Narben

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Narben

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Ein stechender Schmerz zog durch seine Nase bis hoch in sein Gehirn. Kurz darauf folgte ein weiterer Hieb in seine Seite.

"Schwule Ratte, los, heul endlich!"

Ein Chor aus drei Jungenstimmen wiederholte die Worte "Schwule Ratte" mehrmals, während er etwas Heißes aus seiner Nase in seinen Mund und über sein Gesicht laufen fühlte. Er war sich ziemlich sicher, dass die anderen Jungs genauso wenig Bedeutung in diesen Worten fanden wie er. Aber sie sollten auch nur Schmerzen zufügen, und das konnten die drei Jungen mehr als gut. Als sie merkten, dass Johan sich nicht mehr regte und am Boden liegen blieb, folgte noch ein Tritt und ein weiterer, inhaltsleerer Spruch, dann verschwanden sie.
Er lernte schnell, wie man sie los wurde. Später, wie man ihnen gleichsam Schmerzen zufügen konnte. Er richtete sich vorsichtig auf und betastete seine empfindliche Nase. Ein Blick auf seine Finger zeigte ihm, dass sie gehörig blutete, aber seine Seite tat ihm mehr weh als die zuschwellende Nase. Ob sie gebrochen war? Sein Bruder würde es sicher wissen.
Er blickte sich um. Die Luft in dem Hinterhof der Grundschule fühlte sich … unnatürlich an. Als würde sich der Raum um ihn herum verengen und … schrumpfen. Ihm wurde schwindlig und er beobachtete seltsam abwesend, wie das Bild vor seinen Augen zur Seite kippte, als er wieder zu Boden ging. Während der Raum um ihn sich weiter verdichtete und die Luft zum Atmen nahm, wurde sein Blick langsam unklar. Aber er sah noch, wie sich ein seltsamer Spalt vor ihm auftat und, als würde die Luft wie Papier durch etwas zerrissen, plötzlich ein zweiter Raum entstand. Er sah ein Mädchen durch den Riss treten, Angst und Verwirrung in ihren Augen, die etwas hinter ihr in dem Raum fixierten. Als sie hindurch war, schloss sich der Riss sofort mit einem Geräusch wieder, was wie das verzerrte Gurgeln eines Abflusses klang. Sie blickte sich zitternd um, bis sie den Jungen am Boden sah. Dann wurde es endlich schwarz um ihn.

Als er die Augen wieder aufschlug, sah er das dunkle Blau einer Sportmatte, die unangenehm dicht an seinem Gesicht klebte. Besser gesagt, sein Gesicht wurde durch massive Muskelkraft auf die Matte gepresst. Er roch Schweiß - alten, wie auch neuen - und den markanten Geruch seiner Vorgesetzten, die ihn auf die Matte geschickt hatte. Er hatte trotz des Mundschutzes den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge und die Erinnerung an seine Kindheit, die kurz durch seinen Kopf gezuckt war, als ihm schwarz vor Augen wurde, ließ erneut Wellen der Wut durch seinen Körper wogen, nur noch übertroffen von der Tatsache, dass er wieder nicht gegen diese Technik hatte ankommen können, die Singh benutzte. Er hatte sich zum Gespött gemacht. Verdammte Scheiße. Und jetzt mischten sich auch noch Phantastereien in seine Erinnerungen. Oder was hatte er da gesehen? Er schüttelte den Gedanken ab und fauchte Singh etwas zu, damit sie ihn endlich aus dem Griff, der ihn am Boden hielt, befreite.
Er sprang auf und machte auf dem Absatz kehrt in Richtung Duschen und Umkleiden, ohne die Anwesenden oder Singh eines Blickes zu würdigen. Er hatte kein Interesse an einer Nachbesprechung oder dem Hohn der Anderen. Auch, wenn das bedeutete, dass er sich eine Rüge einhandelte. Er wollte allein sein, nachdenken - und dieser Vision nachgehen. Er war sich ziemlich sicher, dass das nicht seine Erinnerung war, wie sie stattgefunden hatte. Er wusste genau, wie er an dem Tag von seinem Bruder die Nase gerichtet bekommen, wie er die Schmerzen einfach ertragen und mit leerem Blick das Blut beobachtet hatte, das ihm vom Kinn in die Handflächen in seinem Schoß tropfte. Es war eine seiner lebhaftesten Erinnerungen, auch, wenn er sie lange nicht mehr so klar vor seinen Augen gehabt hatte wie heute. Aber da war niemals ein Mädchen in seiner Erinnerung gewesen, dessen war er sich sicher.

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Das kalte Wasser, welches ihm von den Haarspitzen tropfte und über die Schultern und die lädierten Rückenmuskeln lief, tat gut. Er stützte die Hände gegen die Wand der Einzelkabine und ließ es einfach minutenlang still auf seinen Nacken fallen. Die Umkleidebereiche waren glücklicherweise leer und er hatte sich wie immer in die abgeschirmte Kabine verzogen, in der er zumindest seine Ruhe vor den Anderen hatte, sollten diese nach dem Training hereinplatzen. Er fühlte sich seltsam; gleichzeitig erschöpft und aufgekratzt, als müsste er etwas tun, als hätte er eine Aufgabe, die es zu erfüllen gab. Aber was? Er dachte angestrengt nach und beobachtete dabei teilnahmslos die Pfütze zu seinen Füßen, die langsam in Richtung Ausguss floss und dabei die Rillen der Fliesen benetzte, sich sammelte und anfing zu schlingern, wirbeln und schließlich in dem kleinen Gitter verschwand. Er nahm das leise Geräusch von der Tür zu den Duschen und nackte Füße auf Fliesen wahr, hoffte aber, dass, wer auch immer das war, ihn einfach in Ru-

"He, Frey, alles okay mit dir? 'Bist einfach so weg und keiner weiß, was los ist."

Wolfgang. Natürlich. Er hoffte einfach, dass sich der Halbpole verziehen würde, wenn er nichts sagte, aber er wurde enttäuscht. Er wollte seinen Spott oder sein Mitleid nicht, er wollte nicht reden und erst recht nicht über … sowas.
Statt in die Gemeinschaftsduschen zu gehen, wanderte der andere Mann in die Kabine neben der von Johan und stellte dort das Wasser an. Leicht dumpf drang ein wohliges Seufzen durch die Kabinenwand, gefolgt von einer gesummten Melodie. Nach ein paar Sekunden drang durch die Spalten am oberen Rand der Dampf der heißen Dusche rüber in seine, wie Johan durch einen schnellen Seitenblick feststellte.

"Die kleine Löwin ist wieder hier oben, oder? Hab' sie im Gang gesehen vor dem Training, sie hat 'ne Hotpants an, ganz schö-"

"Nenn sie nicht so."

Johan spürte, wie sich sein Kiefer anspannte, seine Hand sich langsam zu einer Faust formte, die sich gegen die Fliesen der Wand presste, als könnte diese jeden Moment zum Gegner werden. Neben sich hörte er, wie der andere zufrieden in sich hineinlachte ob der Reaktion des anderen. Reine Provokation.

"Warum bist du eigentlich immer so … besitzergreifend wenn's um die Kleine geht? Ich meine, so, wie die dich ansieht, interessiert die sich eh für keinen anderen. Aber wahrscheinlich ist das im Bett genau andersrum, nicht wahr?"

