Lügen zur Osterzeit

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Vorausgehende Geschichte: Kantinenfraß mit rosa Herzchen


Es klingelte. Sie sprang auf und hastete zur Türe der zweigeschossigen Holzhütte, die seit einigen Monaten ihr Heim war. Auf der Schwelle stand der Mann, der sich ihr vor etwas mehr als anderthalb Monaten vorgestellt hatte und mit dem sie seitdem eine gute Freundschaft aufgebaut hatte. Ihrer Meinung nach war dies das einzig Gute an jenem Tag mitten im Februar gewesen. Zuvor die Vorbereitungen, dann die stundenlange Fahrt Richtung Nord-Nord-West, darauf unangenehme Gespräche mit einer arroganten Zicke und einem Ratsmitglied des O4, die Verleihung der Auszeichnung, die sie nie haben wollte, danach die restlichen Feierlichkeiten und die Reise zurück nach Süd-Süd-Ost. Ja, ihn kennenzulernen ist wirklich das einzig Gute gewesen an jenem Tag. Seitdem hielten sie den Kontakt nur über SMS, Telefonate und seltene Video-Calls aufrecht, doch schlussendlich gelang es ihnen, ihr Treffen heute zu vereinbaren. Und nun stand er vor ihr, die Hände lässig in den Hosentaschen steckend. Sie lächelte, als sie ihn erkannte.

"Hi, Richard!"

Er grinste sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und antwortete: "Hi, Sophie! Willst du mich nicht vielleicht reinbitten?"

"Äh, doch klar, natürlich", erwiderte sie, als sie beiseite trat und ihm Platz machte, "Komm rein."

Richard folgte ihrer Aufforderung, hang seine Jacke an einen freien Haken an der Wand und stellt seine Schuhe darunter. Dann ließ er sich von ihr zum Esstisch führen und nahm Platz.

"Das Essen braucht noch fünf Minuten", meinte Sophie, bevor sie sich zur Küche begab, die nur durch Halbwände vom Rest des Wohn- und Esszimmers abgetrennt war. Richard stand nach kurzer Zeit wieder auf und blickte sich in dem gemütlichen Heim um. An den Wänden und auf dem Kaminsims waren zahlreiche Fotos und Gemälde zu sehen. Er bemerkte erst, dass Sophie neben ihm stand, als sie ihn ansprach: "Das ist das letzte Bild, das meine Schwester gemalt hatte."

Sie nahm den Rahmen von der Wand und betrachtet die gemalte Abbildung. Zu sehen war ein kleiner, gemütlicher Bergsee, im Tal gelegen und von zahlreichen Nadelbäumen umringt.

"Da waren wir früher als Kinder oft schwimmen. Nur zwei Kilometer von unserem Elternhaus entfernt und mit einer warmen Quelle verbunden. Selbst im Winter ist er nur selten zugefroren. Später haben sich Valentina und ihr Freund ein Haus bauen lassen, ebenfalls nahe des Sees. Vor zwei Jahren im Frühsommer hat sie das hier gemalt. Zwei Wochen später wurden sie beide in jenem See von einem Erdrutsch begraben."

Sophie war klar, dass sie hiermit die zuvor fröhliche Atmosphäre zerstörte, doch der Verlust ihrer älteren Schwester, die immer ihr Vorbild gewesen war, schmerzte sie nach wie vor stark. Ihr war auch klar, dass Richard bereits um Valentinas Tod weiß, doch bisher waren ihm die Umstände und die Tiefe der Beziehung der beiden Schwestern nicht klar gewesen. Doch nun erkannte er, wie eng sich die beiden gestanden haben mussten. Er legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter, während sie mit ihren Fingern über das Bild fuhr.

In der Küche rappelt der Wecker los. Hastig hing sie das Bild wieder an die Wand und eilte dann in Richtung Herd. Doch Richard hielt sie — vorsichtig — am Arm zurück.

"Ich mache das Essen fertig. Setz' du dich scho-"

Doch Sophie fiel ihm ins Wort: "Untersteh' dich! Du hast doch schon Probleme beim Kochen von Nudeln!"

