Im Dammer Forst
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Dr. Medo, 3.1.1976

Ich kann nicht mehr. Ich kann es einfach nicht mehr zurückhalten. Mir hat die oberste Direktion verboten über das Folgende zu reden, aber ich kann einfach nicht mehr stillschweigen, über das, was drüben passierte. Irgendetwas tief in mir sträubt sich dagegen, dies niederzuschreiben. Doch es ist nötig. Ich muss protokollieren, was man versucht, verborgen zu halten. Zumindest fühle ich, dass dies nötig ist. Ich weiß nicht, was richtig oder falsch ist. Angesichts der Fakten und Tatsachen sollte ich es geheim halten. Doch ich fühle mich beobachtet. Ich fühle mich in Gefahr. Ich fühle Angst. Ich fühle, dass ich, wenn ich diese Geschichte nicht erzähle, explodiere und mein gesamtes Umfeld in den Tod reiße. Also macht es am Ende gar keinen Unterschied, egal wie man es dreht und wendet: Ihr werdet sterben, egal ob ich schweige oder spreche. Ihr werdet sterben.

Es begann schon mit den Experimenten an SCP-126-DE und Dr. Randts törichten Vorschlag, weitere Untersuchungen dazu anzustellen. Dr. Remer hatte von Anfang an Recht gehabt, die Forschungen an 126-DE sind unnötig und gehören verboten. Die Foundation tut nicht mehr das, was sie eigentlich tun sollte. Anstatt herauszufinden, wo Anomalien herkommen, versuchen viel zu Viele nur die Anomalien an sich zu untersuchen. Sie sind wandelnde Fanatiker, getrieben von Macht und Wissensdurst. Doch vielleicht muss man erst einmal in den Abgrund geblickt haben, um zu erkennen, was unsere eigentliche Aufgabe ist. Ich erkenne jetzt den Fehler, den ich gemacht habe. Wenn ich zurückdenke an die Zeit, als die Untersuchung begann, würde ich meinen, dass mir da schon klar war, dass mit dieser Anomalie etwas anders war, als bei anderen. Es war etwas Unnatürliches, etwas Altes und Groteskes. Die Schriftzeichen hatten mir damals schon einen Schauer über den Rücken gejagt, als hätte ich sie schon einmal gesehen. Und doch konnte ich nicht sagen, woher ich diese kennen sollte. Trotzdem habe ich diese Omen ignoriert und habe einfach weitergemacht, als wäre es ein ganz normales Projekt. So normal zumindest, wie ein Projekt innerhalb der Foundation auch sein kann.

Um ehrlich zu sein, war ich mir am Anfang nicht mal sicher, warum ich eigentlich bei dieser Untersuchung dabei war. Ich war weder ein Experte für antike Sprachen, wie Dr. Sperling, noch hatte ich den unerschöpflichen Forschergeist von dem jungen und naiven Dr. Randt. Ich war irgendwie unpassend zwischen den beiden anderen. Ich wundere mich heute noch, warum Randt mich damals eingeladen hat, bei dem Projekt mitzumachen. Trotzdem habe ich mich dazu entschieden zuzustimmen. Ich hatte gerade keine großen Fortschritte in einem meiner anderen Projekte zu verzeichnen, da dachte ich, dass ich dieses nutze um wieder an einem Projekt teilzunehmen, bei dem man das Mysterium fast schon schmecken kann.

Wir haben lange gebraucht. Die Schriftzeichen waren keinem von uns bekannt. Wir versuchten sie mit den verschiedensten Sprachen in Zusammenhang zu bringen: germanische Runen, denen sie so ähnlich sahen, und andere antike Schriftsysteme. Ich persönlich habe mich da jedoch meistens rausgehalten. Dr. Sperling fand jedoch bald schon den entscheidenden Hinweis: Die Schrift ähnelte der Form des sumerischen Schriftsystems. Die Symbole waren völlig unterschiedlich und nicht wiederzuerkennen, aber die Anordnung und Wiederholung der Zeichen waren seiner Meinung nach klar. Die Idee kam ihm, gab er selbst zu, als ihm sein alter Professor einen Brief zukommen lies und sich über die neuen Fanatiker an der Universität ausließ, die alle nur so von der akkadischen und sumerischen Schrift schwärmten. Was für ihn Fanatiker waren, war anscheinend für Sperling der Anstoß, den er brauchte. Nun galt es nur noch, die Wörter zu entziffern. Doch bereits hier gelangten wir an die Grenzen unseres Verstandes. Keines der Symbole lies uns auch nur erahnen, was es für eine Bedeutung hatte. Wir liefen gegen eine Wand.

