Der Engel, der vom Himmel fiel

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Jetzt war es also endlich passiert. Die Welt ging unter. Und das trotz aller Bemühungen des realitätenumspannenden Imperiums Ultima, seinen Universen mehr Zeit zu geben. Doch jemand hatte das Schicksal in die eigenen Hände genommen. Aus einer fernen Galaxie, wo ein Tor zu einer anderen Realität lag, sickerte bereits mit Überlichtgeschwindigkeit die Schwärze hervor, die alles verschlingen sollte, sobald sie den ganzen Kosmos umgab.

Und doch gaben sich die Eliten von Logos nicht geschlagen. Sie hatten Fahrzeuge entwickelt, die es ermöglichten, überall hinzureisen, egal ob es in einer anderen Zeit oder in einem anderen Universum lag.

Eines dieser Gefährte war im Besitz von Bartholomäus, dem Kraken. Das war wohlweislich ein Spitzname, Bartholomäus war durchaus menschlich, ein sehr angenehm anzuschauender Mensch zudem, trotz der fünfzig Millionen Jahre, die er bereits auf dem Buckel hatte. Groß, breitschultrig und in einem enganliegenden silbernen Anzug, durch den man seine Bauchmuskeln sehen konnte. Bevor zu viel Neid aufkommt, sollte erwähnt werden, dass Ultima schon vor langer Zeit entdeckt hatte, wie man Menschen auf dem genetischen Level verändern konnte, selbst wenn sie bereits geboren waren. Wie so viele hatte auch Bartholomäus geschummelt, was seinen Phänotyp betraf.

Er raufte sich die braunen Haare, während er sah, wie sein Realitätsschiff beladen wurde. Ein Hochgeschwindigkeitsschiff der Belfast-Klasse in schickem Rot, das so aussah wie ein extrem futuristischer Papierflieger mit Düsenantrieb. Aber alle Geschwindigkeit würde nicht reichen, wenn die Schwärze sie in vielleicht drei Minuten erreichte. Hinter ihm leerte sich bereits der Sternenhimmel, langsam, aber mit zunehmendem Tempo. Dieses Ding schien irgendwas mit dem Licht der Sterne anzustellen, die es verdeckte …

Die Dienstroboter aber verfuhren weiter mit der gleichen Geschwindigkeit. Er würde nicht mal ein Promille seiner Reichtümer retten können …

"Herr, wir müssen jetzt aufbrechen", sagte eine wohlklingende, weibliche Stimme hinter ihm. "Andernfalls bin ich durch meine Schutzparameter gezwungen, Sie notfalls unter Einsatz von Gewalt an Bord des Schiffes zu bringen."

Ja, das war Neun für einen …

Sie war ein Wachcyborg der Grigori-Klasse, das bedeutete, dass sie wie ein blonder Engel aussah, komplett mit weiß gefederten Flügeln. Und sie war nach seinen Wünschen gefertigt worden. Perfekt.

Nur an ihrer Mimik hatte er etwas auszusetzen, sie war schlicht und ergreifend nicht vorhanden. Und dabei hatte sie so ein hübsches Gesicht, aber nur den einen, ausdruckslosen Blick …

Seufzend setzte er sich in Bewegung, Neun ebenfalls, ihre weiße Kampfrüstung machte dabei keine Geräusche.

Auch im Schiff herrschte hektischer Betrieb durch Wachroboter und zahlreiche Klone, die im Prinzip nur zur Bespaßung echter Menschen existierten.

Die Luken schlossen sich und das Schiff hob ab, noch während Bartholomäus und Neun auf den Weg zur Brücke waren.

Sie begrüßte nur ein schlanker Androide, der das Schiff steuerte. Er bestand aus silbernem Nanoflüssigmetall, falls er zur Steuerung zusätzliche Gliedmaßen formen musste. Er musste schließlich drei Meter Armaturen allein bedienen. Der Rest der weißen und hell erleuchteten Brücke enthielt weitere Kontrollpulte und Stühle, die allerdings nur besetzt wurden, wenn es galt, Feinde abzuwehren und die KI des Schiffes aus irgendwelchen Gründen ausfiel. Sinnlose Sicherheitsbestimmungen, fand Bartholomäus. Und weil er es als Quatsch ansah, hatte er nichtmal eine Crew zur Bedienung an Bord. Er nahm auf einem thronartigen Stuhl in der Mitte Platz, Neun postierte sich mit eng angelegten Flügeln und hinter dem Rücken verschränkten Armen hinter ihm.

"Bring uns hier weg, zum nächsten Universum, das nicht mit dem hier zusammenhängt, am besten noch weit in die Vergangenheit", befahl der Besitzer des Schiffs.

"Verstanden", summte der Androide und begann damit, dem Schiff entsprechenden Input zu geben.

Bartholomäus seufzte erneut. So viel, das er zurücklassen musste. Aber vielleicht konnte er es mit genug Zeit wiedererlangen. Er hatte ein Terraforming-Kit, damit konnte er selbst den lebensfeindlichsten Planeten mit blühendem Leben beehren. Und wenn er sich dort zum König machte, dann, in zehntausend Jahren, wer weiß …

"Du nicht …", flüsterte plötzlich eine Stimme.

"Bitte anschnallen", summte der Androide, noch bevor Bartholomäus nach ihr Ausschau halten konnte.

Er drückte einen Knopf und zahlreiche Gurte krochen über seinen Körper, um ihn einzuschnüren wie ein Paket.

Das Schiff sprang in den Nullraum und ließ die Schwärze zurück, die hinter ihnen zusammenschlug wie das Maul eines gigantischen Tieres, das sich seiner Beute etwas zu sicher gewesen war.

Es klapperte etwas, als die geringe Realitätsdichte des Nullraums versuchte, die Scranton-Hülle zu durchbrechen, die das Schiff umgab und es so in sein eigenes kleines Taschenuniversum verwandelte.