"Was? Woher weißt du-"

"Deine Eltern sind hier vor zwei Wochen kurz vorbeigekommen, als sie nach Italien runter gefahren sind."

"Bitte was? Wie … Wieso weiß ich nichts davon?"

Ohne ihm zu antworten, ließ Sophie ihn mit seinem ungläubigen Gesichtsausdruck stehen und lief weiter in die Küche.


Später am selben Tag trotteten sie hintereinander einen schmalen Wanderpfad entlang. Der Weg war zwar steil, doch nicht unmöglich hinaufzuklettern. Sophie, die sich hier mittlerweile bestens auskannte, lief voraus, während Richard Probleme hatte, mitzuhalten. Er keuchte, als wäre er soeben einen Marathon gelaufen. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, drehte sich letztendlich aber um und fragte:

"Benötigt der Herr eine Pause?"

Richard schaute ihr nur kurz in die Augen, bevor er sich kraftlos auf den Boden fallen ließ. Sophie folgte ihm und setzte sich neben ihn hin. Die Aussicht hier war wunderschön, aber bei weitem nicht so atemberaubend wie vom Gipfel aus. Richard legte sich erschöpft auf den Rücken, nachdem er seinen Rucksack abgenommen und beiseitegestellt hatte. In einem leichten Anflug von Zynismus beugte sie sich zu ihm herab und meinte:

"Du weißt schon, dass wir kaum mehr als die Hälfte des Weges hinter uns haben?"

Als Antwort grummelte er nur unglücklich, was Sophie ein Lachen entlockte.

"Komm, oben am Gipfel ist die Aussicht tausend Mal besser."

"Nur fünf Minuten …"

Lachend ob seiner erschöpften Art legte sie sich neben ihn und blickt ebenfalls zum Himmel hinauf. Er war strahlend blau und von keiner einzigen Wolke verhangen. Doch selbst die strahlende Sonne kam nicht gegen die kühle Bergluft an, deren Kälte unangenehm an Sophies verletzter Haut zu zwicken begann. Doch da sie sich gut vorstellen konnte, wie fertig Richard sein musste, blieb sie still liegen und genoss den Moment der Ruhe.

Nach kurzer Zeit, als ihre Haut langsam anfing zu schmerzen, erhob sie das Wort: "Kannst du jetzt wieder?"

Richard nickte zur Antwort, richtete sich auf und zog sie hoch, bevor er seinen Rucksack wieder aufzog und gut gelaunt voranschritt.


Die Sonne hing nur wenige Handbreit über den Alpengipfeln, als sie die Spitze des Berges erreichten. Das Plateau war komplett mit saftig grünem Gras bewachsen, vereinzelte Löwenzahn-Blumen fügten dem satten Grün einen gelben Akzent hinzu. An dem einen Rand erhoben sich ein paar Fichten, die Teil eines kleinen Waldes waren, der sich die ganze Bergflanke hinab und bis ins Tal erstreckte. Ein paar Meter davor, fast in der Mitte der Ebene, stand eine kleine Holzhütte, deren Dach von einem hölzernen Schornstein geziert wurde. Vor dem Eingang des Hauses befand sich ein kleiner Steinring auf dem Boden, der als Feuerstelle vorgesehen war. Um ihn herum lagen vier Baumstämme, aus denen Teile herausgeschnitten wurden, sodass sie als Bänke fungieren konnten. Zufrieden beobachtete Sophie, wie Richard das Plateau begeistert inspizierte. Als er wieder zu ihr trat, blickte er mit ihr nach Westen, wo sich die Sonne gerade mit den Bergketten vereinte. Der Himmel sah aus, als stünde er in Flammen. Unter ihnen lag ein gewaltiges, rot-orangenes Nebelmeer, das von mehreren Bergketten gefangen gehalten wurde und sich erst in den letzten zwei Stunden ausgebildet hatte.

"Wow …", meinte Richard nach einiger Zeit, als das glühende Rund bereits halb von den Gipfeln verborgen wurde, "Und das siehst du dir wirklich alle paar Wochen an?"

