Kantinenfraß mit rosa Herzchen

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Vorausgehende Geschichte: Willkommen in der fünften Dimension


Mit gesenktem Kopf lief sie über den Übungsplatz des Standortes-DE8. Sie hasste es, hier sein zu müssen. Am liebsten wäre sie unten im Allgäu geblieben und hätte an diesem freien Tag einen Ausflug auf einen der vielen verschneiten Gipfel gemacht. Und hätte ihr Arzt ein Okay gegeben, stünde sie nun auf Skiern und raste eine Piste hinab. Doch stattdessen war sie nun hier und versuchte, unauffällig zu bleiben. Jedoch ist das gar nicht so einfach, wenn man wahrscheinlich die einzige Person war, die nicht in festlicher Kleidung, sondern im Stil entspannter Tag in der Großstadt aufkreuzte. Die Beine waren in dunkelblauen Jeans verpackt, deren Enden knapp über einem Paar Sneakern hingen. Ihr Oberkörper steckte in einem schlichten, blauen Pullover, der zusätzlich von einem warmen Filzmantel umhüllt wurde. Den Kopf gesenkt und die Hände in den Taschen, so versuchte sie zu vermeiden, dass jemand zufällig ihre Haut zu sehen bekam. Statt, wie die anderen Gäste, Jacke oder Mantel in die vorbereitete Garderobe — für die natürlich nicht gehaftet wird — zu bringen, ging sie direkt weiter einen breiten Gang hinab. Ein weiteres Mal wurde nach ihrem Ausweis gefragt. Sie legt ihn vor und blickt dem Mann kurz ins Gesicht, um den Kopf direkt wieder zu senken.

"Oh… Äh… Tut mir leid, Frau Arlenn. Sie dürfen."

Mit einer ihrer abscheulichen Hände nahm sie den Ausweis zurück und ging weiter ihres Weges, der irgendwann in einem halb mit Gästen gefüllten Saal mündete. Wände und Decke der hohen Halle, die eigentlich für Übungen von MTFs vorgesehen ist, waren reichlich in rot verziert, mit vereinzelten rosafarbenen und violetten Akzenten. Sie hätte nie gedacht, dass die Foundation zu derartigem Kitsch in der Lage wäre. Auch das Buffet erstrahlte in den gleichen Farben, und auch unter den Gästen waren sie keine Seltenheit. Da war ihr die einsame Ecke neben dem Notausgang wesentlich lieber. Also bezog sie dort Stellung und betrachtete, wie unzählige Paare verschiedensten Alters hineintrudelten. Nur selten waren Einzelgänger wie sie selbst zu sehen. Und die meisten dieser seltenen Exemplare waren Teil des Personals, das die ganze Veranstaltung organisiert hatte und nun am Laufen hielt. Immer wieder fielen Blicke auf sie, wie sie da in der Ecke stand und beobachtete. Einmal lief eine hysterische Frau mit einem molligen Mann zum Sicherheitspersonal und beklagte sich. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was dort geredet wurde.

"Herr Wächter, dort drüben die Dame ist definitiv ein feindlicher Agent. So sehen Sie doch, wie sie aussieht und wie sie rumschaut!"

Der Wächter warf einen kurzen Blick zu ihr hinüber, bevor er wahrscheinlich mit einem "Ma'am, die Dame hat allen Grund, derart gekleidet zu beobachten" antwortete. Dann ließ er die Nervensäge stehen und widmete sich relevanteren Angelegenheiten. Die Zicke jedoch ließ das nicht auf sich sitzen und stapfte mit ihren meilenhohen Absätzen und mit ihrem Mann zu ihr hinüber.

"Die Dame, der liebe Herr Wachmann dort drüben meinte, ich soll zu Ihnen hinüber gehen und bitten, dass Sie aufhören, derart zu starren. Es ist äußerst unangenehm und verdrängt allen Komfort hier bei dieser Veranstaltung."

Sophie seufzte und meinte: "Wäre es Ihnen lieber, wenn ich mit erhobenem Haupt durch die Reihen marschiere und alle mit meiner Präsenz erfreue?"