Nur mühsam beherrschte sich Johan, nicht die Kabinentür aufzureißen, das bärtige Großmaul zu packen und ihm sehr deutlich zu zeigen, dass es ihn absolut einen Dreck anging, was er und Loewen taten. Oder nicht taten. Es hatte ihn nichts anzugehen. Basta.
Johan versuchte, den anderen Mann komplett auszublenden, während er ungetaner Dinge die Dusche abstellte, sein Handtuch schnappte und die Kabine verließ, bevor Wolfgang fertig werden konnte. Johan spürte, wie unfassbar gereizt er war und er war sich sicher, dass er einen weiteren provokativen Seitenhieb nicht mehr ignorieren würde können. Aber wollte er das denn? Vielleicht war es besser, wenn Wolfgang endlich seine Grenzen kennenlernte. Johan blieb nach ein paar Schritten stehen und blickte zurück zu den Kabinen. Ihm seine Grenzen zeigen … Johan fand diesen neuen, für ihn ungewöhnlichen Gedanken gar nicht so abwegig. Fast schon gemächlich schlenderte er zurück und blieb zwei Schritte vor der Kabinentür Wolfgangs stehen. Johan dachte nicht wirklich darüber nach, was er jetzt machte oder was er überhaupt sagen würde. Er dachte auch nicht darüber nach, als Wolfgang das Wasser abdrehte und scheinbar blind nach seinem Handtuch tastete, was eine gefühlte Ewigkeit dauerte. Als dieser jedoch endlich die Tür öffnete, stutzte und instinktiv wieder einen Schritt zurückwich, als er Johan dort stehen sah, fühlte er sich etwas befriedigt. Er meinte, Unsicherheit und einen kurz über das bärtige Gesicht huschenden Ausdruck von Erschrecken erhascht zu haben und es ließ ihn sich überlegen fühlen. Der kleinere Mann entschied sich für ein halbes Lächeln und trat nun doch aus der Kabine, sein Gegenüber mit schief gelegtem Kopf musternd.

"Johan, also - hast du gerade wirklich darauf gewartet, dass ich wieder - also, ich meine … Ich wollte eigentlich nicht physisch werden, weißt du, aber ich muss schon sagen, dass ich die kleine Löwin verstehe, da ist schon echt eine Menge dran."

Wolfgang hatte zwar die Falle erkannt, war aber dennoch regelrecht mit beiden Beinen hineingesprungen und der blonde Soldat merkte gar nicht, wie seine Faust sich den Weg in das Gesicht des Bärtigen suchte, auf den Nasenknorpel traf und daran leicht abrutschte, nicht ohne ein knirschendes Geräusch zu verursachen, welches definitiv unangenehme Folgen haben würde. Reflexartig griff Johan mit der Linken nach dem anderen Mann, hielt ihn an seiner Schulter fest und sorgte so dafür, dass dieser zumindest nicht durch die Wucht und die Überraschung nach hinten auf die Fliesen fiel. Etwas Nasenbluten und eine dicke Nase waren definitiv noch ertragbar, eine Platzwunde würde Wolfgang für ein paar Tage aus dem Dienst nehmen.

"Ah, kurwa! Pojebało Cię, frajerze1?!"

Johan verstand kein Wort, aber die Bedeutung des gestöhnten Fluchs war mehr als deutlich und ließ ihn direkt überlegen, wohin der zweite Schlag gehen könnte, allerdings riss er sich zusammen und kräuselte nur genervt die Lippe, während er Wolfgang sein Handtuch für die Nase reichte, die begann, rote Flüssigkeit über den Bart zu verteilen. Wolfgang nahm das Handtuch dankend entgegen und presste es vorsichtig unter die Nase, einen Arm stützend an den des Blonden gelehnt. Es entstand eine Pause, in der beide kein Wort wechselten, und Johan schweigend beobachtete, wie Wolfgang sich stöhnend um seine Nase kümmerte.

"Mann bin ich froh, dass du mich leiden kannst, sonst würde ich schon längst aussehen wie du."

Er schielte unterdrückt lachend hoch zu Johans Nase mit der markanten Narbe und sah bei der Gelegenheit auch testend nach, ob er das Falsche gesagt hatte, doch Johan, welchem der Blick nicht entgangen war, fühlte sich halbwegs entspannt. Der Blonde seufzte und schob den anderen langsam in die Richtung der gut beleuchteten, mit grauen, mannshohen Spinds ausgestatteten Umkleiden, in der sie sich auf eine der absolut unbequemen Holzbänke mit zu großen Spalten zwischen den Brettern setzten. Wolfgang ließ sich stöhnend nieder und murmelte eine Entschuldigung, die Johan schweigend akzeptierte. Natürlich ließ Wolfgang keine Stille entstehen, sondern fing an, über das Training zu brabbeln, betonend, dass er es mit Singh nicht so könnte wie Johan; er würde sich da viel zu sehr zurückhalten und außerdem war sie ja auch irgendwie heiß. Allerdings merkte der Bärtige auch an, dass Johan heute anders drauf war als sonst und dass die anderen das auch gemerkt hatten. Johan stützte seine Arme auf die nackten Beine und bettete das Kinn in seine Hand, dann sprach er endlich leise, aber eindringlich: "Ich habe etwas gesehen. Etwas, was nicht da sein sollte."
Wolfgang war sich scheinbar bewusst, dass Johan nicht darüber reden würde, vor allem nicht mit ihm, wenn es ihm nicht absolut ernst wäre. Er senkte das blutige Handtuch von seinem Gesicht und drehte sich leicht zu dem Blonden. Er zögerte einen Moment, wie um Johan die Zeit zu geben, weiterzusprechen, wurde aber enttäuscht.

"Hmm. Ich nehme mal an, mit Sand hat das nichts zu tun, eh?"

Johan schüttelte den Kopf und stand dann auf, um seine Sachen aus dem nahen Spind zu nehmen. Er überlegte, was er sagen sollte, oder ob er es überhaupt Wolfgang erzählen sollte. Was, wenn es wirklich nur eine Art Traum war? Allerdings hatte er das Gefühl, dass da mehr hintersteckte. Viel mehr. Wann hat dich dein Instinkt je im Stich gelassen? Zu dem Anderen gewandt sagte er nur: "Ich bin den Rest des Tages weg, muss was überprüfen."
Wolfgang zuckte mit den Schultern, nickte aber gleichzeitig. Er nuschelte ein "Verstanden" und tat es Johan dann gleich. Das Handtuch flog in einen nahen Mülleimer; keiner der beiden würde ein Wort darüber an die Vorgesetzten oder Hirndoktoren des Standortes verlieren. Still, bis auf Wolfgang, der wieder eine Melodie summte, zogen sich beide an und verließen wortlos die Umkleiden in den weiten, fensterlosen Gang, wo sich beide mit einem knappen Nicken voneinander verabschiedeten. Während der kleinere Mann in die Richtung des Blockes mit den Privaträumen abzog, hatte Johan einen Entschluss gepackt: Es musste etwas über dieses Mädchen geben, was er herausfinden konnte. Oder jemand anderes für ihn … Nach kurzem Zögern und Grübeln stapfte er in die Richtung der technischen Abteilung.

⸰ ⸰ ⸰

"Jens, ich habe noch etwas gut bei dir."

Mit vor Schreck geweiteten Augen drehte sich der dürre Hornbrillenträger zu ihm um und riss dabei nahezu seine Kaffeetasse mit dem Alienkopf drauf um. "J-Johan! Ich- … Schön, dass du vorbeikommst! Ich meine … Schonwieder." Seine Lippe zuckte leicht, es war nicht zu übersehen, wie unangenehm ihm das Auftauchen des anderen Mannes in seinem absolut unordentlichen Büro war. Oder überhaupt seine Präsenz. Johan lehnte noch einen Moment an dem Türrahmen, dann trat er ein und stellte sich direkt neben dem Techie an dessen Schreibtisch, die Hüfte angelehnt. Er schob ihm unauffällig einen Zettel mit der behandschuhten Hand zu, auf dem zwei Zeilen in sehr kleiner, aber ordentlicher Handschrift standen.