Etwas mischte sich in dieses Klappern. Bartholomäus drehte den Kopf und sah noch ein pechschwarzes Raumportal im Durchgang zur Brücke verschwinden.

Aus dem eine Antimateriegranate gerollt kam …

"Eintritt in nächstes Universum in fünf", begann der Androide herunterzuzählen, der anders als Neun völlig ungerührt geblieben war. Sie packte die Granate und rannte so schnell sie konnte aus dem Raum.

"Vier."

Sie war vermutlich zur nächsten Luke unterwegs. Würde sie es rechtzeitig schaffen?

"Drei."

Das Schiff begann zu rattern, während es sich auf den nächsten Sprung vorbereitete.

"Zwei."

Der Wachcyborg kam zurück, die Granate noch immer in der Hand.

"Eine Attrappe", erklärte sie nur.

"Eins."

Hinter ihr öffnete und schloss sich das Raumportal innerhalb eines Augenblicks erneut und eine weitere Granate rollte zwischen ihren Beinen hindurch …

"Null."

Mehrere Dinge passierten gleichzeitig. Das Schiff setzte zum Weltensprung an, Neun warf sich vor Bartholomäus, holte scheinbar aus dem Nichts ihren Barriereschild hervor und die Granate explodierte lautlos, aber mit blendend weißem Licht. Sie zersetzte das gesamte Schiff und fast seine gesamte Mannschaft mit der Kraft einer Supernova auf atomarer Ebene.


Deutschland, über Oberbayern

Hoch im Himmel, dort wo die Atmosphäre allmählich beschließt, dass sie doch nicht so hoch hinaus will, gab es eine kurze, purpurfarbene Explosion. Neun fiel daraus hervor, teilweise verbrannt. Von Bartholomäus oder irgendetwas anderem vom Schiff fehlte jede Spur. Teile ihrer Rüstung waren zerstört und darunter war das von der Hitze verbrannte Fleisch zu sehen. Einer ihrer Flügel war gebrochen und flatterte nutzlos im Fallwind, als die Schwerkraft sie erfasste. Die Explosion hatte ihre Prozessoren ausgeknockt und sie sprangen nun alle der Reihe nach wieder an.

Nur nicht schnell genug.

Quasi halb bewusstlos versuchte Neun mit zusammengebissenen Zähnen, mit ihrem verbliebenen Flügel zu steuern, während sie die Wolken erreichte und hindurchfiel, fliegen konnte sie mit nur einem Flügel nicht, sie trudelte nur und veränderte ihren Kurs minimal.

Das Wasser machte sie kurzzeitig schwerer und damit noch schneller, aber wenigstens linderten sie die Verbrennungen etwas, bevor sie die Wolken wieder teilten und Neun den Boden einer überraschend grünen Welt unter sich sah.

Der Boden, nackter Ackerboden, wie Neun registrierte, kam näher und näher, während sie versuchte, ihre Bewegungsrichtung mit ihrem verbliebenen Flügel möglichst parallel zum Boden auszurichten.

Der allerdings erreichte sie schneller als ihr lieb war.

Neun krachte mit Urgewalt in einen Acker, wurde von der Wucht ihres Aufpralls wieder aus dem Krater herausgeschleudert, schlug ein weiteres Mal auf dem Boden auf, prallte wie ein Gummiball erneut ab, hüpfte über einen Feldweg und schlug in einem Traktor ein, der ihr Bewegungsmoment endlich so weit abbremste, dass sie sich einfach nur noch mehrfach überschlug und beim nächsten Aufschlag eine breite Furche zog, ehe sie endlich bedeckt von Erde zum Liegen kam.

Ihre Prozessoren versuchten noch eine Weile, Neun bei Bewusstsein zu halten, während um sie herum Regen niederging. Doch aufgrund der körperlichen Schäden beschlossen ihre inneren Systeme schließlich, in den Ruhemodus zu schalten …


Mobile Task Force DE6-𝔇 "Das Aufgebot" war bekannt als die MTF der guten und der schlechten Nachrichten. Die erste schlechte Nachricht war, dass es sich um die MTF handelte, die sich mit allem anlegen musste, über das die Foundation zu wenig Informationen hatte, um eine spezialisiertere MTF zu schicken. Die zweite schlechte Nachricht war, dass diese MTF dadurch die höchste Sterblichkeitsrate aller deutschsprachigen MTFs hatte, was ihnen den Spitznamen "Redshirts" eingebracht hatte. Die erste gute Nachricht war jedoch, dass sie deswegen auch Zugriff auf die meisten Waffen hatten um genau dem entgegenzuwirken. Die zweite gute Nachricht war, dass bei der Eindämmung gefährlicher Anomalien sogenannte "Erfahrungsträger" abgerufen wurden, um besagte Eindämmung zu unterstützen. Man blieb also nie sonderlich lange in dieser MTF. Was dann als schlechte Nachricht wiederum bedeutete, dass es in dieser MTF prozentual die meisten Frischlinge gab …

Richard Kalt wunderte sich daher über diesen Auftrag. Sie waren mit einem getarnten Transporter zu einer Absturzstelle unterwegs. RTFs kümmerten sich nicht darum, weil MTF DE6-𝔇 nach einem anderen Einsatze in der Nähe gerade auf dem Rückweg zu ihrem Stützpunkt war. Das hier war nur ein kleiner Umweg.

Er war von ähnlichem Format wie die anwesenden Männer, aber wesentlich kleiner, sogar kleiner als die anwesenden Frauen, weswegen er manchmal scherzhaft "Gimli" genannt wurde.