"Das wäre zumindest eine Verbesserung."

Sie hebt den Kopf und blickte der Zicke direkt in die größer werdenden Augen.

"Das wäre es nicht. Einen schönen Tag noch."

Die Nervensäge fuhr erschrocken zurück und machte sich verstört schnellstmöglich vom Acker.

Abgelöst wurde sie durch eine ältere Dame in einem langen, roten Kleid. Sie lehnte sich einfach an die Wand neben ihr und wartete auf eine Reaktion.

"Warum zwingen Sie mich, an derartigen Veranstaltungen teilzunehmen?"

Ein leises Lachen, das mehr nach einem Schnauben klang. Dann: "Sie müssen endlich Ihre Blase verlassen und wieder Teil der Gesellschaft werden. Was bringt es denn, allein und abgeschottet Bergluft zu genießen, wenn mit der Erfahrung bei niemandem angeben kann?"

"Sie wissen nur zu gut, dass Leute wie ich-"

"Dass Leute wie Sie was?", wurde Sophie unterbrochen, "Dass Leute wie Sie nicht akzeptiert werden? Oh nein, das weiß ich nicht."

"Nein, ich meine-"

"Sie meinen, dass Sie selbst einfach nur Angst davor haben, mit anderen Menschen zu kommunizieren? Oh ja, das weiß ich sehr wohl."

"Was? Ich-"

"Machen Sie sich nichts vor. Sie wissen es genauso gut wie ich."

"Jetzt verstehe ich, warum man Sie Die Lehrerin nennt", meinte Sophie resignierend.

Die Lehrerin schmunzelte: "Ja, das wird den meisten erst klar, wenn ich mich mit ihnen unterhalte. Und ich gebe Ihnen einen Tipp: Verstecken Sie ihre Haut nicht. Pfeffer ist für manche doch das bessere Gewürz als Salz."

"Bitte was?"

"Naja", ihre Worte wurden zu einem Flüstern, "Es heißt, manche Leute bevorzugen Exotischeres."

Mit diesem Satz ließ die Lehrerin ihre verdatterte Gesprächspartnerin stehen und ging von dannen.

Die nächsten fünfzehn Minuten verliefen für sie ziemlich ereignislos. O4-8, die soeben noch mit ihr gesprochen hatte, eröffnete das Buffet und ordnete an, die Musik anlaufen zu lassen.

Doch dann nach kurzer Zeit hörte sie ein Räuspern neben sich. Erschrocken fuhr sie herum und erblickte das Gesicht eines Mannes, der in etwa in ihrem Alter sein musste.

"Äh, hi… Ich bin Richard Heller." Er hielt ihr die Hand hin.

Nach einem kurzen, unangenehmen Schweigen, während dem sie ernsthaft erwog, einfach abzuhauen, schüttelte sie mit ihrer empfindlichen Hand die seine.

"Sophie Arlenn. Hi."

"Ich weiß, wer Sie sind. Und es beeindruckt mich, was Sie in so jungem Alter erreicht haben! Ich meine, wir sind fast gleich alt — denke ich — und ich stehe nur hier als Forscher mit einem kaum gefüllten Lebenslauf, während Sie Tore zu anderen Zeiten öffnen!"

"Ich… Äh, danke", endlich ließ er ihre Hand los, "Woher wissen Sie überhaupt davon? Diese Information ist streng vertraulich."

"Nicht für die Raumzeit-Forschung", erwidert ihr Gegenüber, "Mit keinem anderen Unfall kann man klarer machen, wie gefährlich unser Forschungsgebiet doch ist."

"Oh… Das wusste ich gar nicht. Toll, dass ich das auch mal erfahre."

"Moment, was? Der O4 hat Ihnen nicht davon erzählt?"

"Offensichtlich ja nicht…", erwiderte Sophie.

"Oh… ähm… wusste nicht, dass das eine merkwürdige Art von abgedrehten Betriebsgeheimnis ist, mein Fehler", meinte er, bevor er sie kurzerhand am Arm in Richtung der gegenüberliegenden Wand zog.

