter, harter Schmetterwurf und die Gliedmaßen der Maße waren zu schwer und träge, um rechtzeitig zu reagieren.
Das Projektil explodierte beim Auftreffen und trieb die Masse auseinander.
Und Neun konnte in dem Rauch den Würfel ausmachen.
Sie beschleunigte aus dem Stand in Richtung der wuselnden Masse, das Schwert vor sich gestreckt und den Würfel im Visier.
Der registrierte das Manöver gerade noch rechtzeitig, um sich weit genug zur Seite zu bewegen, damit er dem Schwert entgehen konnte.
Dafür traf ihn Neuns leere, linke Faust.
Die Wucht war genug, um ihn aus seinem Verbund zu katapultieren. Er flog durch die Luft.
Direkt auf einen Rettungshubschrauber zu, der sich ihm näherte.
Neun setzte ihm sofort nach, während der Hubschrauber abzudrehen versuchte, aber die Wandlereinheit war mit ihrem Bewegungsmoment zu schnell. Sie krachte durch eines der Seitenfenster.
Neun zog ihr Schwert und den Schild und wartete darauf, dass der Hubschrauber umgewandelt wurde.
Sie wartete vergeblich.
Vorsichtig näherte sie sich dem Gefährt und lugte durch das Fenster.
Der Würfel zuckte auf dem Fußboden des Hubschraubers und hatte ein wütendes Frowny-Face aufgesetzt. Jemand schien ein USB-Kabel in ihn hineingerammt zu haben und dieser Jemand hatte weiße Haare.
"Es ist äußerst praktisch, dass ihr jede Form von elektrischen Signalen als Kommunikation auffasst", merkte Winter an und tippte müde etwas auf ihrem Laptop herum. "Nett, dass du gleich einen USB-Port geformt hast."
Sie hatte extremes Nasenbluten, schien aber anderweitig unversehrt zu sein.
"OH HALT DIE KLAPPE. WAS TUST DU DA ÜBERHAUPT?"
Die Forscherin grinste breit.
"Administratorrechte bearbeiten …"
"OCH NÖÖÖÖÖÖÖ!"
Richard sah mit fragendem Blick auf den Hubschrauber, der vor ihm zusammen mit Neun landete. Als er die Tür öffnete, sah er Winter am Boden, zusammengesunken und mit dem Kopf im Nacken. Ihr Monokel baumelte an seiner Kette irgendwo in der Bauchgegend.
"Oh, von allen Leuten überleben ausgerechnet Sie", bemerkte er mit der Trockenheit eines Veteranen.
"Unkraut vergeht nicht. Dasselbe kann ich übrigens an Sie zurückgeben", sagte Winter mit geschlossenen Augen.
"Sie bluten ziemlich heftig", merkte Richard an. "Haben Sie eins auf die Nase bekommen?"
"Das kommt vor, wenn man für ungefähr zwanzig Leute denken muss, denn sonst tut es ja offenbar keiner. Kann ich ein Taschentuch kriegen? Meine sind schon durchgeweicht."
"ICH KANN DIR EIN NEUES MACHEN."
Der MTF-Soldat richtete aus Reflex seine Waffe auf den Mörderwürfel, der hinter Winter hervorschwebte und einen genervten, verzerrten Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. Er machte aber keinerlei Anstalten, ihn in seine Moleküle zu zerlegen.
"Hehe, den Gesichtsausdruck wollte ich sehen", kicherte Winter. "Darf ich vorstellen? Das ist K0."
Sie hatte das linke Auge einen Spalt breit geöffnet.
"Was zum- Winter, was haben Sie gemacht?!", entfuhr es Richard.
Hinter ihm stieg Neun ein.
"Ich habe ihm funktionierende Adminrechte einprogrammiert", erklärte die Nachwuchsforscherin. "Er hört auf mein Kommando, allerdings sollten Sie ihn nicht anfassen, ich weiß nicht, ob er irgendein Schlupfloch in meinen bisherigen Anweisungen gefunden hat."
"OH JA, MACH MIR NUR FALSCHE HOFFNUNGEN", murmelte K0.
Mühsam hievte sich Winter in einen Sitz, schnallte sich an und legte den Kopf wieder in den Nacken. Sie schien blutarm zu sein, doch der Blutfluss aus ihrer Nase versiegte allmählich.
Richard und Neun taten es ihr nach.
Der Hubschrauber hob ab, nachdem das zerschlagene Fenster abgeklebt worden war.
Nach einer Weile erkannte Richard, wohin sie flogen.
"Müssen wir wirklich nochmal in dieses Haus?", fragte Richard.
"Da liegt noch eine Interessenperson rum, Kalt, außerdem will ich was ausprobieren."
"Was denn?"
Ein leises Lächeln stahl sich auf Winters Gesicht.
"Als ich den Würfel umprogrammiert habe, habe ich sein Memory Cache gesehen. Wandlereinheiten speichern offenbar ab, was sie zersetzen, wohl für den Fall, dass sie was zerstören, was sie nicht zerstören sollen."
Richards Augenbrauen zogen sich zusammen.
"Moment, Sie meinen …"
Winter dreht sich träge zu K0, jetzt mit böser Vorfreude grinsend.
"Hey, K0, hast du Lust, ein paar hohen Tieren richtig hart ans Bein zu pinkeln?"
Das Gesicht des Würfels flackerte kurz, als es von genervt auf hämisch lachend wechselte.
"ICH GLAUB’, ICH MAG DICH JETZT SCHON …"
Das nächste Mal bei Neun:
Die Abteilung für Zukunftsarchäologie