Für einen Zwerg war er aber schon ziemlich groß, Jungs …

Was auch immer es war, das da runtergekommen war, schien von weit oben zu kommen, denn es hatte eingeschlagen wie ein Meteor. Und das für ihn Wichtige war, es hatte sich seit seinem Absturz nicht mehr bewegt …

Warum schickt man also neun bis an die Zähne bewaffnete Typen, um einzusammeln, was auch immer da vom Himmel gefallen war? Die Eierköpfe konnten es aber auch übertreiben mit ihrer Vorsicht … Oder den Einsparungen …

Ein Bauer hatte die Krater in den frühen Morgenstunden bemerkt, als er seinen, nun zerstörten, Traktor holen wollte. Feldagenten waren gerade dabei, ihn zu befragen und ihn, sobald alles vorbei war, zu amnesizieren.

"So, Meine Herren und Damen, wir sind da", meldete der Teamführer. "Ausschwärmen und die Unfallstelle absuchen."

Nach einem gebrüllten "Jawohl" aus acht Kehlen wurde der Transporter verlassen und die MTF verfolgte den Absturz nach.

Über ihnen regnete es, während sie sich zur eigentlichen Absturzstelle vorarbeiteten. Schlamm klebte an ihren Stiefeln.

Das Objekt hatte beim Aufprall keine Einzelteile hinterlassen, bemerkte Richard mit gerunzelter Stirn. Was auch immer es war, es war entweder ziemlich hart oder, was schlimmer gewesen wäre, verschwunden. Da würden sich die Jungs von der Forensik später noch drum kümmern müssen …

Es schien wie eine Ewigkeit, als sie sich endlich zu der Furche vorgearbeitet hatten, die das Ende des Absturzes markierte. Es war durch den Regen und den Schlamm nicht genau zu erkennen, was da lag, aber es war weiß und hellgelb.

"Und wer geht jetzt vor?", fragte Klamm, einer seiner Kollegen unter seinem Helm hervor.

Von den anderen kamen verneinende Geräusche.

"Ich geh schon", seufzte Richard.

Er wäre so oder so gegangen. Und er war immer derjenige, der das meiste Risiko auf sich nahm. Keiner hielt ihn auf. Sie hatten aufgehört, das zu tun.

Er näherte sich dem Objekt und wischte etwas Dreck neben den platinblonden Haaren, wie er jetzt erkannte, beiseite.

Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer Blondine. Hatte zwar den Aufprall in, nun, einem Stück überstanden, war dann aber offenbar im Schlamm erstickt, denn sie rührte sich nicht. Richard grub ein wenig im Schlamm, bis er ihren Arm fand. Er war halb verbrannt und steckte in den Resten einer ehemals weißen Rüstung aus einem Material, dass Richard weder als Plastik, noch als Metall einordnen konnte, aber es musste eines der beiden sein, da war er sich sicher.

Zu Lebzeiten musste sie eine echte Schönheit gewesen sein, stellte der MTF-Kämpfer etwas bedauernd fest, während er nur für’s Protokoll den Puls zu nehmen versuchte.

Zu seiner grenzenlosen Überraschung fand er einen …

"Ja holla die Waldfee", entfuhr es ihm. "Sie ist am Le-"

Er brach ab, als plötzlich Bewegung in den Schlamm kam. Irrte er sich, oder hörte er das hohe, summende Geräusch von Servoantrieben?

"Passwort … Bestätigt …", kam es dumpf und auf eine seltsame Art rauschend aus dem Dreck, als sich die Frau vor ihm schwerfällig aufzusetzen versuchte.

"Tod des Administrators … Bestätigt. Neuer Administrator … Erforderlich …"

Sie schaffte es endlich, sich weit genug aufzurichten, um Richard auf Augenhöhe zu begegnen. Sein Team hinter ihm richtete Maschinenpistolen auf die Fremde.

Teile ihres Gesichts waren weggebrannt und darunter waren angesengte Muskeln, Knochen und, wenig verwunderlich, Metall zum Vorschein gekommen.

"Äh, wer bist du?", fragte Richard versuchsweise.

Sie reagierte nicht.

"Also ich bin Richard, falls du eine Vorstellung brau-"

"Name … Akzeptiert … Rekonfiguriere Operationsparameter … "

"Äh, solltest du dich nicht hinlegen? Du bist ziemlich schwer verletzt", fragte Richard, dem erst jetzt auffiel, dass das was er tat keine Erste Hilfe, sondern eher Sterbehilfe war.

"Verstanden …"

Gehorsam legte sie sich langsam in den Schlamm zurück.

"Wir werden dich versorgen, aber mach bitte nichts wofür wir auf dich schießen müssen, ja?"

"Ver … standen …"


Er sah sie nie wieder. Das Geschöpf, es stellte sich als sowas wie ein Engel heraus, als sie es aus dem Dreck gehoben hatten, wurde in den nächstgelegenen Standort, nämlich seinen, Standort-DE17 verlegt und befand sich dort eine Weile in Behandlung, bis man feststellte, dass man nicht gut genug ausgerüstet war um ihr zu helfen. Kurzerhand hatte man sie per Hubschrauber nach DE12 transportiert. Deren Krankenstation war auf alles Mögliche vorbereitet.

Das war vor zwei Monaten gewesen. Mittlerweile hatten er und sein Team weitere Einsätze erledigt und bis auf ihn waren alle irgendwo anders hin versetzt worden.

Die Frau hatte er schon halb vergessen. Schließlich schlug er sich fast einmal wöchentlich mit irgendwelchem übernatürlichen Zeugs rum. Außerirdische Engel waren da noch das Harmloseste.

Richard Kalt gehörte zu den Leuten, die mit ihrer Arbeit nicht nur verheiratet waren, sondern sogar mit ihr den Blutschwur geleistet hatten. Daraus folgte ein sehr leeres Leben, wenn sie gerade mal nicht arbeiteten. Sein Truppenführer hatte ihn sogar als idealen Kandidaten für die DE4-𝔙 "Die Verteidiger" ausgeschrieben, aber er war abgelehnt worden.

Er war zu klein gewesen.

Allgemein machte er trotzdem den Eindruck, eher Maschine als Mensch zu sein. Er lächelte kaum.