Schmerzerfüllt entfuhr Sophie ein kurzer Schrei, als ihre noch immer empfindliche Haut unangenehm gequetscht wurde.

"Oh, verdammt", rutscht es Richard heraus, "Tut mir leid. Brauchen Sie was für den Arm?"

Sophie schüttelte den Kopf und sagt: "Geht schon."

Der Mann blickte ihr kurz ins Gesicht, meinte dann aber: "Warten Sie kurz. Ich habe eine Idee."

Als hätte sie groß eine andere Wahl, ließ sie sich wieder an der Wand hinabrutschen, bis sie auf dem harten Boden saß.

Als Richard wieder bei ihr auftauchte, hielt er zwei Pappteller in den Händen: "Vielleicht ein schlechter Zeitpunkt, aber wollen wir uns nicht vielleicht duzen?"

Sophie zuckte mit den Schultern.

"Okay, super. Also, Sophie. Ich habe dir was mitgebracht. Ein unnötig riesiges Stück Schwarzwälder Kirschtorte mit extra Sahne und herzförmigen Zuckerstreuseln. Das hilft gegen alles, das sag' ich dir."

"Bitte was?"

"Oh, stell es dir vor wie Kantinenfraß mit rosa Herzchen."

Mit diesen Worten ließ er sich neben der verwirrt dreinblickenden Sophie auf dem Boden nieder und gab ihr einen der Teller. Während sie aßen, beobachteten sie die Paare, von denen nicht wenige tanzend über den Boden schwebten. Die magischen Bewegungen, wie die Menge wie eine Einheit hin und her wiegte, sich drehte und ein paar Schritte marschierte, faszinierten Sophie. Eine Sehnsucht kam in ihr auf. Es war über ein Jahr her, dass sie das letzte Mal getanzt hatte. Wäre ihr nicht die unglückliche Sache mit den grauen Gruselgestalten und dutzenden Toten dazwischengekommen, stünde sie jetzt definitiv dort mitten im Saal.

"Schon satt?"

Sophie erwachte ruckartig aus ihren Tagträumereien und merkte, dass sie erst ein paar Happen des Kuchens hinter sich hatte, während Richards Teller nur noch von Krümeln verziert wurde.

"Oh, äh… Nein, ich… ich habe nur gerade nachgedacht. Du kannst mir aber gerne etwas Arbeit abnehmen."

Kurzerhand erleichterte er ihren Teller um gut die Hälfte der Last. Wieder setzte eine kurze, fast unangenehme Stille ein. Obwohl, eigentlich waren da noch immer die Musik und das ohrenbetäubende Geschnatter der anderen Gäste, doch Sophie kam es wie Stille vor. Nun bediente sie sich großzügig an dem Kantinenfraß mit rosa Herzchen. Ein amüsiertes Lächeln huschte kurz über ihr Gesicht.

"Huch, muss ich mir jetzt etwa Sorgen machen?", kam es von Richard.

Sophie schüttelte den Kopf und schaufelte eine weitere Ladung Kirschtorte in ihre Luke, bevor sie grinsend nuschelte: "Kantinenfraß mit rosa Herzchen… Wie kommt man auf sowas?"

"Gute Frage", kam die Antwort vom ebenfalls schmunzelnden Richard, "Vielleicht hätte ich ja eine Karriere als Stand-Up Comedian einschlagen sollen…"

Wieder trat ein Schweigen ein. Als sie aufgegessen hatten, nahm er ihr den Pappteller ab und entsorgte ihn gemeinsam mit dem eigenen in einem dafür vorgesehenen Müllbeutel. Er kehrte zu ihr zurück und hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Für den Moment nicht an ihre Verletzungen denkend ließ sie sich helfen.

"Darf ich die Dame zu einem Tanz verführen?", kam die unerwartete Frage.

Nun fiel ihr der Zustand ihrer Haut wieder ein. Peinlich berührt entzog sie ihre Hand seinem Griff und wandte sich leicht ab.

"Ich-"

Sie kam jedoch nicht weiter, da plötzlich eine wohlbekannte weibliche Stimme durch die Lautsprecher dröhnte.