Videomaterial von PoI-3517
Privatrechner

Der andere Mann schien nicht auf den Zettel sehen zu wollen und lächelte Johans Bauch dümmlich an. Als er immer noch nicht reagierte, griff Johan nach dessen Hinterkopf und drückte seine Nase förmlich auf das Blatt. Ihm entglitt ein gereiztes Schnauben und er flüsterte fast nicht merklich: "Du weißt, was dir blüht, Nerd." Seine Hand im Nacken des anderen konnte dessen Zittern sogar durch den Handschuh spüren. Ob es zu viel war? Bevor ihm Zweifel kommen konnten, blitze vor seinem inneren Auge wieder das belastende Material auf, was er auf dem Privatrechner des dürren Mannes gefunden hatte, und seine Lippe kräuselte sich kurz angewidert.
Ein bemitleidenswertes Wimmern unter seinem Handschuh ließ ihn wissen, dass der Andere verstanden hatte und Johan ließ seine Hand wieder sinken. Jens setzte sich wieder gerade in seinen Stuhl, rückte die dicke Brille zurecht und mied jeden Augenkontakt.

"Was willst du und wie viel Zeit darf es kosten?"

"Drei Tage max'. Gib mir alles zu einer Anomalie, die als kleines Mädchen im Kopf einer Person herumspukt."

Johan war sich der Tatsache bewusst, dass das eng berechnet war, aber sollte Jens nichts finden, wusste er zumindest, in welche Richtung er nicht mehr zu suchen brauchte - und dass seine Kondition derzeit andere Gründe hatte. Er blieb unterkühlt-ruhig, als er sich von dem Schreibtisch wegbewegte und langsam das Büro verließ, als hätte er einfach einen Kollegen in der Mittagspause besucht. Hinter sich hörte er beim Rausgehen noch, wie Jens scharf die Luft zwischen den Zähnen hervorstieß, die er wohl angehalten hatte, in Erwartung von mehr Problemen mit dem Elitesoldaten.
Johan war sich über seinen Ruf bei Jens und seinen Kollegen sehr wohl bewusst - und für Fälle wie diesen war er sich nicht zu schade, diesen für seine Zwecke einzusetzen. Jens hatte sich selbst in die Scheiße geritten - wäre ja eine Schande, wenn das rauskäme und er versetzt würde. Oder Schlimmeres, dreckiger Nerd. Es war nicht das erste Mal, dass er in den eigenen Reihen Untersuchungen angestellt hatte. Allerdings vermied er es, zu oft hinter seinen Kollegen herzuspionieren, wenn es ihm nicht aufgetragen wurde. Solche Spezialeinsätze waren ihm mit die Liebsten und er wollte es sich mit den Vorgesetzten zumindest in dem Punkt niemals verscherzen. Für alle Fälle hatte er dennoch drei kleine Sticks mit belastendem Material in einem gut gesicherten Schließfach liegen. Für Fälle wie diesen hier.

⸰ ⸰ ⸰

Schon seit zwanzig Minuten hatte Loewen diese beschissenen Teile auf den Ohren und hüpfte durch die Wohnung. Die ersten zehn Minuten hatte Johan damit verbracht, den Bildschirm seines Laptops vor sich anzustarren und versucht sie zu ignorieren, dann spürte er, wie ihre tänzelnden Bewegungen in seinem Augenwinkel ihn nervös werden ließen und sein Kiefer spannte sich an, Zahn knirschte über Zahn, bis er schließlich aufstand und sich hinter sie stellte. Sie schien den Mann hinter sich nicht zu bemerken und ihre zarten kleinen Hände fingen nun auch noch an, im Takt einer bescheuerten Melodie zu schnipsen.

"Loewen. Ich muss mich konzentrieren."

Sie nahm ihn nicht wahr und tänzelte ein paar Schritte weiter zur Küchenzeile, um sich einen Kaffee einzugießen. Sein Blick streifte ihre nackten Beine, die unter dem zu langen, viel zu viel entblößenden schwarzen Shirt herausstachen und ihm erneut Hitze durch den Körper jagten. Etwas pochte an seiner Stirn und seine Hände spannten sich an.

"Loewen, hör mir zu!"

Seine Stimme wurde tiefer und drohender, er spürte das dunkle Geräusch tief in seinen Stimmbändern vibrieren. Sie hatte derweil die Tasse zu ihren Lippen geführt und schien noch immer komplett in dem Gedudel aufzugehen. Wie zum verfickten Geier soll ich so meine Arbeit machen?! Sein Nacken fühlte sich verkrampft an und sein Kiefer begann zu schmerzen. Es reicht. Sie konnte ihn nicht so stehen lassen; nicht so behandeln.
Seine Hand schnellte vor und entriss ihr mit einer gezielten Bewegung den Kaffeebecher. Während er diesen auf den Tresen stellte, packte die andere ihren Arm und riss sie herum, bis sie ihn ansehen musste. Ihr entwich ein erschrockener Ton und ihre vor Schreck geweiteten Augen blickten zu ihm hoch, bis sie der Schmerz in ihrem Arm erreichte. Sie wand sich leicht, aber wie immer war er stärker. Er bewegte sie beide zur Wand und presste ihren kleinen Körper in einer perfekt eintrainierten Bewegung gegen die Kacheln. Während sie noch verarbeitet, was gerade geschah, riss er die Kopfhörer von ihrem Kopf und klemmte Sarah zwischen sich und der Wand ein, sein Gesicht nur Millimeter von ihrem entfernt.

"VERDAMMTNOCHMAL hör mir endlich zu!" Er schrie nicht, tat er nie. Er knurrte. Presste die Worte zwischen den Zähnen hervor, als koste es ihn seine gesamte körperliche Anstrengung. Tatsächlich kämpfte alles in ihm dagegen an, weiterzumachen. Ihr Blick sprach Panik, aber sie beruhigte sich schnell wieder. Trotzig hob sie ihr Kinn und Johan sah, wie sehr sie gegen ihre eigenen Gefühle ankämpfte, wie die Muskeln in ihrem Gesicht arbeiteten, bis sie mit betonter Ruhe in seine Augen sah und nach einem tiefen Atemzug sagte: "Johan, ich bin nicht dein Feind."
Johans Blick fixierte ihre Augen; Sekunden vergingen, in denen ihre Worte in seinem Kopf kreisten. Zäh drängten sie sich durch seine eigenen Emotionen und Gedanken. Sie war nicht sein Feind. Natürlich nicht, warum sollte sie? Was lässt sie den- Er realisierte, wie stark seine Hand ihren Arm gepackt hielt, wie er sie eingeklemmt und fast jede Luft zum Atmen genommen hatte, dass er dieselben Fehler gemacht hatte wie jedes Mal. Heißkalt schoss die Scham durch seinen Rücken, ließ ihn fast würgen durch die plötzliche Heftigkeit. Er hechtete zurück und prallte mit seiner Hüfte hart gegen die Theke. Seine Hand suchte Halt an der Kante, während er langsam mit dem Rücken an dem beklebten Holz zu Boden sackte.

"Fuck."

Er sah die nackten Beine und Füße von Loewen vor sich, wagte es aber nicht, zu ihr hochzusehen. Er hatte sie schon wieder verletzt. Er hätte ihr den Arm brechen können - nein, er wollte es sogar. Seine Gedanken liefen mit seinem Herzschlag um die Wette, während um ihn herum die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Dann fühlte er etwas Warmes tastend nach seinem Arm greifen; ganz vorsichtig, beruhigend, strich eine zierliche Hand über seine Haut. Loewen hatte sich behutsam, um ihn nicht wieder aufzuschrecken, vor ihn gehockt und sah ihn jetzt aus traurigen, aber liebevollen Augen an. Der blonde Mann sah ihr nur kurz in die Augen, bevor er den Blick sofort wieder irgendwo in den Bereich zwischen ihren Schultern und der Kinnpartie senkte und nicht wagte, ihn zu heben. Er hatte geschworen, sie nicht mehr zu verletzen, was war bloß in ihn gefahren? Sie verdiente das nicht; sie verdiente es, besser behandelt zu werden, jemanden zu haben, der sie beschützte und nicht dafür sorgte, dass sie erst recht in Gefahr schwebte. Sie hockte weiter vor ihm und bewegte sachte die Hand über seinen Unterarm, während er die Luft vor ihr mit den Augen zerstach. Sie schien darauf zu warten, dass er sich beruhigte und etwas sagte, aber kein Ton kam über seine zusammengepressten Lippen. Nach ein paar Minuten der Stille setzte sie sich aus der Hocke auf, wahrscheinlich taten ihr die Beine von der angestrengten Position weh, und sie erhob sich. Wieder hatte er ihre Beine vor sich, die viel zu zerbrechlich wirkten.

