Das Leben ist keine Dating-Sim, die du einfach gewinnen kannst.

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Miss Hyde hatte es sich in ihrem bunten Flicken-Sitzsack bequem gemacht. Ihre Augen waren wie gewohnt von einer Virtual-Reality-Brille verdeckt. Eine von der übernächsten Generation. Eigentlich ein Prototyp, der noch getestet wurde. Sie besass einfach einen.



Ihr Avatar schwebte in einem Cyberroom, der thematisch an eine Wasserwelt ausgerichtet war.
Minus den Fischen. Nur ein marineblauer Raum mit einem sandfarbenen Boden.
Ihre virtuelle linke Hand hob sich. Im Schein des nicht echten Dämmerlichtes tippte sie die Passwörter auf die transparente Tastatur ein.

<Zugriff bestätigt.>

<Willkommen Zuhause.>

Der Server verarbeitete die hausgrosse Kugel, die ihr geheimer Rückzugsort darstellte.
Ihr Avatar schwamm darauf zu, kaum bewegend und passiv, eine Art Treiben. Sie zog sich am Türrahmen rein und die Gravitation-Engine reagierte und lies sie Fuss fassen.

Vor ihr erstreckte sich eine Blumenwiese und ein helles, himmelblaues Firmament mit vereinzelt generierten Wolken. Es war für Hydes Geschmack peinlich kitschig, aber für sie funktionierte es erstaunlicherweise sehr gut als Kraftort. Einfach im Gras sitzen und den Himmel betrachten, so einfach. Sie war dann mit sich im Reinen. Nicht über den Alltag denken. Nicht an ihren Alltag denken…



„Hey, Hyde! Aufwachen.“

Hyde löste benommen die Brille von ihrem Gesicht. Sie rieb sich die Augen um in die ‚echte Realität’ zurück zu finden. Ihre Stimme war stockend und leise.

„Was… ist,… Bao?“

Das Gesicht der Halbchinesin Bao strahlte eine freundliche Ungeduld aus.

„Wir haben unsere Besprechung bald. Und ich will Dir noch was zeigen.“


Wie es sich alle zwei Wochen am Montag gehörte, hatten sich die sechs Angestellten des Studios Pocket Panzer versammelt um den Stand bei ihren Videospiele-Projekten zu besprechen. Verständlicherweise konnten sie nicht an mehr als drei Spielen gleichzeitig arbeiten - sie bekamen Unterstützung von weiteren vier Teilzeit-Programmierern - aber die Gruppe war erst vor kurzem gegründet worden. Ab und zu halfen Bookworm, I&I und R&R Studios mit vorgefertigten Texturen und Code, wobei ‚helfen‘ etwas beschönigt war.

Jedenfalls sassen die sechs Mitglieder, die den Kern ausmachten, um den achteckigen Tisch. Zu sagen war, dass solche Sitzungen sehr locker genommen wurden. Auch diesmal. In der Mitte erhob sich ein schlichter Schokoladenkuchen mit Puderzucker und einer dünn Schicht Schlagsahne mit braunen Meringue-Stückchen, umgeben von bunten Tellern. Was aber Hyde mehr auffiel, war ein Spielzeug-Vehikel, das seine Runden um das Gebäck zog. Ein junger Mann mit blonden Haaren von knapp 25 sah von einer Verpackung auf.

„Salut, Hyde.“

„Salut, Schakal.“

Schakal verwendete – wie eigentlich alle im Studio – seine Nutzernamen aus der Videospielewelt. Ein Running Gag, wo niemand genau mehr wusste weshalb sie überhaupt damit begonnen hatten. Seinem Namensvetter Ehre machend war er dünn, fast schon mager, neben der leicht pummeligen Bao und der durchschnittlichen Hyde.

„Sieh mal her, was Bao aufgetrieben hat.“

„Schau, was Cooles es kann.“

Bao klatschte dreimal in die Hände. Der Mini-Panzer tuckerte herum, stoppte vor dem Stück, das Hyde am nächsten war und spuckte aus dem Lauf eine rote Schokoladenlinse aus. Mit einem leisen ‚platscht‘ landete sie auf dem Sahnehäubchen. Hyde hätte schwören können, dass eine Piepsstimmchen „Treffer“ rief. Das Vehikel versuche beflügelt durch seinen Erfolg die anderen Stücke zu beschiessen, doch Schakal griff ihm. Trotz verzweifeltem Wackeln des Laufes, hob Schakal ihn auf und versorgte ihn in der Verpackung mit der Aufschrift "My Little Panzer".
Sehnsuchtsvoll, wie das ein Spielzeug ohne ein Gesicht halt zeigen kann, sah der Panzer aus dem Verpackungsfenster zu der Torte.

„Das war nur der Anfang. Probiere doch jetzt mal den Kuchen.“

Hyde mochte diese Art von übersüssten Backwaren nicht so, doch die anderen sahen sie erwartungsvoll an. Hyde spiesste etwas vom Tortenstück auf ihre Gabel. Sie verschluckte sich fast.

„Die ist ja… ja… Woher habt ihr sie?“, hustete sie.