Im Moment schaute er sich einen Film aus der Foundation-Mediathek an. Wer Richard in Alltagsklamotten sieht, weiß sofort, dass er nicht viel auf sein Äußeres gab. Sein Haar war militärisch kurz, obwohl es an ihm fürchterlich aussah, seine Fingernägel waren zwar geschnitten, das aber extrem kantig und die Trainingsklamotten die er trug waren derart zusammengewürfelt, dass er wie moderne Kunst wirkte.

In seinem kleinen Wohnmodul in Standort-DE19 gab es keine Bilder. Weder an den Wänden, noch auf Tischen.

Er hatte Fotos zu hassen gelernt …


Standort-DE17 ist ein relativ abgelegener Standort der deutschsprachigen Foundation und beherbergt daher überdurchschnittlich viele Anomalien, die meisten davon menschlich. Eine davon war allerdings nicht wegen seiner anomalen Eigenschaften gefährlich …

SCP-171-DE reckte sich gelangweilt in seiner Zelle. Im Moment sah es aus wie eine junge Frau mit roten Haaren.

Die Zelle enthielt nichts außer einem Futon. Harte Gegenstände gewährte man ihm nicht. Ebenso wenig Dinge, die man als Schlinge benutzen konnte.

Die Zeit hier drin verging wie zäher Sirup. Es war schwer, sich in Geduld zu fassen.

Es hörte endlich das Klicken am Schloss.

Über Monate hinweg hatte es die Wächter weichgekocht. Angefangen hatte es mit herzzerreißendem Gestöhne, als ob es Schmerzen hätte. Dann hatte es angefangen, auf Erkundigungen nach ihrem Wohlbefinden zu reagieren.

SCP-171-DE war keine Keter-Anomalie wegen seiner anomalen Eigenschaften, sondern wegen einer völlig normalen Fertigkeit.

Dem Reden.

Über Wochen hinweg hatte es verbale Steuerelemente in die Köpfe seiner Wärter geschoben. Machte Gebrauch von Suggestion, Komplimenten, Ermunterungen, gut gezielten Beleidigungen, Bestechungen, dem bloßen Zuhören, wenn ihm jemand von Problemen erzählte. Und je mehr man ihm erzählte, umso mehr Macht gewann es über einen. Es machte Leute zu sprachgesteuerten Marionetten, ohne dass irgendwelche übernatürlichen Phänomene im Spiel gewesen wären.
Ein Wärter öffnete ihm lächelnd die Tür.

Dankbar ergriff es seinen Kopf, als wolle es ihn küssen.

Und drehte ihm den Hals um …


Standort-DE12 ist in erster Linie ein Standort der Wissenschaft. Hier wurden Dinge untersucht, ersonnen und getestet. Der Standort beherbergte zwar auch Anomalien, die meisten davon allerdings zu Studienzwecken.

Das waren größtenteils Anomalien mit technologischen Komponenten, die es nachzubauen galt. Und in einigen Fällen ihre Anwender.

Momentan hatte sich unter der Belegschaft leichter Missmut breitgemacht, trotz der Tatsache, dass der Standort seit fast einem Jahr durchgehend Durchbrüche erzielte.

Was das Problem vieler Forscher war: Es war nicht ihr Verdienst. Sie hatten feststellen müssen, dass es meist nur Kleinigkeiten waren, die die Einzelteile von experimentellen Apparaturen davon abhielten, beim Einschalten dem Wunsch nachzukommen, möglichst weit weg voneinander zu sein.

Sicherlich ernteten sie ihre Belohnungen, Auszeichnungen und Doktorgrade, aber leider nicht sie allein. Von allen Beweihräucherungen fiel ein kleiner Teil auf einen Neuankömmling ab, wenn sie es nicht verhinderten. Nun, nicht direkt Neuankömmling, schließlich war sie schon mehrere Jahre hier. Aber sie wurde von vielen als Emporkömmling betrachtet, da sie mit achtzehn Jahren eines der jüngsten Mitglieder der Foundation gewesen war, als sie anfing. Kein anständiges Alter für eine Foundationkarriere, dachten viele. Nur um dann festzustellen, dass man diese Person nicht eingestellt hatte, weil sie so gut mit den Wimpern klimpern konnte. Sie brachte Praxiserfahrung mit. Und nun stand diese Person kurz davor, mit gerade mal fünfundzwanzig Jahren die jüngste Doktorin der deutschsprachigen Foundationgeschichte zu werden.

Vorbei an ihr finster nachblickenden Forschern und normal guckenden Wachmännern schritt Nachwuchsforscherin Chloe A. Winter durch die weißen Korridore von Standort-DE12 dem Objekt ihrer Doktorandenarbeit entgegen. Entgegen ihrem Alter hatte sie bereits schneeweißes Haar, das sie lang in einem lockeren und flauschig wirkenden Pferdeschwanz trug. Sie sah mit ihrem Kittel aus dem richtigen Winkel wie ein Geist aus, wenn auch ein recht hübsch anzusehender. Unter ihrem Kittel trug sie einen Rock und einen weiten, türkisfarbenen Rollkragenpullover. Auffällig war, dass sie ein Monokel mit einer Kette trug, die unter ihrem Kittel verschwand. Ein Geschenk von einer guten Freundin.

Das Objekt, nein, die Person, an der sie arbeitete, wurde vor zwei Monaten in einem Acker gefunden. O4-12, der von Winters unermesslichem Fachwissen zu derartiger Technologie Kenntnis besaß, hatte daraufhin alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit sie den Fall bekam.

Ein absolutes Novum in der deutschen Foundation, zumal man ihr niemanden zur Seite gestellt hatte. Lag vermutlich daran, dass sich alle Doktoren strikt geweigert hatten, sie zu beaufsichtigen, woraufhin O4-12 die Sache seufzend selbst übernommen hatte.

Die Isolierzelle glich einem Rechenzentrum. Nur diente es dazu, diejenige zu überwachen, die in der Mitte des hell erleuchteten Raumes auf einem weichen Bett lag. Es war ein Engel. Oder zumindest etwas, das einem weiblichen Engel nachempfunden worden war.