"Du musst mir nichts sagen, das weißt du. Aber etwas stimmt mit dir nicht und ich habe Angst um dich."

Er nickte zögerlich, sah aber nicht hoch, während er mit einem viel zu trockenen Mund antwortete: "Es ist seit gestern Abend so." Sie fragte nicht nach, was genau seit gestern Abend wie war, aber da sie häufig nicht mehr an Informationen aus ihm rausbekam, beließ sie es dabei. Dennoch fügte sie hinzu, dass er sich checken lassen sollte, da er gestresst wirkte und sie das Gefühl hatte, dass es nicht mit der Arbeit an sich zu tun hatte. Er nickte erneut und richtete sich selbst zögerlich auf, während sein Kopf sich langsam wieder klarer anfühlte. Bevor Johan jedoch einen Schritt tun konnte, griffen die zarten Hände nach seinen und zogen sie beherzt um ihre Körpermitte. Er blickte an sich herab auf den dunkelblonden, nach Mandeln riechenden Schopf Loewens, der an seiner Brust lag. Durch den Stoff seiner legeren Kleidung spürte er ihre Wärme, merkte aber auch, dass ihr Tränen über die Wangen liefen und sich in seiner Kleidung als dunkler Fleck abzeichneten. Er fühlte einen Stich in seiner Brust bei dem Anblick und sein Rücken versteifte sich wieder.

Monster.

Er weigerte sich, den Gedanken zuzulassen und legte schützend beide Arme um sie. Es war fast paradox, sie beschützen zu wollen, war er doch derjenige, der ihr den größten Schaden zufügte.

⸰ ⸰ ⸰

Am folgenden Morgen und nach seltsamen Träumen voller Kinderlachen, nackten Füßen und Szenen in Wäldern, die er nicht kannte, nahm sich Johan die Worte seiner Löwin zu Herzen. Zwar hätte er auch so seine Vitalparameter regelmäßig aufgeschrieben, um diese dem medizinischen Personal zu überreichen, aber sie hatte recht, etwas stimmte nicht und er musste herausfinden, was genau das war. Erst Visionen und jetzt spielte seine Körperchemie verrückt? Ein Zufall war möglich, aber unwahrscheinlich. Er stand leise auf, um die schlafende Loewen nicht zu wecken und begab sich fast geräuschlos in das winzige Badezimmer. Das Licht des Sonnenaufgangs drang durch die Rillen des Rollos in den Raum und malte Streifen an die Wände, die unter dem Fenster stehende Badewanne und den Boden. Direkt im vorderen Bereich hing ein Spiegel über einem kleinen Waschbecken mit Regalen daneben, gegenüber davon stand bereits die Toilette. Es gab kaum Platz, um sich frei zu bewegen. Sein Spiegelbild blickte ihm mit ausdruckslos- bis grimmiger Mine entgegen und er rümpfte kurz die Nase, als er die blauen Flecken an seiner Seite bemerkte, die vom Bund der Schlafanzughose bis hoch zu seinen Schulterblättern reichten. Verdammte Singh. Nächstes Mal würde er besser reagieren; sie nicht die Oberhand gewinnen lassen.
Er schüttelte den Gedanken ab und griff in das kleine Regal rechts von ihm. Neben den üblichen Badezimmer-Utensilien lag dort ein kleines Heft mit vorgedruckten Seiten für die Standard-Vitalwerte, die man nehmen konnte. Eine Smartwatch wäre wahrscheinlich praktischer, aber die Gefahr, Daten an Unbefugte zu übertragen, war auch höher. Also musste er wohl oder übel auf die herkömmlichen Methoden zurückgreifen. Er notierte das Datum und begann damit, seinen Puls mit zwei Fingern zu messen: 78 bpm, nichts Ungewöhnliches. Ebenso seine Atemfrequenz, keine Abweichungen feststellbar. Er griff erneut in das Regal und nahm das kleine Gerät heraus, welches an ein Blutzuckermessgerät mit Stechhilfe erinnerte und platzierte seinen Daumen auf der Spitze, danach ließ er das Gerät den kleinen Tropfen Blut auf dem Streifen kontrollieren. Das eigens von der Foundation für Soldaten entwickelte Gerät spuckte danach nicht nur den Blutzuckerwert aus (66 mg/dL in seinem Fall), sondern direkt ein kleines Blutbild mit Gerinnungswerten, Hämoglobin und sogar der Leukozytenzahl. Ihm wurde beim ersten Mal genau erklärt, dass gerade Letzteres ein Frühwarnzeichen für die Foundation-Mediziner war, um Soldaten regelmäßig zu kontrollieren und auch Stressfaktoren schnell zu erkennen. Ein Piepsen des Gerätes ließ ihn wissen, dass sein Stresslevel zu hoch war und seine Blutalkoholkonzentration bei 0,12 lag, ein weiteres Piepsgeräusch zeigte ihm an, dass seine Daten brav gespeichert wurden. Ein Zischen entwich ihm, bevor seine Kiefer zu mahlen begannen. Er hatte doch gestern Abend gar nicht …? Grimmig starrte er auf die kleine Anzeige und seine Hand spannte sich an, was dem Plastik des Gerätes ein angestrengtes Knirschen entlockte. Er knallte es auf die Kante des Waschbeckens und starrte wieder den Anderen im Spiegel an. Kalte, stahlblaue Augen blickten zurück.
Das würde wieder ein beschissenes Gespräch mit Dr. Von-Und-Zu-Arschloch bedeuten - aber allemal besser, als in das verdammte Schlaflabor zu gehen oder für mehrere Wochen aus dem aktiven Dienst genommen zu werden. Das wollte Johan tunlichst vermeiden. Was, wenn es aber doch etwas anderes ist? Was, wenn du Vollidiot doch endlich in eine memetische Falle getappt bist? Du langsam abdrehst? Und wenn du Loewen verletzt - oder Schlimmeres?
Johan atmete tief durch und schluckte die aufkeimende Wut geräuschvoll herunter. Das half nichts. Diese Gedanken brachten ihn nicht vorwärts.
Er griff ein letztes Mal in das Regal und holte ein elastisches, breites Band mit einem weiteren kleinen Kasten dran hervor. Er legte das Band um seinen unteren Brustbereich und zog es fest, damit es nicht verrutschen würde. Danach schaltete er das Gerät ein und trat vom Spiegel zurück. Das Rechteck saß seitlich unter seinem rechten Brustmuskel und war angenehm unauffällig. Da scheinbar sein Stresslevel zu hoch war, war es vielleicht keine schlechte Idee, genau das über längere Zeit kontrollieren zu lassen. Das Teil würde seinen Schlafrhythmus und seinen Stress überwachen und gegebenenfalls einen Alarm aussenden, wenn etwas nicht stimmte. Sollte sein Zustand mit Stress in Verbindung stehen, könnte er vielleicht rechtzeitig reagieren, bevor er doch noch …

"Johan? Du bist ganz schön früh auf, ist alles in Ordnung? Musst du zu einem Einsatz?"

