Irene Falk
Als Irene Falk in dem Lagerraum ankam, in dem sich die Spinde der MTF befanden, war niemand dort, außer Siggi, der vornübergebeugt auf der Bank vor seinem Spind saß.
"Alles in Ordnung, Klaussen?", fragte sie.
Siggi blickte auf, seine Augen gerötet und verschwollen. "Irene … Hallo. Ja, ich … ich habe nur … mir ist gerade aufgefallen, dass Saskias Spind leer ist."
Falk seufzte. "Ich weiß. Ich habe Hand geholfen, ihn zu leeren."
"Wieso …" Siggi schüttelte den Kopf. "Die Wege des Herren sind unergründlich, und er lässt nichts ohne Grund geschehen … aber wieso lässt er zu, dass die Seele einer so guten Frau vernichtet wird?"
Falk öffnete ihren Mund, wollte sagen, dass es keine Seele gab, und dass der Mann mit dem Flanierstock Saskia getötet hat, kein Seelenfresser. Aber die Tränen, die in Siggis Gesicht glänzten, brachten Falk dazu, sich eines besseren zu besinnen.
"Siegmund … Wir wissen nicht, was dieses Monster mit Saskia gemacht hat. Und es war ein verlogener Dämon - vielleicht hat es gar keine Seelen gefressen, sondern nur Lebensenergie oder so was."
Siggi nickte. "Dennoch … Saskia war mutig, und stark. Und jetzt ist sie tot, und ihre Seele ist vielleicht mit ihr gestorben. Wieso lässt der Herr so etwas zu?"
Falk schüttelte den Kopf. "Wieso lässt dein Gott zu, dass sich einige seiner Diener über Kinder hermachen?" Ihre Geduld mit Siggis Glaubenskrise war erschöpft.
"Ich habe mich immer zurückgehalten!", brüllte Siggi. "Und immer Medikamente genommen! Ich habe nie einem Kind etwas getan!"
Falk wich unwillkürlich zurück. Sie hatte Siggi noch nie laut werden hören. "Klaussen … ich habe das nicht auf dich bezogen."
Siggi ließ seinen Kopf hängen. "Natürlich … natürlich nicht. … Vergiss es einfach."
"Das werd ich nicht." Falk seufzte. "Siegmund … Siggi, ich wusste nicht, dass du pädophile Neigungen hast."
Siggi seufzte. "Es hat seinen Grund, warum ich mich in den Schoß der Kirche begab. Mit meinem Glauben und Medikamenten habe ich meine Neigungen unter Kontrolle halten können."
"Wieso … wurdest du deswegen aus deiner Gemeinde geworfen?"
"Ja". Siggi nickte. "Ein paar unbedachte Worte nach einem erneuten Skandal in der katholischen Kirche führten dazu, dass meine Gemeinde sich zusammenreimte, was für eine … Neigung … ich habe." Er blickte Falk in die Augen. "Aber was ich sagte, ist wahr. Ich habe nie einem Kind etwas zu Leide getan. Gebete und Medikamente haben mich vor dieser Sünde bewahrt."
"Und die Kinder deiner Gemeinde." Noch während Falk es aussprach, bereute sie es. "Siggi … ich … wenn es etwas hilft, ich hasse dich nicht dafür. Es ist eine psychologische Störung, für die du nichts kannst. Und wenn du die Wahrheit sagst, hast du nie deinen Neigungen nachgegeben."
Siggi nickte. "Danke, Irene. Aber … bitte, die Anderen müssen nichts davon wissen."
Falk nickte ihrerseits.
Siggi stand auf und ging langsam zum Ausgang, und als er seine Hand auf die Türschnalle legte, räusperte sich Falk.
"Siggi … wieso hast du immer gesagt, dass du wegen absolut ungerechter Gerüchte deine Gemeinde verlassen musstest? Ich meine … sie waren ja nicht unbegründet." Sie lächelte schief. "Und du sollst nicht lügen."
