Jugend der Sünden
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Das Tier wand sich auf dem Untersuchungstisch hin und her. Verzweifelt versuchte es, sich zu befreien, doch nichts konnte es jetzt noch vor den Versuchen des Wissenschaftlers retten. Es war erst vor wenigen Tagen angekommen, doch in dieser Zeit hatte es mehr Quälerei und Schmerz erfahren, als in seinem bisherigen Leben. Das Tier versuchte zu rufen, damit ihm vielleicht andere helfen würden, doch sein Schicksal war besiegelt. Gliedmaßen festgeschnallt, damit es dem Wissenschaftler nicht gefährlich werden konnte. Maul zugestopft, damit es keine ablenkenden Laute von sich geben konnte. Sämtliche Behaarung abrasiert, damit der Körper sauberer und leichter zugänglich war. Das Tier war nichts als ein Objekt. Seine Angst, obwohl enorm, insignifikant für die Menschen, die um den Tisch herum standen; und nicht anders als die Angst der hundert Tiere, die vor ihm auf diesem Tisch gelegen hatten. Eines von vielen, nicht wirklich anders, als alle anderen, mit Ausnahme von zwei unbedeutenden Kleinigkeiten.

Dieses Tier war erst 16 Jahre alt und hieß Thomas Schaechter.

Der Wissenschaftler setzte das Skalpell seitlich am Brustkorb des Tiers an, machte einen schnellen, aber präzisen Schnitt, der die sechste linke Rippe entblößte und das Tier trotz des gestopften Mauls zum Schreien brachte. Dann noch ein paar Schnitte, bis jede Rippe auf der linken Seite zu sehen war. Blut floss über den Untersuchungstisch und tropfte zu Boden, doch der Wissenschaftler nahm nur am Rande Notiz davon. Er flüsterte ein paar Worte und jeder einzelne Blutstropfen kehrte um, tropfte aufwärts, floss zurück in den Körper des Tiers. Danach griff er zu einem Glas, welches auf einem kleinen Tisch neben ihm stand. Die dunkelgrüne Substanz daraus verteilte er mit einem Pinsel auf die Rippenknochen. Jeder Tropfen, der auf den Körper des Tiers tropfte, verursachte ein Zischen und schnell verbreitete sich der Geruch schmelzender Knochen im Raum. Das Tier schrie unentwegt.

"Doktor … können Sie ihn nicht zum Schweigen bringen?", fragte die Krankenschwester, die hinter dem Wissenschaftler stand.
"Ich könnte durchaus, Schwester Albrecht." Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. "Aber falls dieses Experiment Erfolg haben soll, muss ich zu jeder Zeit in der Lage sein, seine Stimme zu hören."
Schwester Albrecht nickte. "Ich verstehe. Verzeihen Sie."
"Schon in Ordnung. Mir ist bewusst, dass Sie noch nicht an diese Arbeit gewöhnt sind. Das wird sich bald ändern."
Nachdem alle Rippenknochen mit der dunkelgrünen Substanz bedeckt waren, stellte der Wissenschaftler das Glas samt Pinsel wieder auf den kleinen Tisch.
"Schwester. Die Spritzen."
Schwester Albrecht griff zu einem abseits stehenden Tisch und nahm die Spritzen zur Hand. In einer befand sich eine weiß-graue Substanz, in der anderen eine rote.
"Wie besprochen: Spritze Alpha zwischen die zweite und dritte Rippe; Spritze Beta zwischen die achte und neunte", instruierte der Wissenschaftler.
Schwester Albrecht stach die Injektionsnadeln in das Fleisch zwischen den Rippen; das Tier schrie lauter. Für einen Moment schien Schwester Albrecht mit den Tränen zu kämpfen, ehe sie den Kopf schüttelte und sich ein entschlossener Ausdruck auf ihrem Gesicht ausbreitete.
"Gut. Nun wie wir es geübt haben, -"
"Jawohl, Herr Doktor."
"Unterbrechen Sie mich bitte nicht, Schwester Albrecht." Der Wissenschaftler warf ihr ein Lächeln zu. "Dies ist eine delikate Prozedur, ich will die Anweisungen nur wiederholen, um Unfälle auszuschließen."
Schwester Albrecht nickte.
"Ich werde nun eine gewisse Formel sprechen, während ich meine Hände auf dem Brustkorb des Tiers liegen habe. Derweil ich das tue, werden Sie, wie wir es geübt haben, beide Spritzen in den Köper des Tiers injizieren; beginnend mit meinem ersten Laut in einer langsamen, aber gleichmäßigen Geschwindigkeit. Hören Sie auf das Ticken der Uhr und passen Sie die Geschwindigkeit so an, dass in jeder Sekunde etwa ein halber Milliliter je Spritze in den Körper des Tiers übergeht. Verstanden?"
"Jawohl, Herr Doktor. Ich werde Sie nicht enttäuschen."
"Davon bin ich überzeugt", flüsterte der Wissenschaftler mit einem Lächeln. Dann trat er an das Kopfende des Untersuchungstisches und legte dem Tier jede Hand auf eine Brust. Als seine linke Hand die grüne Substanz an den Rippen des Tiers berührte, war ein leises Zischen zu hören, begleitet von dem Geruch verbrennenden Fleisches. Der Wissenschaftler zuckte nicht.