Sie war blond und ihre Flügel, einer von ihnen geschient, ragten unter ihrer Bettdecke hervor, drei Meter in beide Richtungen. Man hatte ihr eine spezialgefertigte Matratze geben müssen, da sie auf ihren Flügeln nicht bequem liegen konnte. Dieses Exemplar hatte daher zwei Aussparungen auf Höhe der Schulterblätter.

Seit ihrer Ankunft hatte sie nicht gesprochen und auf nichts reagiert. Das machte es schwierig, den Engel zu befragen, aber ziemlich leicht, andere Tests durchzuführen. Winter hatte schon eine Menge herausgefunden. Zum Beispiel die Federn. Es waren gar keine Federn, sondern extrem weit entwickelte Maschinen. Sie erzeugten kaum messbare Gravitationswellen. Vermutlich ermöglichten sie es dem Engel, sich in die Lüfte zu erheben, indem sie die Richtung und Stärke der Schwerkraft manipulierten.

Dann war da die Wolke aus Nanomaschinen. Sie war kurz nach ihrer Einlieferung erschienen und mit bloßen Augen nicht sichtbar. Unter dem Mikroskop konnte man ihnen allerdings bei der Arbeit zusehen, wie sie körperliche Schäden behoben. Sie heilten verbranntes Fleisch, reparierten zerstörte Maschinenteile im Inneren des Körpers und stellten sogar das Haar wieder her. Der Gesundheitszustand dieses offensichtlichen Cyborgs hatte sich in den anderthalb Monaten, die Winter ihn nun schon betreute, enorm gebessert. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er bereits vollständig genesen wäre.

Als Winter an das Bett trat, fielen ihr zwei Dinge auf.

Erstens, hier musste mal wieder sauber gemacht werden.

Zweitens, die Patientin starrte zur Decke. Wie immer.

Gelegentlich blinzelte sie, aber andere Bewegungen führte sie nicht aus.

Wie gerne hätte Winter mit ihr geredet. Schon allein um sie zu bitten, endlich ihre zwar dünne, aber trotzdem extrem widerstandsfähige Rüstung abzulegen, damit man sie anständig untersuchen konnte. Bisherige Versuche mit ihrem Kopf hatten zwar gezeigt, das sowas sinnlos war, keine Strahlung durchdrang ihre Haut, Skalpelle wurden daran stumpf und auf einen CRT-Scan war wegen dem Metall in ihr verzichtet worden, aber Winter hatte noch nicht aufgegeben. Sie hatte entsprechende Anfragen an das Ethikkomitee gesendet, aber die nasschemischen Versuche und die Atomspektroskopie waren ihr untersagt worden.

Ihr fiel auf, dass sie vermutlich ein wenig übertrieb …

"Warum redest du nicht einfach mit mir?", fragte die Nachwuchsforscherin resigniert. "Ich meine, nur so zum Spaß … Was ist dein Lieblingseis, hast du Herr der Ringe gesehen, du weißt schon, die wichtigen Fragen."

Das kaum hörbare Geräusch eines Servoantriebs ließ sie aufschrecken.

Dann erschien auf ihrem Monokel eine Warnmeldung …

Der Engel begann sich aufzusetzen.

War Winter dafür verantwortlich?

Sie wusste nicht, ob das ein gutes Zeichen war, die Rüstung war zwar sehr figurbetont aber eben undurchsichtig. Da konnte ein riesiges Loch im Bauch klaffen, Winter hätte es nicht bemerkt.

"Hey, alles in Ordnung mit dir?", fragte sie.

Keine Antwort. Stattdessen stand der Cyborg vom Bett auf und näherte sich der Tür. Die Bewegungen wirkten sehr unmenschlich, eher wie die einer Maschine. Es gab keine überflüssigen Abläufe, nur Effizienz.

"Hey, du kannst den Raum nicht verlassen!", rief ihr Winter hinterher. "Bitte komm wieder her, sonst muss ich die Wachen rufen."

Ihr ging auf, dass der Engel sie vielleicht gar nicht verstand, aber warum versuchte er dann nicht seinerseits zu kommunizieren? Er hatte sie auch nicht angegriffen, sondern einfach ignoriert.

Winter beschloss, etwas dagegen zu tun und vertrat dem Cyborg den Weg, als dieser auf den Gang hinaustrat. Das Ganze hätte bestimmt beindruckender gewirkt, wenn die Nachwuchsforscherin nicht mehr als einen Kopf kleiner gewesen wäre.

Sie wurde sanft, aber nachdrücklich zur Seite geschoben. Der Gesichtsausdruck des Engels blieb dabei vertraut stoisch wie eh und je.

Winter sah ein, dass sie nichts tun konnte, um ihn davon abzuhalten, auf die Treppen zum Obergeschoss zuzugehen, darum tat sie das Einzige was ihr vernünftig erschien.

Sie löste den Eindämmungsbruch-Alarm aus.


Die Sirenen plärrten ihr monotones Lied. SCP-171-DE war zwar kurz nach seinem Ausbruch im Krankenflügel entdeckt worden, schaffte es aber mit einem Chirurgie-Kit in die Personalquartiere, bevor der Sektor abgeriegelt werden konnte.

Dort hatte es leichte Beute gehabt.

Viele Leute hatten geschlafen oder Kopfhörer getragen und waren dadurch zu spät geflohen, bevor die Schotten dicht gemacht worden waren.

Achtundzwanzig Menschen waren nun zusammen mit einer Frau, die ihnen die Organe stahl im selben Sektor gefangen. Nun, jetzt waren es nur noch neunzehn …

Das alles wusste Richard natürlich nicht, während er mit aller Macht versuchte, so wenig wie möglich da zu sein.