Siggi nickte. "Ja, aber der Herr erlaubt Notlügen, solange sie nicht gegen den Glauben in ihn und Loyalität für ihn und seine Werte stehen." Er öffnete die Tür. "Irene … wegen Saskia. Ich … bin zwar momentan selbst nicht ganz in der Lage, mich um meine Schäfchen zu kümmern, und ja, das seid ihr … aber wenn du über Saskia reden möchtest, bin ich für dich da."
"Danke, Siggi. Aber es geht mir gut."
Siggi nickte und verließ den Raum. Falk ging zu ihren Spind, öffnete ihn. Im Inneren befand sich lediglich ihre Ausrüstung, ihr privater Schlüsselbund, und eine Brieftasche. Sonst nichts. Als sie mit Hand Saskias Spind geleert hatte, hatte sich darin ein Foto befunden, von Saskia, Marek und Xaver.
"Saskia … Xaver …" Und Falk fiel auf die Knie, Tränen liefen über ihr Gesicht, und es ging ihr nicht gut.
Ambroszky Stamek
Es war beinahe völlig dunkel. Lediglich die leuchtende Anzeige seines Weckers zeigte Ambrosz, dass es bereits fünf Uhr morgens war. Aber es war ihm egal, er hatte das Wochenende frei.
Langsam rollte er sich aus dem Bett, verließ sein Schlafzimmer und ging in sein Badezimmer. Zuerst wusch er sich die Hände, sie waren noch klebrig von den Ereignissen des vorherigen Abends. Dann beugte er sich über die Toilette und übergab sich.
Nur eine Magenverstimmung, dachte er.
Aber tief im Inneren wusste er, dass es mehr war. Er hatte wieder von Saskia geträumt.
Ambrosz spülte sich den Mund aus, zog sich eine saubere Unterhose an, und ging mit einer Packung Zigaretten bewaffnet auf den Balkon hinaus. Einen Monat war es nun her. Und doch zitterte er, als er sich eine Zigarette anzündete. Er zitterte, als er den ersten Zug nahm. Er zitterte, als er die Packung auf das Balkongeländer legte. Er zitterte, wie er es immer tat, wenn er von Saskia träumte.
Falk, Marek, Kessel, Siggi … sie alle hatten schon mit Ambrosz geredet, ihm gesagt, dass er es nicht hätte verhindern können. Er hatte sich brav bedankt, und als er das nächste Mal zum Dienst erschien, zeigte er, dass es ihm besser ging; dass er keine Schuld fühlte, lediglich etwas Trauer.
Zumindest bemühte er sich, so zu fühlen. Bemühte sich, seine Fassade aufrecht zu erhalten. Lediglich Marek wusste, dass es ihm nicht gut ging.
Hassan Marek. Ambrosz musste wieder daran denken, wie Marek ihm erzählt hatte, dass ihn der Anblick von SCP-092-DE-04 nach Monaten noch immer verfolgte, wie er die Schreie der Opfer nicht aus seinem Kopf bekam. Und wie Ambrosz aus einer Laune heraus vorschlug, Mareks Kopf mit Erinnerungen an angenehmere Schreie zu füllen.
Und wie Hassan und Ambrosz in jener Nacht noch beide vor Lust geschrieen hatten.
"Du bist ihnen zu nahe."
Ambrosz zuckte zusammen und ließ beinahe seine Zigarette fallen, als die bekannte Frauenstimme ihn aus seinen Gedanken riss.
"Du könntest deine Besuche auch mal ankündigen, Senna." Er wandte sich nicht um. Er wusste, dass sie in der Ecke des Balkons stand, so wie immer.
"Ambrosz, du kannst so nicht arbeiten", sagte Senna. "Du bist den anderen Mitgliedern der MTF zu nahe gekommen."
Ambrosz schüttelte seinen Kopf. "Das ist nicht wahr. Ich gefährde meine Tarnung nicht, nur weil ich mit einem von ihnen schlafe."