Sein Kopf ruckte herum in Richtung Tür, als er Loewens klare, aber leicht verschlafene Stimme durch das Holz hörte. Er murmelte etwas Unverständliches und sie schien sich damit abzufinden, denn das Geräusch ihrer nackten Füße auf den Fliesen entfernte sich wieder. Wahrscheinlich ging sie zurück ins Bett; ihre Schicht fing heute später an.
Kurz überlegte der blonde Mann, ob er ihr nicht folgen sollte, um sich zu ihr in das noch warme Bett zu legen, ihren spärlich bekleideten, warmen Körper an seinem zu fühlen. Ein wohliges Ziehen in seiner Lendengegend sprach sich definitiv dafür aus. Sein Tagesplan sah jedoch anders aus und so öffnete er den Wasserhahn und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, zog seine Sportkleidung an und verließ Bad und Wohnung, um Strecke zu machen.

⸰ ⸰ ⸰

Verausgabt, mürrisch und hungrig hatte Johan sich nach einer ganzen Weile wieder in der Wohnung eingefunden. Loewen war nicht auffindbar, sie hatte sich wohl zum Standort aufgemacht, um ihrer Arbeit nachzugehen. Auf dem niedrigen Couchtisch der Wohnung hatte sie jedoch einen Teller mit einem Brötchen und einen Becher für ihn hinterlassen. Als er sich setzte und das Brötchen mit seinen Blicken aufspießte, überlegte er, ob es nicht sinnvoll wäre, mit jemandem, dem er vertrauen konnte, zu sprechen. Mit Alessandro, zum Beispiel. Der Italiener wusste irgendwie immer Rat und zumindest zeigte er es nicht, wenn er Johan für seine Art verurteilen sollte. Er schrieb ein paar Zeichen an den Italiener und zerbrach dann das Brötchen mit den Händen, um es stückchenweise zu verzehren. Es dauerte überraschenderweise nur ein paar Momente, dann meldete sich sein Smartphone mit einer Nachricht von Ale wieder:

hey, geisterjäger, what can i do for you today? hugs or punches?

Johan verkniff sich einen bissigen Kommentar - seit der Italiener das Wort gelernt hatte, ließ er sich wirklich keinen Moment entgehen, Johan so zu nennen - und tippte zwischen zwei Bissen trockenem Teigs:

I need to talk. Are you free this afternoon?

Ale fragte nicht weiter nach, sondern machte sofort einen Zeitpunkt mit Johan aus, um sich zu treffen. Nicht nur war er eh in Angerona zu einer Fortbildung, der andere Mann wusste sofort, dass Johan niemals um ein Gespräch bitten würde, wenn es ihm nicht absolut ernst gewesen wäre. Dafür kannte er ihn bereits gut genug.
Johan schaltete nach dem kurzen Austausch das Display aus und wollte das Gerät gerade wieder in seine Tasche schieben, als ihm für den Bruchteil einer Sekunde in der schwarzen Scheibe des erloschenen Displays eine seltsame Reflexion ins Auge fiel. Sein Kopf schnellte reflexartig zu dem Teil des Raumes, in dem die Figur, die er dort gesehen hatte, hätte stehen müssen, aber in dem schummrigen Licht der Wohnung stand niemand. Er hätte schwören können, dass dort eine Person zu sehen gewesen war; klar brannte das Bild in seinem Kopf nach und er konnte sich auf seine Sinne sonst jederzeit verlassen. Als nach weiteren zehn Sekunden nichts zu sehen war, machte er sich eine geistige Notiz, das später ebenfalls zu melden, wenn er seine Messdaten abgab. Ob sich eine Tabelle mit Zeiten und Auffälligkeiten lohnen würde? Er holte das Gerät wieder hervor, das er eben noch verstauen wollte, und bemerkte eine Nachricht von Jens. Er wollte ihn dringend sprechen - das ging ja mal erstaunlich schnell, bemerkte der Soldat. Ein Blick auf die Zeitanzeige sagte ihm, dass er noch gut zwei Stunden hatte, bis er sich mit Ale treffen würde. Entsprechend nahm er eine sehr schnelle Dusche in dem winzigen Bad, zog seine ordentlich bereitgelegte Uniform an, packte alle wichtigen Sachen, die er benötigte, ein und machte sich wieder auf den Weg zum Standort. Es war nicht weit und dennoch hatte er schon beim ersten Schritt aus der Tür das Gefühl, beobachtet zu werden. Er konnte absolut nichts feststellen, was dieses Gefühl verursachen könnte; keine Person war auf der Straße, alle Fenster waren einsehbar und leer, kein Fahrzeug, kein komischer Geruch, gar nichts. Dennoch war das Gefühl fast greifbar, als er sich umdrehte, um die Tür abzusperren. Er bemerkte, dass seine behandschuhten Hände leicht zitterten und der Schlüssel rutschte ihm mehrmals ab, als er mit immer zornigerer Miene ein ums andere Mal wieder ansetzen musste. Als der Schlüssel schließlich gerade in die Kammer glitt, tauchte in seinem Augenwinkel ein Schatten auf. Aber … das konnte nicht sein. Die Sonne stand auf der anderen Seite und er hatte absolut keinen Menschen gesehen noch diese Person näherkommen gehört; da konnte niemand sein! Der blonde Elitesoldat hatte die Luft angehalten und merkte, wie seine Augen sich leicht weiteten, während seine gesamte Aufmerksamkeit dem Schatten galt, der jemandem schräg hinter ihm gehören musste. Er war kleiner, leicht unförmig, aber deutlich waren die langen Haare zu erkennen. Johans Instinkte übernahmen und während er mit der einen, nun erstaunlich ruhigen Hand den Schlüssel unauffällig im Schloss drehte, bewegte sich die andere sehr langsam zu seiner Dienstwaffe, die HK P30, die ihn als Exekutivbediensteten tarnte, solange er nicht im direkten Einsatz war. Gerade, als er die Sicherung seines Holsters löste, meldete sich ein Geräusch an seiner Brust, piepsend und eindringlich. Er schrak aus seiner Anspannung hoch und riss den Oberkörper herum, um den vermeintlichen Angreifer von sich zu stoßen, jedoch war da niemand. Sein Blick suchte den Weg und die Straße ab, aber es gab keinen Hinweis darauf, dass dort in den vergangenen Minuten irgendjemand gewesen war. Das Piepsen an seiner Brust wurde mit jedem adrenalinverstärkten Herzschlag eindringlicher und so schüttelte er das Erlebte ab, atmete tief durch und griff in seine Jacke, um irgendwie das Gerät zu beruhigen und sich endlich auf den Weg zum Standort zu machen, wobei er sich vornahm, sehr genau auf seine Umgebung zu achten.

⸰ ⸰ ⸰

Er hatte das Gefühl aufkeimender Paranoia nicht ablegen können, bis er wieder im Türrahmen von dem Büro des Techies stand und sich mit der Schulter anlehnte. Dieses Mal jedoch nicht aus einem Gefühl der Überlegenheit, sondern aus Erschöpfung. Er konnte nicht leugnen, dass ihm das Erlebte Nerven und Energien geraubt hatte. Er meinte das dreckige Mädchen mittlerweile fast überall zu sehen, im Augenwinkel, in Scheiben, ja selbst in Spiegelungen der Oberfläche von Getränken. Zwar hatte er nicht mehr das Gefühl von Aggressivität verspürt, was ihn annehmen ließ, dass diese "Sichtungen" nicht direkt korrelierten, dennoch verlangte es seine gesamte Konzentration, nicht wie ein Irrer zu wirken, der Geister in Spiegeln sah. Was für ihn als Mitglied der Seher eigentlich nicht ungewöhnlich war, aber je länger er sich von Gesprächen mit Sand oder anderen Kopfdoktoren fernhalten konnte, desto besser.
Er räusperte sich hörbar, nachdem Jens scheinbar zu vertieft in seine Arbeit war, um den Anderen zu bemerken. Er klebte regelrecht mit der Nase an seinem Desktop, während er Dinge murmelte wie: "Hat sie das Passwort ernsthaft hardcoded?" Bei dem Geräusch von Johan zuckte der Nerd zusammen und sein Kopf schnellte herum, um Johan mit fast skurril geweiteten Augen und hochgezogenen Schultern anzustarren.