Er hörte Schrei in der Ferne und ekelhafte, feuchte Geräusche. Er war zwar ein MTF-Mitglied, aber er hatte keine Waffen. Nur ein Vollidiot hätte sich unbewaffnet einem Wesen in den Weg gestellt, das im Notfall die Kraft von hundert Leuten mobilisieren konnte.

Die Schreie verstummten, aber die feuchten Geräusche dauerten noch eine Weile an. Dann herrschte Stille. Nun, relative Stille, denn die Sirenen dröhnten auch weiterhin mit nervtötender Regelmäßigkeit.

Dazwischen hörte man das Geräusch ruhiger Schritte.

Richard hatte sich zusammen mit zwei vor Angst wimmernden Reinigungskräften und einem sehr angespannten Forscher im Gemeinschaftsraum verschanzt. Der Raum hatte insgesamt drei Ausgänge, sechs, wenn man die im Moment zugezogenen Sichtfenster nach außen mitzählte, was ihnen wertvolle Sekunden geben würde, wenn das Monster auf seiner Suche nach Opfern irgendwann unwiederbringlich versuchte, einzudringen.

Da kein Sichtkontakt bestand, konnte Richard das Monster nur ungefähr anhand seiner Schritte orten.
Es folgte das Splittern von Holz, an dass sich weiteres Schreien und Flehen um Gnade anschloss.
Dann kamen wieder die feuchten Geräusche.

Der Forscher übergab sich in einen Abfalleimer.

Was trieben die Einsatzkräfte so lange?!


Die Einsatzkräfte versuchten ihr Möglichstes, die Frau zurückzuhalten. Was in diesem Fall nicht viel hieß. Sie griff niemanden an, der sie zu stoppen versuchte, sondern schob sie einfach aus dem Weg oder umging sie.

Als Folge hatten die Wachen beschlossen, etwas, das einen freien Fall aus mindestens fünfhundert Kilometern Höhe überlebte, nicht unnötig zu provozieren und auf Waffengewalt verzichtet.

Fünf Wachen versuchten im Moment, den Cyborg zurückzuhalten, aber alles was sie erreichten war leichter Abrieb ihrer Schuhsohlen auf dem Betonboden. Er hatte sich nicht mal nach vorn gebeugt. Ebenso gut hätten sie versuchen können, einen Panzer zu stoppen.

Und dann, am Fuße der Treppe, begann er mit einer wohlklingenden, aber monotonen Stimme zu sprechen.

"Es tut mir außerordentlich leid, aber ich muss Sie bitten, ihre Bemühungen einzustellen. Andernfalls bin ich durch meine Missionsparameter befähigt, nichttödliche Gewalt gegen etwaige menschliche Hindernisse anzuwenden."

"Können wir nicht darüber reden?", fragte Winter hinter ihr hoffnungsvoll.

"Nein."

Mit schnellen Bewegungen pflückte sie die Sicherheitskräfte von sich herunter und warf sie ohne ersichtliche Kraftanstrengung gegen die umliegenden Wände. Die Männer kamen keuchend und vor Schmerz knurrend am Boden auf.

"Von wegen nichttödlich", röchelte ein Wachmann, während er in sich zusammensackte.

Der Engel stieg die Treppen hinauf. Der diensthabende Wachvorsteher autorisierte daraufhin Gummigeschosse, aber der Cyborg zuckte nichtmal unter den Einschlägen und ließ die Schützen einfach links liegen, während er seine Schritte beschleunigte.

Dann fand er sich vor einem verschlossenen Schott.

In seiner linken Hand formte sich aus leuchtendem Staub, so schien es, ein weißer Rundschild mit Goldverzierung, vielleicht einen Meter im Durchmesser. Um ihn herum breitete sich eine Art wabenförmiges Hologramm aus, das seine Fläche deutlich vergrößerte. Mit diesem improvisierten Rammbock löste der Engel das Problem des verschlossenen Schotts.

Er brach einfach durch die Betondecke und arbeitete sich bis zum Dach vor, zerbrach auf dem Weg mehrere Schreibtische, einen Getränkeautomaten und ein Forschungslabor und startete vom Dach aus schließlich fast im rechten Winkel Richtung Südosten.

Ein lautes Krachen ließ in mehreren hundert Metern Fensterscheiben erzittern, als der Cyborg die Schallmauer durchbrach und weiter beschleunigte.


Tapp … Tapp … Tapp … Tapp …

Wenn diese Schritte ertönten, hieß es, dass es ein neues Opfer geben würde. Und mit jedem Opfer würde es wahrscheinlicher werden, dass es Richard traf.

Es war nervenzerreißend, nicht nur für ihn, sondern auch für die anderen im Raum. Inzwischen versuchten sie alle so still wie möglich zu sein, was sogar beinhaltete, so wenig wie möglich zu atmen.

Dann verstummten die Schritte plötzlich.

Quälende Stille legte sich über den Sektor, nur unterbrochen vom immerwährenden Lärm der Alarmsirene.

Mehrere Minuten lang passierte nichts, bis sich Richard schließlich entschloss, mit der Geschwindigkeit einer arthritischen Schildkröte zum Fenster zu schleichen und durch die Spalte zwischen Rollladen und Fensterahmen nach draußen zu spähen.

Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, der Hand auszuweichen, die nach ihm griff, ohne sich durch das Glas aufhalten zu lassen.

SCP-171-DE schloss sie stattdessen um den Fensterrahmen und zog ihn aus der Verankerung, um in den Raum zu gelangen.

Die anderen Anwesenden begannen vor Grauen zu schreien, während das Wesen, man konnte es nicht anders nennen, den Raum betrat.

Seine von Blut getränkte Gefangenenkleidung war zerrissen um den Bauch komplett freizulegen. Dieser war zwar komplett heil, aber nur weil SCP-171-DE die Bauchdecke, durch die es Organe aufnahm, ersetzte, damit die Nähte nicht aufplatzten, während es sich bewegte.