Sophie nickte und antwortete: "Es wird nie langweilig, das anzusehen. Aber die Sonnenaufgänge sind noch viel schöner, glaub' mir!"

Er lachte kurz auf: "Davon lasse ich mich morgen früh selbst überzeugen."

"Komm, ich zeige dir kurz die Hütte."

Sie ging voran, er folgte ihr dicht auf den Versen. Die Tür war nur mit zwei schweren Riegeln versperrt, die sich recht leicht beiseite schieben ließen. Sophie stieß sie ganz auf und ermöglichte es Richard, in das Innere des Gebäudes zu schauen. Es waren kaum mehr als die Umrisse der Inneneinrichtung zu sehen, da die kleinen Fenster kaum Licht in das Innere der Hütte ließen.

"Wo ist der Lichtschalter?", fragte er.

"Lichtschalter? Gibt es hier nicht", antwortete Sophie, "Hier gibt es keinen Strom, noch schlechteres Internet als in der Bahn und das ganze Wasser wird als Regen aufgefangen. Das heißt, keine warme Dusche!"

Richard starrte sie für einen Moment fassungslos an.

"Ernsthaft?!"

"Allerdings!", meinte sie mit einem belustigtem Unterton.

Sie zündete eine kleine Kerze an, um zumindest genug zu sehen, sodass sie Feuerholz in den Kamin legen und es anzünden konnte.

Sophie kam zurück zur Tür, um sie hinter ihm wieder zu verschließen. Sie verstauten ihr ganzes Gepäck in zwei kleinen Schränken, die sich direkt neben dem Eingang befanden. Als die Sonne komplett verschwunden war, begaben sie sich wieder hinaus und stapelten vorbereitetes Holz in dem Steinkreis und entzünden das Lagerfeuer. Langsam, aber sicher wuchs es und wärmte die direkte Umgebung. Die beiden nehmen Platz auf einem der Baumstamm-Bänke. Sie unterhielten sich eine Weile und machten sich etwas Stockbrot über der kleinen Flamme.

"Woher weißt du von der Hütte?", fragte Richard einmal.

Sie drehte sich zu ihm und schaute in seine Augen.

"Sie gehört O4-8. Nach meinem … Unfall hat sie sie mir zur Verfügung gestellt, als Entschädigung oder so. Nach der Veranstaltung am Valentinstag, kurz, nachdem du abgereist bist, hab ich mich noch mit ihr unterhalten. Ich sagte ihr, dass ich die Hütte nicht mehr brauche, aber sie hat nur abgewunken. Sie meinte, da sie sowieso keine Zeit dafür hätte, hier zu übernachten, solle ich sie doch gleich weiter nutzen, damit sie überhaupt mal bewohnt ist. Das Angebot konnte ich nicht ausschlagen."

"Eine weise Entscheidung. Ob ich auch klug genug gewesen wäre, sie zu treffen?", meinte er im Spaß.

Sophie lächelte ihn kurz an, als auf einmal ein Windstoß über das Plateau fegte und das Feuer hell aufflackernde geradewegs in ihre Richtung wehte. Erschrocken sprang Sophie schreiend auf und kauerte sich hinter dem Baumstamm zusammen. Die Erinnerungen an den Feuerball hagelten auf einmal auf sie ein, die drei grauen Gestalten, die die Sicherheitsleute und die ganzen anderen Forscher umbrachten oder in willenlose Sklaven verwandelten. Der Schmerz, als die Flammen über sie hinwegrollten, als die eine Gestalt ihre Schulter zerdrückte. Und genau wie damals holte sie nun die Dunkelheit ein.


Als Sophie die Augen öffnete, wusste sie zunächst nicht, wo sie war. Sie sah nur Holzbalken, die über ihr verliefen und ein Dach abstützten. Als sie sich umblickte, erkannte sie die Hütte auf dem Berg. In der Küche stand Richard, der mit Pfannen und Tellern rumhantierte. Stöhnend richtete sie sich auf und rieb sich mit den Händen übers Gesicht.