"Es geht hier nicht um eine Gefährdung deine Tarnung." Senna schnaubte. "Im Gegenteil, wir haben vielmehr die Sorge, dass deine Tarnung bald keine Tarnung mehr ist, sondern die Wahrheit."
"Ich weiß, wem meine Loyalität gehört." Ambrosz schnaubte. "Ich habe eine unschuldige Frau sterben lassen deswegen."
"Und ich weiß, dass das nicht einfach war. Aber du wachst regelmäßig schweißgebadet auf und kotzt dir die Schuldgefühle aus dem Leib. Saskia war ein tragisches Opfer, aber nicht dein Opfer. Nicht unser Opfer. Sie war das Opfer von Rass' Machtgier."
Ambrosz seufzte. "Ich hätte sie retten können."
Senna seufzte nun ihrerseits. "Das weißt du nicht. Es war ein mächtiger Seelenfresser von einer Ebene, mit der die Akademie kaum Erfahrung hat."
"Ich schon." Ambrosz wandte sich um und blickte Senna fest in die Augen, auch weine seine glänzten. "Ich habe Rass' Aufzeichnungen studiert. Ich habe die Rituale studiert. Ich hätte drei schnelle Zauber gehabt, um den Seelenfresser auszuschalten und Saskia zu retten."
"Das … wusste ich nicht." Senna schüttelte den Kopf. "Aber du darfst dich deswegen nicht schuldig fühlen. Du hast deine Tarnung aufrecht erhalten, wie es deine Aufgabe ist."
Ambrosz nickte. "Ja. Und ich habe zugelassen, dass die Seele einer unschuldigen Frau vernichtet wurde."
"Und genau diese Einstellung macht uns Sorgen", erwiderte Senna. "Du fühlst dich schuldig für notwendige Unterlassungen."
Ambrosz warf den Zigarettenstummel vom Balkon, griff zur Packung und zündete sich eine neue an.
"Mag sein. Aber ich bin dennoch nach wie vor loyal. Und ich würde es wieder tun."
Senna verdrehte die Augen. "Ja, sicher." Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.
"Ich fühle mich vielleicht schuldig, weil ich es zulassen musste … wie sich ein Soldat schuldig fühlt für all die feindlichen Soldaten, die er erschossen hat." Er wandte sich von Senna ab. "Und wie jeder gute Soldat würde ich in derselben Situation wieder so handeln."
Senna murmelte kurz vor sich hin. "Und wenn das bedeuten würde, dass Hassan Marek stirbt?"
Ambrosz nickte. "Dann würde er sterben." Er blickte Senna an. "Ich habe hier etwas Spaß, und wie jeder, der kein Soziopath ist, baue ich Bindungen zu den Leuten auf, mit denen ich arbeite. Aber wenn es notwendig ist, lasse ich jeden einzelnen von ihnen sterben, wenn es meine Tarnung erhält."
Senna lächelte. "Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, würde ich denken, dass du mir nur erzählst, was ich hören will."
Ambrosz seufzte. "Ich könnte dich doch nie anlügen."
"Dann vertrauen wir dir weiterhin mit dieser Aufgabe … aber pass auf dich auf. Wir wollen nicht, dass dir deine Emotionen im Weg stehen."
Und damit war sie fort.
Als Ambrosz schließlich ins Schlafzimmer zurückkehrte, streckte sich Marek gerade.
"Hey Hübscher", murmelte er, "warst du eine rauchen?"
Ambrosz nickte.
"Oh." Marek seufzte. "Du hast wieder von Saskia geträumt, richtig?"
Ambrosz nickte erneut.
"Du darfst dich nicht damit fertigmachen. Du konntest nichts tun."
"Ich weiß." Ambrosz setzte sich auf die Bettkante und gab Marek einen Kuss. "Aber ich fühle mich trotzdem schuldig."
Marek nickte und lächelte sanft. "Es ist normal, so zu fühlen. Aber es ist gut, dass du nicht den starken Mann spielst, dem nichts etwas anhaben kann."
Ambrosz lächelte zurück. "Ich könnte dich doch nie anlügen."