Richard dachte gar nicht daran, dieses Ding bekämpfen zu wollen, das mit stoischer Miene auf ihn zulief. Er warf sich stattdessen durch den Ausgang.

Die Reinigungskräfte und der Forscher schienen sich jetzt endlich zu erinnern, dass sie die Türen extra nicht verbarrikadiert hatten, damit sie schneller fliehen konnten, denn keine Barrikade wäre genug für diese Frau gewesen. Sie flohen ebenfalls durch andere Ausgänge. SCP-171-DE schaute ihnen genervt nach.

Und nahm Richard wieder ins Visier.

Der hatte bereits einige Meter zwischen sich und diese Neuauflage von Frankensteins Monster gebracht, aber die nützten ihm nicht viel. Wie bereits erwähnt konnte SCP-171-DE mehr Kraft als ein normaler Mensch ausüben. Das übersetzte sich durch sein trotzdem normales Körpergewicht in eine höhere Geschwindigkeit, wenn es rannte …


Standort-DE17 war in ein Bergmassiv gebaut und über Tunnel zugänglich. Trotz der dadurch erschwerten Geheimhaltung gab es auf und an den Bergen getarnte Luftabwehreinrichtungen. Kanonen und Raketenwerfer sah man keine, die wurden nur im Verteidigungsfall aus versteckten Luken ausgefahren.

Agent Mörser, eine diensthabende Wache, schaute gelangweilt auf das Radar in seinem Kabuff. Es war als Winterdepot getarnt, Einrichtungen die zur Lagerung von Dingen benutzt wurden, die man brauchte, wenn Eis und Schnee Schwierigkeiten machten.

Nichts, wie immer. Nur bereits angekündigte Passagierflugzeuge und in der Nähe fand eine Übung mit zwei Kampfjets statt.

Die anderen Wachen, außer vielleicht seinen zwei Kollegen, die hinter ihm andere Dinge überwachten, hatten etwas spannendere Arbeiten. Unten in den Eindämmungsräumen war offenbar gerade eine für ihre notorischen Ausbrüche bekannte Anomalie ausgebüxt. Die Wachmannschaften hatten allerdings im Moment Probleme den abgeriegelten Sektor zu erreichen, weil die Schotts, die sie hatten öffnen wollen von der Anomalie so stark demoliert worden waren, dass sie einen gewaltigen Umweg machen mussten.

Cleveres Biest …

Mörser schaute wieder auf sein Radar.

Und stutzte.

Von Nordnordwest näherte sich ein extrem kleines Flugobjekt.

Und es näherte sich schnell.

Es musste bereits in Sichtweite sein. Er nahm ein Fernglas und schaute aus dem Fenster.

Tatsächlich war da ein winziger Punkt am bewölkten Himmel zu sehen, der genau auf Standort-DE17 zuhielt.

Er war leicht zu entdecken, nicht etwa, weil er blinkte oder eine auffällige Farbe hatte.

Er bewegte sich nur mit solcher Geschwindigkeit, dass die entstehende Druckwelle die Wolken beiseiteschob. In dem Grau des Himmels entstand eine blaue Schneise, als würde sie mit einem unsichtbaren Messer zerschnitten.

Mörser hastete zu seinem Pult zurück und griff zum Telefon, um seine Vorgesetzten zu warnen.

"Hier Fleischhauer, was gibt’s, Außenposten 6?", fragte eine Stimme leicht genervt.

Fleischhauer musste einen Teil der Evakuierung beaufsichtigen, daher kam das vermutlich ziemlich ungelegen. Aber das Ding, das da auf sie zuraste, scherte sich vermutlich nicht darum.

"Äh, melde gehorsamst, ich habe da ein winziges, unbekanntes Flugobjekt auf meinem Schirm, es hält genau auf unseren Standort zu. Es bewegt sich mit mindestens Mach 20!"

"Wie bitte?", kam es aus dem Hörer. "Mach 20? Was ist das für ein Ding? Ist es ein Marschflugkörper?"

"Wenn ja, dann ist er kleiner als alle Modelle, die ich kenne, das Objekt ist zu winzig um es direkt identifizieren zu können. Vielleicht mannsgroß."

Er merkte wie hinter ihm seine Kollegen ebenfalls aus dem Fenster sahen.

Er tat dasselbe. Das Flugobjekt hatte seine Flugbahn geändert und zog einen Strudel aus Wolken hinter sich her, während es sich auf direktem Kollisionskurs mit dem Bergmassiv befand.

"Sie sollten lieber vom Nordsektor verschwinden, das Ding hat gerade seinen Kurs geändert und kommt runter!"

"Ach du Scheiße!"

Es wurde aufgelegt. Gebannt starrte Mörser auf das Objekt und wartete auf einen großen Knall.

Bodenkontakt wurde hergestellt.

Der Knall blieb aus.


"Shit! Shit! SHIIIT!"

Richard wusste nicht so direkt wie er es schaffte, zu überleben. Er hatte sich ein Beispiel an der Gazelle genommen und schlug Haken wann immer es ihm möglich war. SCP-171-DE mochte zwar wesentlich schneller sein als er, brauchte dafür auch länger um die Richtung zu wechseln oder gar zu bremsen. Dadurch konnte Richard immer wieder Vorsprung aufbauen.

Das Ganze wäre ja ganz lustig gewesen, wäre es nicht A: um Leben und Tod gegangen und B: ohne irgendeine Form von Ziel gewesen.

Richard konnte das Unvermeidliche nur hinauszögern, denn es gab hier nirgendwo Waffen. Er hatte es zwar zweimal geschafft, das Monster in Wände krachen zu lassen, aber es verfügte leider über einen menschlichen Verstand, was hieß, dass es lernte.

Und plante …

SCP-171-DE blieb urplötzlich neben einem Feuerlöscher stehen, riss ihn aus der Wand und warf ihn nach Richard.