"Oh, du bist wach!", meldete sich Richard zu Wort, "Äh, alles okay?"

"Ich hab krasse Kopfschmerzen … ich hasse es. Sonst geht es mir gut, danke."

Er kam zu ihr hinüber und hält ihr einen Teller hin.

"Ich hab mich an Omelett versucht. Keine Garantie fürs Überleben!", meint er im Scherz.

"Oh nein…", erwiderte sie — nur halb im Scherz.

Er ließ sich mit seinem eigenen Teller neben ihr nieder und erhob das Wort: "Willst du mir davon erzählen? Von deinem Unfall?"

Sophie schluckte den Bissen hinunter, bevor sie meinte: "Du weißt doch schon längst, was passiert ist. Ich diene doch jetzt als Unterrichtsmaterial."

"Hey, ich mache mir nur Sorgen um dich. Und ich glaube kaum, dass uns alles erzählt wurde. Wäre es wirklich so gewesen, wie sie es uns darlegten, wärst du nicht von ein wenig Feuer bewusstlos geworden. Du hättest nicht die halbe Nacht lang vor dir hingewimmert."

"Was wurde euch denn erzählt?", fragte Sophie und zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen.

"Ich … uns wurde gesagt, dass eine Komponente einer Maschine, mit der in die Vergangenheit geblickt werden kann, dramatisch versagte und explodierte. Der Feuerball hat angeblich den ganzen Raum verschluckt, und du bist wohl nur durch ein Wunder davongekommen, wenn auch mit einer kaputten Schulter."

Als er sieht, wie sie ihn ungläubig anstarrte, fragte er nach: "Wie viel davon stimmt?"

"Nur die Größe des Feuerballs", brachte sie mühsam hervor.

Richard brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten.

"Willst du mir etwa gerade sagen, dass wir vom O4-Rat angelogen werden?", fragte er verdattert.

"Verdammte Scheiße…", murmelte Sophie, während sie langsam den Kopf schüttelte, "Sichern, eindämmen, schützen am Arsch…"

"Was ist wirklich passiert?"

Sophie schluckt, bevor sie anfängt zu erzählen: "Meine Forschungsabteilung hatte gerade einen Durchbruch erreicht und ein Gerät entwickelt, mit dem wir in alternative Realitäten blicken konnten, ja, wir konnten sogar damit interagieren. Noch bevor ich dort anfing, hatte das Team schon fast zehn Jahre an dem Projekt gearbeitet, und dazu kamen weitere vier unter meiner Führung. Und dann hatten wir es geschafft. Die Maschine war gewaltig, sie war unglaublich komplex. Ein wahres Meisterwerk. Als wir den Hawking-Generator das erste und leider auch einzige Mal vollständig hochfuhren, hat der ganze O4-Rat zugesehen. Und zunächst lief auch alles gut, wir hatten einen Tunnel in eine andere Realität geöffnet. Doch dann lief alles aus dem Ruder. Wie aus dem Nichts sind drei gruselige, graue Gestalten erschienen, die jeden Anwesenden umbrachten. Nur … Nur mich als Forschungsleiterin ließen sie am Leben. Dafür richteten sie mich… so zu, als Mahnmal, nicht nochmal den Fehler zu begehen, mit anderen Realitäten zu spielen. Sie … Sie teleportierten mehrere Sicherheitsleute und Forscher in den Erdorbit, nur, um sie gleich wieder in den Raum zu beamen. Mit mehreren tausend Stundenkilometern sind sie in den Generator gekracht. Das hat die Explosion ausgelöst. Danach hat mir eine der drei Gestalten mit dem Schuh die Schulter zerdrückt…"

Fassungslos starrt er sie kurz an, bevor er ihr eine Hand auf die Schulter legte und sie sanft drückte.

"Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musstest. Es tut mir so leid."

"Danke …", sagt sie tonlos.

"Ich werde den O4-Rat nochmal damit konfrontieren… zumindest O4-8, die kann ich auf jeden Fall erreichen. Das lasse ich mir nicht gefallen."

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