Was mir damals noch nicht aufgefallen ist, war Dr. Randts, ich würde schon fast sagen "besessenes", Verhalten. Zwar habe ich bemerkt, dass er sich keine Minute mehr von dem Projekt trennte, doch das war in der Foundation fast schon normal. Aber ein Detail ist mir damals entgangen, das mir jetzt im Nachhinein einen Schauer über den Rücken jagt: Jedes Mal, wenn er seine Augen wieder über die Kopie des Textes fliegen ließ, die wir aus den Experimenten von Dr. Remer entehmen konnten, murmelte er leise, ganz leise Worte. Er murmelte sie so leise, dass sie für den Unaufmerksamen überhörbar waren. Dr. Sperling und ich haben das gar nicht mitbekommen, sonst hätten wir wahrscheinlich schon viel früher gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmte, hätten die Untersuchung abgebrochen und die Texte zusammen mit SCP-126-DE in ein Schließfach geschlossen und nie wieder geöffnet. Doch es war nicht nur das. Es war auch sein Blick. Das, was ich damals mit Euphorie für die unbekannten Weiten dieses SCPs verwechselte, stellt sich mir im Nachhinein als Wahnsinn heraus. Jedoch bin ich mir da selbst jetzt, nach all der Zeit, immernoch nicht ganz sicher.

Als ich mir dann nach einer gefühlten Ewigkeit eine Pause von der schier grenzenlosen Arbeit nehmen konnte, kam der erste Moment, an dem ich wirklich etwas Unheimliches realisierte: Ich fühlte mich beobachtet. Es war aber kein Verfolgungswahn, nein, sondern eher ein innerer, alter, vergessener Instinkt, der in mir wachgerüttelt wurde. Als würde in der nächsten dunklen Ecke etwas lauern. Jedoch weiß ich nicht wirklich, ob es bedrohlich war. Es fühlte sich eher wie ein ungebetener Gast an. Doch egal wie aufmerksam ich um mich blickte: Es war niemand zu erkennen. Ich war allein in meinem Quartier. Nur ich, wenn meine Augen mich nicht anlügen sollten. Ich widmete mich meinem persönlichen Bericht und dokumentierte unseren Fortschritt, den wir bisher erreicht hatten. Hier und da schweifte ich ab und ließ mich über die unkooperative und herrische Art von Dr. Randt aus. Ich war jedoch vorsichtig genug, meine Entscheidungen, wenn ich vor ihm stand, nicht auf diesen Emotionen basieren zu lassen. Ich überlegte, diese mir unbekannte und unangenehme Präsenz in meinen nächsten Log mit aufzunehmen und mir psychische Beratung zu holen. Aber ich entschied mich dagegen, als das Gefühl wieder verschwand. Es ging, nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte und schlafen wollte. Ich hatte erst gezögert, das Licht auszumachen, da ich Angst hatte, dass dort in der Dunkelheit vielleicht doch etwas lauern könnte. Doch nachdem ich mir erneut Mut zusprach, tat ich es. Mit dem Licht verschwand auch die undefinierbare Präsenz.