"Vergiss nicht zu atmen, Nerd."

Johan stieß sich mit der Hüfte von dem Türrahmen ab und schlenderte zu Jens' Schreibtisch, dieses Mal jedoch weniger darauf bedacht, kein Aufsehen zu erregen als sonst. Er beugte sich leicht runter und verschränkte die Arme vor der Brust, bevor er Jens mit dem gewohnt drohenden Unterton fragte: "Was ist es jetzt also? Scheint wichtig zu sein, was du gefunden hast." Jens, immer noch in Angststarre wie ein Kaninchen kurz vor dem Kollabieren, reagierte nicht sofort. Erst ein sehr deutliches Räuspern von Johan direkt neben ihm riss ihn aus den Gedanken und schien ihn daran zu erinnern, wie man atmete. Er blinzelte, rückte die Brille zurecht und holte ein Stück Papier aus seinem Schreibtisch-Chaos hervor, das er Johan in die nun hingehaltene Hand drückte.

"Ey, Johan, das ist echt gefährliches Zeug. Das Ding ist wie ein Parasit und springt von einem Kopf in den anderen; wenn du jemanden damit suchst, können wir beide-"

Jens schien wieder in seine Angststarre zu verfallen und der Elitesoldat beschloss, dass es vergeudete Lebensmühe war, sich weiter mit diesem auseinanderzusetzen. Er kontrollierte, ob jemand die beiden beobachten könnte und faltete dann das Stück Papier auseinander. Darauf waren Notizen von Jens zu sehen, die er wohl hastig gemacht hatte, denn nicht alles war lesbar. Deutlich konnte Johan jedoch eine kurze Beschreibung des anomalen Objektes, die Nummer und den vorherigen Träger erkennen. Peterson und Faust hatte Jens in den Datenbanken ausfindig machen können - aber Peterson hatte keine der Anzeichen gezeigt, die Johan in den letzten zwei Tagen erlebt hatte. Wobei; er erinnerte sich, dass sie nach einem längeren grippalen Infekt für eineinhalb Wochen auf eine vorher nicht angekündigte Fortbildung verschwunden war. Er hatte es da schon für sehr unwahrscheinlich gehalten und Wolfgang konnte sich die Witzeleien um einen Kurzurlaub mit einer neuen Flamme nicht sparen. Faust sah er eh zu selten, um genauer sagen zu können, ob und wann er fehlte. Der Elitesoldat schnalzte kurz anerkennend mit der Zunge, ehe er auf dem Absatz kehrt machte und das Zettelchen sicher verstaute. Was er gelesen hatte, war mehr als beunruhigend und ihm wurde bewusst, dass die Hinweise auf Suizide und Traumata deutlich zeigten, dass er handeln musste. Aber ganz sicher nicht, indem er bei Sand angekrochen kam. Sein Kopf gehörte ihm. Er verließ den Bereich der IT-Abteilung und lief grübelnd durch die Gänge, ohne einen weiteren Gedanken an Jens zu verschwenden. In den Augenwinkeln registrierte er beim Gehen immer wieder, wie dieses Gör für den Bruchteil von einem Augenblick auftauchte, aber sofort wieder verschwand, wenn er es bemerkte. Er zog die Schultern angespannt hoch und lief durch die Gänge, ohne auf die Personen zu achten, die er passierte und in einigen Fällen fast über den Haufen rannte. Zwischendurch blickte er auf das Display seines Smartphones und bemerkte, dass Ale in zwanzig Minuten in DE20 ankommen sollte. Sie hatten ausgemacht, sich in der oberen Kantine zu treffen, damit der Italiener für den Rückweg zum Posten von Angerona nicht zu lange brauchte. Nach Essen war Johan zwar nicht zumute, aber er wusste, dass die Kantine, neben den privaten Räumen, immer noch der beste Ort für private Gespräche war, ohne aufzufallen.

Dreißig Minuten später saßen die beiden Männer mit dampfender Kantinenplörre in Pappbechern vor sich in der geschäftigen Kantine, etwas abseits, sodass Neugierige nicht direkt etwas von dem Gesprochenem mitbekommen konnten. Ale wirkte ernst und besorgt, ließ Johan jedoch Zeit, von sich aus zu sprechen, während er, die Nase rümpfend, den vermeintlichen Kaffee trank. Der Elitesoldat ließ den Blick angespannt über die anderen Personen in der Kantine wandern, blendete dabei bewusst das Mädchen aus, das überall und zugleich nirgends zu sein schien. Er hatte die Hände im Schoß gefaltet und knetete unruhig seinen Daumenrücken, während er leicht vorgebeugt saß, um mit Ale zu reden, aber er brachte keinen Ton hervor. Wie immer. Was wollte er dem Italiener überhaupt sagen? Dass er Angst hatte? Vor sich selbst? Dass er den Drang verspürte, Loewen gleichzeitig zu beschützen und ihr die Knochen zu brechen? Er wusste, dass er Ale vertrauen konnte; er hatte Johans Ausbrüche immer zwischen den beiden Männern belassen und den Blonden höchstens aufgefordert, sich an andere zu wenden, aber niemals selbst Informationen weitergegeben. Dennoch, mit ihm etwas zu teilen, das ihn so sehr aufwühlte, etwas, was ihn im Zweifel sogar seinen Dienstgrad kosten konnte, das fiel ihm fast genauso schwer, wie das Maul bei den Psychologen aufzubekommen. Ales graue Augen fixierten ihn, während er sich abrang, die passenden Worte zu finden und als der Italiener den Pappbecher absetzte und einatmete, um selbst etwas zu sagen, brach es aus Johan auf Englisch hervor:

"Ich habe Loewen verletzt. Ich wollte sie verletzen. Ich habe die verdammte Kontrolle verloren und ich glaube, nein, ich weiß, dass es eine beschissene Anomalie war, die in meinem Kopf steckt!"

"Eine Anomalie?"

Die grauen Augen Alessandros wirkten überrascht, aber keinesfalls verurteilend, was in Johan ein Gefühl der Bestätigung aufkeimen ließ. Er nickte, griff in seine Hosentasche und holte das Papierchen hervor, welches er unter der Hand über den Tisch zu dem Italiener schob, welcher die Geste verstand und ebenfalls darauf achtete, niemanden das Stück Papier sehen zu lassen. Er entfaltete es in seinem Schoß, studierte die deutschsprachigen Notizen mit einem angestrengten Stirnrunzeln, schien aber zu verstehen und schob es schließlich zurück zu seinem Gegenüber. Johan wusste sofort, dass Ale ihm glaubte und mit einem Funken Erleichterung berichtete er ihm knapp die Geschehnisse, wobei seine Aufmerksamkeit weiterhin zu einem großen Teil dem Absuchen des Raumes gewidmet war. Mit jedem erzählten Wort und jedem Nicken Alessandros, kamen die Worte leichter aus dem Blonden und er musste sich selbst zwischenzeitlich bremsen.

"Aber das bedeutet, dass Val und ich das bekommen können, richtig?"

"Ja."

Johan wusste nicht, ob er sich schuldig fühlen sollte, aber eigentlich war es unsinnig. Er hatte keine Kontrolle über die Möglichkeit des Sprungs der Anomalie gehabt und er war auch vorher nicht informiert worden, als Peterson "infiziert" worden war. Aber es war gut, dass der Italiener davon wusste und Vorkehrungen für sich und seine Verlobte treffen konnte. Alessandro tauschte noch ein paar Worte mit Johan und stand dann auf, wahrscheinlich in Gedanken bereits dabei, zurück nach Italien zu reisen, um zu Valeria zu kommen, egal, ob noch eine Veranstaltung anstand oder nicht. Sie verabschiedeten sich und machten aus, sich per Textnachrichten auf dem Laufenden zu halten - natürlich auf möglichst indirektes Vokabular beschränkt. Alessandro ermahnte Johan jedoch vor dem Gehen noch einmal, sich Hilfe zu suchen und zwar sofort. Johan entgegnete nichts. Während der Italiener den Standort verließ, kehrte die Grübelei zu ihm zurück wie ein wohlbekanntes Kleidungsstück, das man kurzzeitig aus den Augen verloren hat. Er würde es melden. Am Abend, nach dem Training. Zumindest nahm er sich das vor.