"Liebe Gäste, werte Damen und Herren", sprach O4-8, Die Lehrerin, "Der Grund dieser heutigen Versammlung ist keinesfalls nur der Tanz und der Kuchen. Wir haben uns heute unter anderem auch hier versammelt, um zwei Mitarbeiter zu ehren, die große Dienste für unsere Aufgabe geleistet haben. Wollen wir also keine Zeit verschwenden und kommen direkt zur ersten Ehrung: Nun, ich werde nicht zu sehr ins Detail gehen können, doch ich kann Ihnen versichern, dass Agent Eduard Heller über zehn Jahre hinweg jeden Kontakt mit unserer Gesellschaft und sogar seiner Familie vermieden hat. Und er tat dies für unsere Sache, für unsere Sicherheit, für unsere Ziele. Und deshalb haben wir uns entschieden, ihn für außerordentliche Dienste im Sinne unserer Organisation auszuzeichnen. Einen kräftigen Applaus, bitte!"

Während das Geräusch zahlreicher aufeinander treffender Hände den Raum erfüllte, kletterte ein stämmiger Mann mit grauen Haaren die wenigen Stufen zur Bühne hinauf.

"Das ist mein Vater", brüllte Richard, sodass Sophie ihn auch über den Lärm hören konnte.

Richards Vater Eduard schüttelte O4-8 die Hand und nahm das Zertifikat entgegen, das sie ihm hinhielt. Die beiden wechselten noch ein paar kurze Worte, die nicht durch das Mikrofon erfasst wurden, bevor sie sich wieder dem Publikum zuwanden. Eduard Heller sprach noch ein paar Worte und dankte seiner Frau und seinem Sohn dafür, dass sie immer an ihn geglaubt haben und ihm trotz seines Einsatzes treu geblieben waren. Dann gab er das Mikrofon zurück und verließ die Bühne unter Applaus.

"Die zweite Person, die ich heute ehren möchte, war die Forschungsleiterin des Hawking-Projektes, die bis zuletzt daran geglaubt hat. Sie erlitt unglaubliche körperliche Bürden dabei, unserer Sache zu dienen. Sophie Arlenn! Applaus, bitte!", kam die nahezu enttäuschend kurze Ausrufung.

Sie hatte gewusst, dass dies passieren würde. Und doch stand sie dort wie zur Salzsäule erstarrt, während alle Augen auf ihr lagen. Am liebsten wäre sie an Ort und Stelle im Erdboden versunken. Die Blicke, die ihr ehemals nahezu komplett verbranntes Gesicht abtasten, das nun nahezu komplett von Narben überzogen war, fühlten sich an wie hunderte Bienenstiche. Richard murmelte ihr etwas ins Ohr und schob sie ein wenig in Richtung Bühne, bis ihre Beine ihre Aufgaben übernahmen und sie selbstständig hinauftrugen. Die kurze Totenstille im Raum wurde durch leises Getuschel abgelöst, als O4-8 ihr die Urkunde in die Hand drückte und ihr persönlich gratulierte. Plötzliches, energisches Klatschen ertönte aus der Ecke, in der sie eben noch gestanden hatte. Sie blickte in Richards Richtung und bemerkte, wie er und seine Eltern für sie applaudierten. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht und der Damm war gebrochen: Die gesamte Halle wurde von dem ohrenbetäubenden Applaus erfüllt, als sie einen Knicks andeutete und die Bühne wieder verließ. Sie ging zu Richard und seiner Familie, die sie herzlich empfing und ihr gratulierte. Nach einem kurzen Gespräch zog es Eduard Heller und seine Frau — ihr Name war Fiona und sie arbeitete ebenfalls als Forscherin für die Foundation — auf die Tanzfläche. Richard klopfte ihr vorsichtig auf die Schulter und gratulierte ihr erneut.

Mit einem Grinsen meinte er nun: "Darf ich die Dame jetzt zum Valentinstag auf die Tanzfläche entführen?"

Sophie nickte lächelnd.

"Aber zuerst gönnen wir uns noch eine übergroße Portion Kantinenfraß mit rosa Herzchen."


Nachfolgende Geschichte: Lügen zur Osterzeit

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