Das Wurfgeschoss verfehlte zwar, traf aber die Wand an der er sich für einen Richtungswechsel hatte abstoßen wollen mit solcher Wucht, dass es in einer Wolke aus weißem Schaum explodierte.

Der MTF-Soldat wurde von mehreren rasiermesserscharfen Metallsplittern getroffen und rutschte auf dem Schaum aus.

Es setzte ihn hart auf den Hintern, aber noch während er versucht wieder hochzukommen, packte ihn die ehemalige Chirurgin am Hals und presste ihn mit unwiderstehlicher Gewalt zu Boden.

"Sie hätten nicht so eine Nervensäge sein sollen", zischte sie. "Jetzt wird mir das sogar Spaß mach-"

Sie unterbrach sich und drehte verwirrt den Kopf.

Dann hörte Richard es auch.

Es war ein lautes Dröhnen, wie von einem Presslufthammer. Es kam von oben.

Und rasend schnell näher.

SCP-171-DE sprang hastig rückwärts, als die Decke über ihr einstürzte.

Zum Vorschein kam eine weiße Tunnelbohrmaschine mit Goldverzierungen und einem Durchmesser von einem Meter.

Sie hatte zwei Griffe am hinteren Ende und an denen hing mit eng angelegten Flügeln der Engel, den Richard im Schlamm gefunden hatte.

Bevor das Grabwerkzeug, das sich noch immer mit unverminderter Geschwindigkeit drehte, ihn treffen konnte, zerfiel es zu glänzendem Staub. Der Engel dahinter machte eine halbe Rolle und setzte mit den Füßen voran auf dem Boden auf.

Er bekam es irgendwie hin, in ergeben kniender Haltung zu landen. Der Staub in der Luft verschwand unter seiner Rüstung.

"Bitte verzeihen Sie meine Abwesenheit, Meister," sagte er ohne den Kopf zu heben. "Aber meine Systeme waren zu stark beschädigt, als dass ich meine Mission mit positiven Ergebnissen hätte ausführen können. Jetzt bin ich allerdings wieder voll funktionsfähig."

Richard, wie auch SCP-171-DE starrten fast eine Minute lang verdutzt auf den Neuankömmling.

Die Organsammlerin fasste sich als erste wieder und wollte nach dem Engel greifen, um ihn zur Seite zu schleudern. Der aber erhob sich aus seiner knienden Haltung, dreht sich halb und ergriff ihre Hand. SCP-171-DE stoppte.

"Ich muss Sie darauf hinweisen, dass dies als Angriff auf meinen Meister gewertet werden kann. Bitte unterlassen sie derartige Handlungen, andernfalls bin ich durch Artikel 7 Absatz 4 Paragraph 12 des Ultima Grundgesetzbuches legitimiert, letale Gewalt gegen Sie einzusetzen und werde von diesem Recht maximalen Gebrauch machen, sollten Sie mich zwingen."

Die Frau schlug ihr mit der freien Hand ins Gesicht.

Richard hatte nicht gewusst, was er erwartet hatte. Der Engel hatte Kräfte ausgehalten, die normalerweise auf Meteore einwirkten. Es erstaunte ihn trotzdem maßlos, dass der Schlag, der die Wange traf, den Kopf des Engels nur leicht drehte, aber sonst keine Wirkung erzielte.

SCP-171-DE legte verwirrt den Kopf schräg.

"Wie Sie wünschen."

Der Engel zog die ehemalige Chirurgin zu sich heran und rammte ihr die freie Faust ins Gesicht.

Es knackte leicht und unnatürlich, als wäre ein Knochen angeknackst worden, der zu einem wesentlich größeren Lebewesen als einem Menschen gehörte. Offenbar hatte die Anomalie alle Schädelknochen, die sie hatte zusammengelegt. Das bewahrte sie allerdings nicht davor, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nach mehreren Metern schlug sie wieder auf. Ihr Kit sprang dabei auf und verteilte seinen Inhalt aus Skalpellen, Scheren, Bindfaden, und anderen chirurgischen Werkzeugen auf dem Boden.

SCP-171-DE war sofort wieder auf den Beinen. Auf ihrem Gesicht machte sich ein hässlicher blauer Fleck breit. Der Engel war herangetreten um zuzugreifen, aber dieses Mal ergriff ihn die ehemalige Chirurgin an der Hand. Mit stoischem Gesichtsausdruck nahm die Geflügelte einfach die andere Hand, doch auch die wurde festgehalten.

Dann machte sich Anstrengung auf dem Gesicht von SCP-171-DE breit, als der Engel mit ausdrucksloser Miene ihre Arme langsam auseinander und sie damit weiter in ihre Nähe zwang.

"Was bist du?", fragte die Organsammlerin ungläubig.

"Ich bin ein Wachcyborg der Grigori-Klasse, hergestellt von Elousi. Seraphim-Serie-Sondermodell Neun."

"Was?", brachte SCP-171-DE nur heraus.

Der Cyborg antwortete nicht, sondern versetzte seiner Gegnerin eine markerschütternde Kopfnuss. Die verdrehte die Augen und kippte ohnmächtig hintenüber.

Der Engel wandte sich Richard zu.

"Soll ich sie umbringen, Meister?", fragte sie, bar jeder Emotion.

Richard, der dem kurzen Kampf stumm zugesehen hatte, wachte aus seiner Starre auf.

"Wa- NEIN!", brüllte er. "Bloß nicht, das bringt dich nur in Schwierigkeiten."

In mehr als du ohnehin schon bist, fügte er in Gedanken hinzu.

"Und überhaupt, warum nennst du mich Meister?"

"Das ist meine Standardanrede für meinen Besitzer, wünschen Sie, dass ich Sie anders anrede?"

"Nun, äh- Moment? Besitzer?!"

Der Engel nickte.

"Sie kannten den Reaktivierungscode, daher bin ich in Ihren Besitz übergegangen. Ich bin nun Ihr Eigentum."

Oh Scheiße …

Das nächste Mal bei Neun:
Das Dreamteam

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