Als ich mich am nächsten Tag wieder in unsere Gruppe begab, wurde ich sofort von Dr. Randt angefahren, warum ich denn so spät käme, obwohl ich doch im Zeitplan war. Auch wenn ich wütend darüber war, wie er uns herumkommandierte, bewunderte ich doch auch sein Selbstvertrauen. Ich hätte mich nicht getraut, anderen Dinge in so einem Ton vorzuschreiben. Wir begannen uns über unsere Fortschritte auszutauschen. Dr. Sperling berichtete erneut, dass er erfolglos versucht hatte die Zeichen zu übersetzen. Dr. Randt riet ihm, vielleicht mal eine andere Technik zum Übersetzen zu verwenden. Bei dem Wort "Technik" kam ich auf eine Idee: Man könnte versuchen, mit der neu entstandenen Computertechnologie einen Algorithmus zu entwickeln, der die vorgegebenen Zeichen analysiert und versucht sie zu übersetzen. Das war mein Spezialgebiet. Sperling war etwas skeptisch gegenüber der neuen Technologie, doch Dr. Randts Augen blitzten, während ich den Vorschlag brachte. Danach nickte er nur zustimmend, was auch Dr. Sperling überzeugte. Ich beantragte sofort einen Großrechner von IBM, System/370 Model 125-2, das neuste Modell dieser Zeit. Als die Anlage aufgebaut war, konnte ich mich kaum noch zurückhalten. In großer Euphorie betrachtete ich das große Gerät und begann, die ersten Zeilen FORTRAN zu schreiben. Das schwierigste war, die beiden Schriftsysteme mit dem lateinischen Alphabet darzustellen. Doch nachdem ich diese letzte Schwelle mit ein paar Kniffen überwunden hatte, ließ ich der Maschine ihre Zeit. Sie verglich den Text mit dem Enūma Eliš, dem Gilgamesch Epos und allen anderen erhaltenen sumerischen Überlieferungen.

Nach einigen Tagen und etlichen Diskussionen, zwischen Randt und mir über die Geschwindigkeit des Prozesses, bekamen wir das Ergebnis. Zwei Wörter konnten eindeutig identifiziert werden: Das sumerische "qallu", zu Deutsch "Wald", und "abamātu", was auf Deutsch "Meer" bedeutet. Die anderen Wörter hatten unterschiedliche und zu geringe Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Bedeutungen. Doch diese zwei Wörter und die vom Computer generierte Wahrscheinlichkeitstabelle ermöglichten es Dr. Sperling weitere Zeichen zu übersetzen, die mit diesen in Verbindung standen. Das waren die entscheidenden, noch fehlenden Ergebnisse, die wir gebraucht hatten. Nun kam Dr. Randt auf die brillante Idee, die beschriebenen Wörter als Spezifikation für ein Ziel zu benutzen. Wir machten uns auf die Suche, nach dem Wald, der sich hinter dem Video verborgen hat.

Hier endet der offizielle Bericht. Laut diesem seien wir auf keine Ergebnisse gestoßen. Dies ist, leider Gottes, nicht wahr. Ich wünschte mir so sehr, dass wir es gelassen hätten. Doch das Schicksal spielte gegen uns: Nachdem wir die Faktoren für in Frage kommende Wälder bestimmt hatten und eine Liste von Orten anfertigen konnten, war es an der Zeit gewesen, nach dem Ort der Videoaufnahme zu suchen. Wir bereiteten Trupps vor, die die Liste abarbeiteten und mit Hilfe der Beschreibung der Videoaufnahme einen möglichen Ort ausfindig machen sollten. Zufälligerweise war der erste Ort auf der Liste ein Volltreffer: der Dammer Forst. Er lag im Norden von Deutschland und traf genau auf die Beschreibung der Videoaufnahme zu. Der Ort der Videoaufnahme konnte genau rekonstruiert werden. Nur die Instanzen von SCP-126-DE-1 konnten nicht aufgefunden werden, was uns erst vermuten lies, dass der anomale Effekt möglicherweise erst durch den Videorekorder oder nach der Aufnahme entstanden sein muss. Doch eine so genaue Beschreibung eines Ortes durch eine Anomalie war bedenklich. Was außerdem noch bedenklich war: Die Truppen vor Ort fanden in der direkten Nähe zum Aufnahmeort einen Tunnel, der unter die Erde führte, was wahrscheinlich einen Höhlenkomplex darstellte. Keiner der anwesenden Soldaten sah sich jedoch in der Lage, diesen zu betreten, da jeder von ihnen bei dem Versuch durch eine starke Panikattacke aus dem Schlund vertrieben wurde.

Für Dr. Randt waren diese Ergebnisse fast wie ein wissenschaftlicher Durchbruch. Er sprang wortwörtlich in die Höhe, doch nicht nur sein Körper, sondern auch sein Geist. Er war nach diesen Erkenntnissen so nett und nachsichtig wie noch nie zu Sperling und mir gewesen. Dies hielt sogar einige Stunden an, sodass er uns überzeugen konnte, den O4-Rat um die Erlaubnis für eine Expedition in diese Höhle zu bitten. Die Truppen vor Ort waren nicht mit den nötigen Instrumenten, noch mit den Fähigkeiten ausgestattet um eine Erkundung dieser durchzuführen. Dr. Randt wollte mehr, als nur zu wissen, dass er wirklich existiert. Er wollte ihn sehen, verstehen und wenn es nach ihm ginge, mit den eigenen Füßen betreten. O4-7 stimmte der Expedition zu, mit der Empfehlung MTF DE38-𝔄 (38-Alice) für die Erkundung zu benutzen.

