Viktor kauerte sich hinter die Container und lud seine Waffe durch. Er war über eine lange, schmerzlich frustrierende Zeitspanne von einem miserablen zu einem mittelmäßigen Schützen geworden, allerdings nur, was Handfeuerwaffen betraf. Gewehre waren ihm immer zu sperrig gewesen, sie waren effektiv, keine Frage, aber irgendein nerviger Teil stand immer heraus und war im Weg. Und nun hockte er aufgrund unglücklicher Umstände mit genau so einem Ding in der Dunkelheit und lauschte auf Feindbewegungen. Er spähte vorsichtig um die Ecke, sein Blick wanderte von der Tür zu dem riesigen Fenster, durch das man hinunter in die Hangarhalle blicken konnte. Über der Tür glühte immer noch ein giftgrün leuchtender Streifen und in der Halle zeigten die Rohre der vierläufigen Geschütze inaktiv zu Boden. Schauen so betreten nach unten wie ein Dreizehnjähriger, den man beim Pornogucken ertappt hat, dachte Viktor. Warum dauerte das so lange? Er funkte Mati an.
"Wie sieht es aus? Du müsstest doch schon längst dran sein?"
"Ich bin dran. Dauert nicht mehr lange, die Gatlings sind in ein paar Sekunden bereit. Fast neunzig Prozent", antwortete das Mädchen nach einigen Momenten. Sie klang recht zuversichtlich, Viktor schöpfte ein wenig Hoffnung.
"Mati, die Türen …"
"Hängt alles zusammen, das weißt du doch. Warte, neunundneunzig, hundert!"
Der Raum um Viktor herum wurde in ein pulsierendes rotes Licht getaucht, die verschämten Verteidigungsanlagen hoben ihre Köpfe. Er hörte erst befriedigt, wie die Türe einrastete, dann eine weibliche Stimme, die von überall herzukommen schien.
"Abschottung aktiv, Verteidigung bereit und im Automatik-Modus."
Ein Lächeln schlich sich auf Viktors Züge. Diesmal würde es klappen. Die Zugänge gesichert, die Waffensysteme scharf, jetzt mussten sie nur noch auf Zeit spielen. Er wollte gerade Mathilda darauf hinweisen, dass sie sich gefälligst ein Versteck suchen solle, als er ein metallisches Klicken neben dem linken Ohr vernahm. Er ruckte herum. Und blickte in den Lauf einer Waffe, die von einem Mann in voller militärischer Kampfmontur an die Schulter gepresst wurde.
"Scheiße!", brachte Viktor noch hervor, bevor der andere abdrückte. Aus dieser Entfernung konnte er ihn unmöglich verfehlen und das tat der Soldat auch nicht. Stattdessen stanzte er ein finales Loch in Viktors Stirn. Er war sofort tot.
"Scheiße!", wiederholte er mit einem entnervten Aufschrei, während er zusah, wie sein Charakter zusammenklappte. Ein zweiter Soldat gesellte sich auf dem Bildschirm zu Viktors Mörder und die beiden Figuren begannen einen höhnischen, lächerlich anzusehenden Freudentanz. Und ich weiß nicht einmal, wie das geht, dachte er. Er nahm das Headset mit einer schwungvollen Bewegung ab, rief aber dann noch etwas in das Mikrofon.
"Ja, ist gut jetzt! Mann, anomale Verbindung ist Beschiss, wenn man es genau nimmt!"
Er meinte, Gelächter aus dem Kopfhörer zu vernehmen. Schlechte Gewinner waren sie, die beiden.
"Keinen Rage Quit, bitte", kam es resigniert aus der anderen Ecke des Raumes von Mathilda. Das Mädchen hatte den Kopf in eine stützende Handfläche gelegt und schien sich damit abgefunden zu haben, dass man mit ihm im Team zum Verlieren verdammt war. Viktor schnaubte empört.
"Heidi? Entferne Alice und Stephan aus dem Netzwerk!", verlangte er und nach einem Moment antwortete sein Rechner.
"Vergiss es, Viktor." Gefolgt von mehr Gelächter. Die totale Verschwörung, dachte er, musste aber gegen seinen Willen grinsen. Johnny, den ihr Match nicht interessierte, und der still irgendwelche Dokumente gewälzt hatte, erhob sich.
"Ich gehe dann mal packen."
Der nächste Verschwörer. Viktor stand ebenfalls auf.
"Ace kann ja für mich übernehmen, wenn er Zeit für dich hat, Mati. Ich gehe ein Stück mit Johnny."
Mati sah ihm forschend ins Gesicht, um festzustellen, ob dort irgendwelche boshaften Anspielungen zu erkennen waren. Er bemühte sich um ein Pokerface. Das arme Mädchen sollte sich schließlich nicht doch noch ärgern müssen.