⸰ ⸰ ⸰

Nicht gut genug.

Der blonde Elitesoldat musste sich zusammenreißen, um das enge schwarze Gerät auf seinem Kopf nicht mit Gewalt herunterzureißen und von sich zu werfen. Mit extrem betonter Ruhe öffnete er die Klettverschlüsse an seinen Handgelenken, die sich etwas zu eng um die gerötete, vor Anstrengung pochende Haut gezogen hatten. Dann hob er die Arme und löste die Verschlüsse an seinem Kopf, die das Virtual-Reality-Headset, dessen Visier er bereits hochgeklappt hatte, an seinem Kopf hielten. Seine Haare klebten schweißnass an dem inneren Polster und er spürte, wie die endlich entweichende Feuchtigkeit nun auch an seinen Schläfen und über seine Stirn lief, an seinen brennenden Augen vorbei und schließlich vom Kinn tropfte.

Nicht gut genug.

Seine Werte sprachen Bände. Er hatte sich massiv verschlechtert, obwohl er sogar noch mehr trainiert hatte als sonst in den vergangenen Monaten. Ein Piepsen unter dem nassen Shirt meldete ihm, dass sein Stresswert massiv zu hoch war. Wollte dieses Ding denn nie Ruhe geben? Er wollte den schwarzen Kasten vom Headset gerade auf den Tisch ablegen, als er merkte, wie der Boden unter ihm sich zu bewegen schien. Das Piepsen von dem Gerät an seiner Brust klang seltsam fern, fast wie aus einem alten Radio, aber es ebbte nicht ab; es füllte den gesamten Raum um ihn aus, nahm ihn ein, waberte und triefte aus jeder Ritze in den Fliesen des Trainingsraumes. Das Licht schien zu flackern; es wirkte viel zu hell, unangenehmer als sonst nach dem Training im VR. Johan ließ das Gerät die letzten paar Zentimeter auf den Tisch fallen und griff daneben nach der Kante, um sich daran abzustützen. Er verfehlte diese jedoch und verlor das Gleichgewicht in einer seltsam langsamen Bewegung, in der seine Füße einfach ihren Dienst versagten und keinen Ausfallschritt taten, wie sein Körper doch sonst automatisch tun würde. Im Fallen glitt sein Blick über den Boden. Er begriff nicht, was genau passierte, es war betäubend surreal. Und dann sah er sie: kleine, dreckige Füße unter dem Saum eines Kleides. Dann Schwärze.

Jedoch nur für ein paar Sekunden. Zumindest dachte er das, als er die Hände spürte, die seinen Kopf unangenehm verdrehten, was jedoch dafür sorgte, dass er wieder Luft bekam. Wieder? Dumpf hörte er eine Stimme; er meinte, Wolfgang zu erkennen, der auf ihn einredete wie ein aufgeregtes Huhn. Dass er auch nicht einfach mal die Klappe halten konnte, wenn einer schlief.

"Oh man, Frey, so eine Scheiße! Du siehst aus wie eine verdammte Leiche."

Der Spruch war neu. Bleich, Gespenst, all das kannte er von ihm und anderen, aber Leiche? Dafür hielt er seinen Körper stets zu sehr unter Kontrolle. Johan versuchte gegen die seltsame Müdigkeit anzukämpfen und spürte dabei seine Nase rebellieren. Sie war wie immer zu genau. Ein beißender, widerwärtiger Geruch ließ ihn fast sofort zu sich kommen. Erbrochenes. Ihm wurde direkt übel, sein Mund brannte und sein Magen schien sich umdrehen zu wollen. Mit enormer Anstrengung unterdrückte der blonde Mann den aufkeimenden Drang, sich erneut zu entleeren und öffnete die Augen stöhnend.
Tatsächlich kniete der Halbpole halb über ihn gebeugt da, scheinbar nicht ganz sicher, wie er Johan helfen sollte, ohne es noch schlimmer zu machen. Dass er bei Bewusstsein war, ließ ihn trotzdem erleichtert seufzen und er setzte zumindest ein halbes Lächeln auf, um dem anderen seine Besorgnis nicht zu sehr zu zeigen. Johan wollte sich leicht aufrichten, um sich umzusehen, wurde aber erneut von einer Welle der Übelkeit gepackt und sackte haltlos zurück auf den Boden. Der blonde Soldat hörte den anderen Mann wieder sehr dumpf und wie aus der Ferne etwas sagen, jedoch machte nichts wirklich Sinn. Johan öffnete langsam den Mund, um dem anderen sich mitzuteilen, allerdings schien das eher dafür zu sorgen, dass dieser wieder in Panik geriet und seinen Oberkörper wegdrehte, um Unverständliches in den Flur zu brüllen. Johan schloss für einen Moment erschöpft die Augen, nur, um beim erneuten Öffnen ein anderes Gesicht über seinem zu haben. Dieses Mal blickte ihm ein vage bekanntes, rasiertes Asketengesicht kopfüber entgegen. Jener schien deutlich entspannter mit der Situation umgehen zu können und bewegte seine Lippen durchweg, als würde er mit Johan sprechen. Dieser wiederum bemerkte mit leichter Belustigung, dass sich die Decke hinter dem Asketen zu bewegen schien, mal schneller, mal langsamer zogen dort Muster aus Deckenkacheln, Lichtern und gelegentlichen Richtungsweisern an den beiden vorbei. Dann berührte ihn der Mann an Stirn, Nasenwurzel und Schläfen und was erst wie eine kurze Berührung wirkte, nahm an Druck zu, wurde unangenehm und ließ Johan bald vor Schmerzen stöhnen.

"Wieder wach?"

Gianluca Buonocore - Johan erinnerte sich plötzlich wieder an den Namen des Asketen, der gelegentlich spezielles Nahkampftraining unterrichtete - hatte ein schiefes, warmes Lächeln auf den Lippen, das der Elitesoldat ihm am liebsten sofort aus dem Gesicht gedroschen hätte. Er realisierte, dass der andere irgendwas mit ihm gemacht hatte, damit er etwas mehr zu sich kam, aber er konnte sich die Berührungen nicht wirklich erklären. Zu den Schmerzen in seiner Stirn gesellte sich nun auch wieder der Umgebungslärm; Rufe, Schritte, die Ansagen, die im medizinischen Trakt durch die Gänge hallten und diverse Arten von digitalen Piepsgeräuschen, die die Statuswerte von zig Personen Kund taten, ganz ähnlich dem treuen Begleiter, den er die letzten Stunden an der Brust getragen hatte.
Buonocore unterstützte eine Krankenschwester damit, Johan zu bewegen und hörte kein einziges Mal dabei auf, ihn anzulächeln. Dem Elitesoldaten kamen Bilder von Stewardessen in den Kopf, aber die hatten ein trainiertes Lächeln auf den Lippen. Der hier meinte das auch noch ernst.
Es folgte eine Reihe von Fragen, die Johan in seinem Halbdämmerzustand kaum beantworten konnte, aber er erinnerte sich an den kleinen Zettel, den ihm Jens zugesteckt hatte und fischte nach diesem in seiner Hosentasche, nachdem er Buonocore gedeutet hatte, ihm jene zu reichen. Natürlich hatte Wolfgang daran gedacht, alles mitzugeben. Hatte hier jeder die Freundlichkeit gepachtet? Frustriert kramte Johan nach dem Zettel, bis er ihn endlich dem Asketen reichen und diesen mit einem zornerfüllten Blick und den stumm mit den Lippen gebildeten Worten "Fuck off, fag" wegschicken konnte.
Buonocore hob für einen kurzen Moment eine Augenbraue und musterte Johan, dann drehte er sich um und tauschte ein paar Worte in einem Mix aus Italienisch und Deutsch mit der Krankenschwester, welche sich mehrmals zwischendurch ausführlich dafür bedankte, dass er ihr mit dem Transport geholfen hatte. Dann verabschiedete er sich knapp von beiden und ließ Johan mit dem medizinischen Personal allein, welche ihn untersuchten, reinigten und schließlich über Nacht zur Beobachtung dort behielten. Er wurde großzügigerweise an einen Tropf angeschlossen, um die erbrochene Flüssigkeitsmenge wieder aufnehmen zu können, und begann, die Ereignisse der letzten Tage zu protokollieren, da er nicht davon ausging, wirklich schlafen zu können. Seine Vermutung wurde bestätigt, als er zwischendurch von seinen Notizen aufsah und sein Blick kurz die Fensterfront in den Flur streifte. In der Spiegelung war wieder ein gewisses Mädchen zu erkennen, welches im nächsten Augenblick wieder bereits verschwunden war. An Schlaf war definitiv nicht zu denken.