Bereits eine Stunde nach einer Zustimmung durch die O4, sind Helikopter für uns und die MTF bereitgestellt worden. Doch dann passierte etwas, mit dem keiner von uns gerechnet hätte: Dr. Remer traf uns auf dem Landeplatz und meinte, dass er uns begleiten solle. Randt war außer sich vor Zorn. Natürlich hatte er schon während der Entschlüsselung der Schriftzeichen einige Wutausbrüche, aber nie in solchem Maße. Er unterstellte Remer seine Autorität untergraben zu wollen. Dieser blieb jedoch ganz ruhig und beobachtete Randt nur, , leicht lächelndseine Anschuldigungen ignorierend. War es Neugier? Oder vielleicht auch eine Vorahnung dessen, was uns im Forst erwarten sollte? Was hatte Remer gehofft, in Dr. Randt erkennen zu können? Meine endlosen Fragen sollten von noch einer Überraschung verdrängt werden: Während der Auseinandersetzung zwischen Dr. Randt und Dr. Remer hatte sich eine zweite, unerwartete Gestalt dazugesellt. Sie war recht klein, unscheinbar und sie ist mir erst aufgefallen, nachdem Randt plötzlich still wurde. Binnen Sekunden sackte er in sich zusammen und wurde ängstlich. Die Wut in seinem Gesicht wich Angst. Die Frau, die sich später als O4-7 herausstellte, hatte sich an Remers Seite gestellt und wies Dr. Randt in seine Schranken. Aus meiner Sicht war es schwer, sie, nur mit dem Vorwissen ihrer schriftlichen Befehle, erkennen zu können. Sie wirkte ganz anders, als auf dem Papier. Genau das gleiche hätte ich auch über Remer sagen können: Während er noch demütig vor den Unfällen den O4-Rat darum gebeten hat, die Experimente zu 126-DE einzustellen, stand er hier aufrecht, mit einem für mich unlesbaren Gesicht und einer Bestimmtheit mitzukommen, dass selbst ohne O4-7s Hilfe, Randt Remer nicht hätte aufhalten können.

Die Anwesenheit von O4-7 war mir, nachdem wir in den Helikopter eingestiegen, uns von ihr verabschiedet hatten und losgeflogen sind, immernoch schleierhaft. Was hatte diese hohe Instanz der SCP-Foundation bei uns gewollt? Hatte sie etwa, genau wie Remer, eine Vorahnung gehabt, dass mit diesem SCP etwas nicht simmte? Natürlich war dieses SCP nicht normal, welches war auch bitte normal? Aber irgendetwas schien ihnen, wie mir zu Beginn des Projektes, aufgefallen zu sein. Doch ich hatte zu diesem Zeitpunkt leider nicht genug Zeit gehabt, meine Gedanken fortführen zu können, denn der Pilot hatte und bereits berichtet, dass wir das Ziel erreicht hätten.

Der Forst war mit gelben Blättern bedeckt. Auch wenn es eisig war, hat kein Schnee auf dem Boden gelegen. Als ich auch nur einen Fuß auf den Waldboden gesetzt hatte, viel es mir auch schon auf. Ich bekam es mit. Meine Nase verkrampfte sich kurz, doch verlor nur eine Sekunde später wieder die Duftspur, die sie aufgefangen hatte. Noch einmal versuchte ich, diesen Geruch zu erhaschen. Doch es roch nur nach feuchtem Wald. Das ließ mich erst zweifeln, ich dachte, ich hätte mich geirrt. Doch einen Luftzug später war es wieder da: Ein einziger Hauch von einem widernatürlichem, grässlichem Gestank. Dr. Remer hatte meine Geruchsversuche mitbekommen, neigte sich zu mir herab und sprach in einem Flüstern etwas, was den Gestank genaustens identifizierte.

Es roch nach Tod.

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