„Ja, dachten wir auch. Bao hat sie aus einer Konditorei, die gerade einen Häuserblock weiter geöffnet hat. Hexenküche, irgendetwas in diese Richtung. Von dort haben wir auch diesen Spielzeugpanzer her.“

Hyde verspeiste begeistert den Rest.

„Hey, wartet ihr nicht auf mich? Ich will auch Kuchen und besonders Tee!“

Conan, dessen Spitzname von seiner englischen Herkunft kam, schenkte in seine Riesentasse mit der Aufschrift „Es gibt DOCH Feen!“ den erwähnten Tee ein.

Als ihre Chefin Holly als das letzte Mitglied sich zu ihnen gesellten, nahmen alle Platz.
Die äthiopischen Zwillinge Queen Sphinx und Pharao Leo waren froh, endlich ihre Scheiben probieren zu dürfen, auch wenn sie heimlich schon genascht hatten.

Bao gab Schakal einen Kuss auf die Wange. In Hydes Herzgegenden krampfte sich alles zusammen. Sie mochte Schakal, doch sie wurde immer noch nicht damit fertig, dass Bao mit ihm zusammen war.
Conan entging es nicht, dass Hyde einen Moment versteifte, doch sagte nichts und nahm einen Schluck. Er hatte seine eigenen Probleme.

Holly wischte sich die Krümel aus dem Gesicht.

„Also fangen wir endlich an. Wir können unser Krimi-Thriller Visual Novel nicht ‚Distrust ‘ nennen, Sphinx und Leo. Der Name ist schon von einer anderen, grösseren Firma benutzt worden.“

Sphinx und Leo stöhnten so gequält sie konnten.

„Hyde, wie weit bist du mit ‚God Complex‘?“

Hyde schrak auf. Sie konzentrierte sich auf das Formulieren einer Antwort.

„Gut… eigentlich sehr gut… Ich bin jetzt beim Einrichten der Innenräume.“

„Prima, sag wenn Hilfe von Nöten ist“, bevor eine Antwort kommen konnte, war das Gespräch schon weiter.



Hyde liebte es, alleine in ihrer künstlerisch generierten Welt zu arbeiten. Natürlich war sie keine Person, die nicht soziale Interaktion genoss.
Sie war schon als Kind eine Tagträumerin gewesen, als sie noch mit Bao Sandburgen gebaute und Videospiele spielte.

Wischend, Kneifend und mit Fingern spreizend füllte sie den noch leeren und virtuellen Raum mit digitalen Objekten und Texturen. Es hatte etwas meditativ-repetitives und Hyde war schnell in Gedanken versunken.

Die Einkaufsstrasse des Spiels hatte ihr sehr viel Spass gemacht mit ihren Details, die sie alle selber von Hand Schritt für Schritt gesetzt hatte. Sie verglich es mit der Arbeit eines Malers. Schicht für Schicht, wie Farbe, gestaltete sie die Welt, des zukünftigen Rollenspieles.

Der Laden der Schneiderin und der Eingang der Tempelanlage waren schon fertig, das Waffengeschäft bereitete ihr noch Kopfzerbrechen, deswegen lenkte sie sich mit der Trankbrauerei ab. Sie versuchte mit Shading-Werkzeug herauszufinden, ob Lila oder doch Blau besser für die Blumen am Eingang waren.
Hyde schnipste in der Luft und der Rechner lud die Standard-Not-Player-Figur für Testzwecke bei der Tür. Mechanisch lief sie rein, wie ihr Protokoll es verlangte. Hyde biss sich auf die Unterlippe und knapperte an dieser. Nein, so konnte sie es nicht machen. Die graue Gestalt ohne Gesichtszüge würde hier nicht weiterhelfen.

„Computer. Nutze Spieleravatar.“

<Eingabe bestätigt>

Baos zierliche Elben-Barbarin BarbaRosa nahm den Platz des NPCs ein und führte die Spieleravatar-Animation aus. Übertrieben breitbeinig und Ellbogen-herausstreckend winkte sie Hyde zu, bevor sie wieder in eine neutrale Haltung zurückkehrte. Das Verhalten des Avatars war normal, um zu kennzeichnen, dass ein Spieler aufgetaucht war. Die Entwickler von Pocket Panzer hatten sich einen Spass gemacht all ihren Spielfiguren eigene Begrüssungen zu geben.

Hyde musste schmunzeln. Sie sollte mal den Computer neu einrichten, dass er nicht mehr Baos Avatare bevorzugte. Wieder schnipste sie und wieder führte der Rechner die Animation aus, die später für das Betreten gedacht war. Als die Figuren vor der Entwicklerin hielt, betrachtete Hyde das Gesicht, das verständlicherweise der Schöpferin glich. Wieder zog sich alles in ihrem Inneren zusammen. Der Drang, das karitative Ebenbild zu berühren, überwältigte sie. Zärtlich strich sie mit ihrer unechten Linken über die unechten Wangen. Die Sensoren erkannten die Bewegung nicht, deswegen wurde auch der Tastsinn nicht entsprechend stimuliert. Hyde war es gleich.



Wieder lag Miss Hyde auf ihrem Sitzsack. Die Virtual-Reality-Brille hatte sie zurechtgerückt.
Unter dem Rand quoll ein kleines Rinnsal von Tränen.
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