⸰ ⸰ ⸰

Es dauerte nicht lang, bis sich am kommenden Morgen die Kittelträger um ihn versammelt hatten; Punkt sieben Uhr dreißig standen fünf der Standort-Docs mit eifrigen Assistenten um ihn herum und nahmen seine Protokolle, die Daten seines Messgerätes und alles andere auf, was an Informationen zur Verfügung stand oder aus Johan herausgequetscht werden konnte.
Buonocore hatte seinen Kollegen scheinbar die Notiz weitergegeben, da ein paar unangenehme Fragen zu der Herkunft seiner Informationen aufkamen, die aber zum Glück in der allgemeinen Aufregung wieder untergingen, bevor sich Johan tatsächlich Gedanken um irgendwelche Ausreden machen musste. Das würde er früher oder später ohnehin noch zu Genüge tun müssen, aber derzeit fühlte er sich kaum in der Lage, überhaupt irgendeins der Geschehnisse zusammenhängend wiederzugeben. Die vergangenen zwei Tage und der fehlende Schlaf forderten ihren Tribut und so verwies er die versammelte Mannschaft immer wieder auf seine Notizen, um endlich Ruhe zu finden. Nach fast einer Stunde wurde er glücklicherweise durch das medizinische Personal vor weiteren Fragen gerettet, welches auf seinen geschwächten Zustand hinwies und die Kittelträger aus dem Beobachtungsraum schickte. Kurz bevor alle durch die Tür waren, drehte sich eine weibliche Forscherin wieder um und trat neben sein Krankenbett. Sie hatte dunkle Haare und grüne Augen, aber Johan konnte sich nicht daran erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben. Als sie sprach, tat sie es mit einem britischen Akzent und ihm dämmerte, dass sie wohl eine Forscherin von außerhalb war. Ein Blick auf ihr Namensschild verriet ihm, dass sie Dr. Brown hieß.
"Entschuldigen Sie, Herr Frey." Sie sprach seinen Namen auf die wohl englischste Art und Weise aus, die er je gehört hatte. "Ich wollte Ihnen noch mitteilen, dass Ihre Vermutung tatsächlich stimmt. Es ist die Anomalie, die als SCP-242-DE gelistet ist. Wir werden Sie für ein paar Tage hierbehalten und beobachten. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit, die Daten sind für uns sehr wichtig. Wir werden Ihre Kontakte prüfen und ebenfalls beobachten lassen, sollte der Effekt überspringen." Johans Augen weiteten sich bei der Erkenntnis, dass Loewen ebenfalls betroffen sein könnte. Er hatte die ganze Zeit ausschließlich daran gedacht, dass Alessandro gewarnt werden musste, aber Loewen … Es könnte jederzeit auch sie treffen.

Und du bist Schuld daran.

Er schluckte schwer und Doktor Brown schien zu bemerken, dass das Gesagte ihm Sorgen bereiten zu schien. Sie winkte dem Pflegepersonal kurz beschwichtigend zu, welches sie gerade daran erinnern wollte, dass sie den Raum verlassen wollte, und holte ein Tablet hervor, auf welchem sie sich Notizen zu machen schien. Über das Tablet hinweg fragte sie den Soldaten: "Sie sind in einer Partnerschaft mit Miss Loewen, richtig? Gibt es weitere Personen, die Ihnen nahe stehen, die ich mit aufnehmen sollte?" Johan nickte zögerlich und dachte an Alessandro und Valeria. So ungern er es auch zugeben wollte, sollte ihnen etwas passieren, könnte er es sich nicht verzeihen. Verdient hatten sie das, was er gerade erlebte, ebenfalls nicht im Geringsten. Er nannte ihr die Namen und fügte hinzu, dass Alessandro derzeit noch in Angerona sein sollte, Valeria Cattaneo jedoch höchstwahrscheinlich im Standort Deus anzutreffen war. Sie notierte sich alles mit aufrichtigem Interesse und versicherte ihm, dass sowohl er selbst als auch alle anderen Betroffenen in seinem Umfeld alle notwendigen psychologischen Hilfestellungen bekommen würden. Die Erinnerung an die Tatsache, selbst die kommenden Wochen in Untersuchung und Therapie festzustecken, machte ihn alles andere als zuversichtlich. Jetzt war er also E-Klassen-Personal, solange diese dreckige Göre in seinem Kopf herumspukte. Er war nicht zum ersten Mal aus dem aktiven Dienst entfernt worden, besser machte es die Tatsache jedoch nicht. Er würde für mindestens vier Wochen unter Beobachtung stehen, würde mindestens dreimal die Woche bei Sand vorstellig werden und konnte sich all die Privilegien eines Eliteeinsatzmitgliedes von der Liste streichen. Er ließ sich auf das Kissen zurückfallen und beobachtete Dr. Brown, die durch die Glastür trat und im Gang verschwand. An ihre Stelle trat, fast schon wie erwartet, das Gör, welches ihn ausdruckslos zu beobachten schien. Aber dieses Mal verschwand sie nicht, als er wegsah und wieder zu der Fensterfront blickte. Wut kochte in ihm auf; Frustration über die eben gewonnene Erkenntnis, dass er nun E-Personal war, über die Unfähigkeit, irgendetwas gegen das Wesen dort im Glas zu tun, das Schuld an allem war, über die Angst um Loewen, Ale und seine Verlobte, den kahlen Raum, in dem er lag, alles. Er wälzte sich in seinem Bett herum und bemerkte das leichte Ziehen in seinem Arm kaum, als er sich aufbäumte und den Tropf mit sich zog, um in die Richtung der Glasscheibe zu gestikulieren.

"Verpiss dich endlich! VERPISS. DICH."

Sein Rufen und das Scheppern von Tropf und Nachttischchen, die in Mitleidenschaft gezogen wurden, alarmierte das im Gang stationierte Personal und schon bald fand sich Johan im Griff von drei Männern wieder, die ihn, um weder sich selbst noch andere zu verletzen, am Bett fixierten. Johan bäumte sich immer wieder auf, knurrte und presste Flüche zwischen den Zähnen hervor, aber schon bald empfing ihn eine lähmende Schläfrigkeit, als das ihm verabreichte Benzodiazepin anschlug. Bevor er wegdämmerte, meinte er das Gesicht seiner Löwin neben dem des dreckigen Kindes erkennen zu können. Ein Gesicht besorgt, das andere ausdruckslos.

Bitte lass nur eins davon noch da sein, wenn ich aufwache …

Dann wurde es endlich schwarz um ihn.

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