Dann begann er, die Formel zu sprechen.
"Lux praesidio. Numquam mori. Numquam uri. Daemonium relinquere domum suam. Voco te. Voco cor tuum. Accipere sanguinem fratris tui. Unum cor et sanguinem. Corde suo exinde. Daemonium in robore. Ignis de daemonium. Sub sua potestate. Infinita tutela umbra."
Seine Stimme war dieselbe, doch klang sie wie tausend. Schwester Albrecht injizierte derweil die Flüssigkeit, genau so, wie es ihr der Wissenschaftler geheißen hatte; und mit dem letzten Wort der Fomel verschwanden auch die letzten Tropfen beider Substanzen im Körper des Tiers.

Zunächst passierte nichts.

Dann jedoch, ein leises Rascheln, und dann barsten purpurne Flammen aus dem Mund des Tiers.
Schwester Albrechte starrte mit weit aufgerissenen Augen und umklammerte die im Brustkorb steckenden Spritzen reflexartig.
Dann barsten purpurne Flammen aus den Augen des Tieres, und der ganze Rumpf begann purpur zu glühen.
"Albrecht!", brüllte der Wissenschaftler, packte die Schwester an den Schultern und riss sie vom Tier weg.
Einen Moment später barst der ganze Körper des Tiers in purpurne Flammen.

Die beiden blickten zum brennenden Untersuchungstisch - Schwester Albrecht mit weit aufgerissenen Augen, der Wissenschaftler mit einem sanften Kopfschütteln.

Er murmelte ein paar Worte und die Flammen verschwanden. Nur Asche und glühende Gebeine verblieben.

"Ein weiterer Fehlschlag", flüsterte der Wissenschaftler.
Schwester Albrecht erwachte aus ihrer Schockstarre, blickte ihrem Vorgesetzten in die Augen und flüsterte: "I-ich … es tut mir leid, Herr Doktor. Ich muss die Spritzen zu langsam geleert haben."
"Nein, Schwester." Er bedachte sie mit einem ermutigenden Lächeln. "Sie haben alles richtig gemacht. Ich fürchte, dass allein meine Vorgehensweise für den Fehlschlag verantwortlich ist. Vermutlich werde ich noch Jahrzehnte benötigen, um den richtigen Weg zu finden."
Schwester Albrecht seufzte. "Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Wenn Sie mich nicht weggezogen hätten -"
"Wären sie von dämonischen Flammen verzehrt worden." Der Wissenschaftler lächelte. "Wäre ein tragischer Verlust von Intelligenz und starken Überzeugungen gewesen."
Schwester Albrecht lächelte. "Danke sehr, Herr Doktor." Sie blickte wieder zum Untersuchungstisch. "Was denken Sie … würde der Führer Ihre Forschungen gutheißen, wenn er bei den Fehlschlägen anwesend wäre?"
Und der Wissenschaftler lachte. "Oh, Schwester Albrecht … wenn der Führer mit diesen Opfern nicht einverstanden sein sollte, dann ist das Dritte Reich schon jetzt zum Scheitern verurteilt."
"Sagen Sie so etwas nicht!", rief Schwester Albrecht entsetzt. "Man weiß nie, ob die Schutzstaffel zuhört."
"Sorgen Sie sich nicht." Der Wissenschaftler strich ihr sanft über die Schulter. "Ich habe dafür gesorgt, dass niemand außerhalb dieses Raums auch nur einen Ton hört. Zudem … selbst wenn die SS je beschließen sollte, mir das Leben unangenehm zu machen, so werde ich keine Probleme damit haben, die armen Seelen, die dazu auserwählt wurden mich anzugreifen, auf ewig dafür leiden zu lassen."
Schwester Albrecht lächelte. "Hören Sie auf, Herr Doktor. Sonst fühle ich mich noch ganz geborgen und verliebe mich in Sie!"
Das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes flackerte für einen Moment, ehe er langsam seine Hand von der Schulter seiner Assisstentin nahm. "Sie wissen, dass mein Herz einzig der Wissenschaft und der Reinheit gehört, Schwester Albrecht."
"Natürlich, Herr Doktor. Aber eines müssen sogar Sie zugeben … die Flammen waren wunderschön, trotz ihrer Gefährlichkeit."
Und der Wissenschaftler begann breit zu lächeln. "Da verlasse ich mich ganz auf Ihr Wort, Schwester Albrecht. Aber jetzt hören Sie auf - nicht, dass ich meiner Wissenschaft untreu werde und mich in Sie verliebe!"
Und beide lachten, während die Knochen auf dem Untersuchungstisch langsam aufhörten zu glühen.

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