Auf dem Gang gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her, dann hielt sich Viktor mit Zeigefinger und Daumen die Nase zu.
"Oh Johnny, aber hast du kein Gewissen?", brachte er theatralisch näselnd hervor. Johnny blieb stehen und drehte sich zu ihm um.
"Lustig. Wie alt ist das? Älter als Mati?" Und nach einem Moment fuhr er fort: "Was ist los?"
"Ich bin unzufrieden, weil du nicht mit in die Schweiz kommst. So einfach ist das."
Johnny lächelte und stellte seinen Aktenkoffer ab.
"Ich hab' einen eigenen Auftrag. Kommunikation. Arbeitest du nicht gern mit Stephan?"
Viktor war einigermaßen verblüfft und auch ein wenig pikiert. Er verschränkte unwillkürlich die Arme vor der Brust. Abwehrhaltung, erinnerte er sich, genau wie Johnny, der kurz hinsah und dann fragend die Augenbrauen hob. Viktor senkte die Arme wieder.
"Nein, Stephan ist total in Ordnung. Ich bin halt gewohnt mit … egal. Was soll denn das wieder für eine Schädelsprech-Angelegenheit sein? Wieder Blaubeer-Götterspeise? Oder das Ding aus dem Amazonas?"
"Ich weiß es noch nicht. Also, spuck's aus. Es geht um die Kinder, stimmt's?", bohrte Johnny weiter.
Manchmal kommt er mir wie ein deutlich stärkerer Telepath vor, dachte Viktor. Intuition oben, ganz am Anschlag.
"Wie soll ich denn vernünftig arbeiten, wenn ich ständig aufpassen muss, dass sie nicht rumknutschen?", machte er.
"Gegenfrage: Warum sollten sie nicht? Und was könnte ich da machen? Du erzählst mir hier eine Menge Bullshit, Kumpel. Die Wahrheit ist, du hast Angst um die Kids und willst den größtmöglichen Schutz dabeihaben."
Viktor holte tief Luft und ließ sie so entweichen, dass er wie ein höchst ausdauerndes Furzkissen klang. Er setzte zu einer Antwort an, aber sie wurde ihm abgenommen.
"Niemand muss sich Sorgen machen. Ich habe noch jemanden für den Einsatz eingeteilt, das wird dich sicher beruhigen, Viktor", sagte eine wohlbekannte sanfte Stimme hinter ihm. Doch in der Sanftheit verborgen lauerten Steine, Klingen und Glasscherben für diejenigen, die es sich mit Bell Ainsworth verscherzten.
"So? Wen denn? Ich hätte ganz gern den Roboter dabei", sagte Viktor, ohne sich umzudrehen.
"Mich. Die Sache könnte mich persönlich angehen. Büro, in einer Viertelstunde, Viktor. Und gute Reise, Johnny."
Mit diesen Worten, wehenden Gewändern und ebenso wehendem rotem Haar schritt Bell davon. Johnny zog abermals die Augenbrauen hoch.
"Wow. Mit der Chefin im Gepäck. Bist du jetzt beruhigt oder noch beunruhigter?"
Viktor wusste es nicht genau, das inoffizielle Briefing würde ihn möglicherweise erleuchten.
"121, beim Freigang Sicherheitsprotokolle beachten!"
"140, öfter mal die Klappe halten!"
Sie umarmten sich kurz.
"Pass' auf dich auf, Kumpel", sagte Viktor.
"Du auch. Aber du bist unvernünftig. Dann pass' wenigstens auf die Kinder auf."
↑
"Ist ja nicht das erste Mal, was, Stephan?", feixte Viktor, als sich die vierköpfige Gruppe nach dem Sprung durch Standort-DE20 bewegte. Mathilda blickte von ihrem Ziehvater zu Stephan hinüber. Er trug seinen weißen Forscherkittel, nur ausnahmsweise gebügelt, möglicherweise sogar am Kragen gestärkt. Wenigstens musste er keinen D-Klasse-Overall zur Tarnung tragen, wie sie und … Ace. Ja, sie würde erst einmal dabei bleiben, dem Jungen schien es nichts auszumachen, wenn man ihm irgendwelche Namen gab. Oder ob man bei seiner, wie sie es nannte, Katalognummer 136-DE, blieb. Stephan schritt schneller aus als gewöhnlich und ihr fiel auf, dass er sich absolut nicht wohl zu fühlen schien. Sie selbst war im Laufe ihres Lebens häufig hier eingedämmt gewesen, er dagegen war hier stationiert gewesen, soweit sie wusste. Warum ging ihm der Standort plötzlich gegen den Strich? Ihrer Meinung nach war DE20 der wahrscheinlich am heimeligsten anmutende Standort, wenn man in diesen Fällen solche Maßstäbe überhaupt anlegen konnte. Sie strich im Vorübergehen über das warme Holz, mit dem die Wand vertäfelt war. An der Optik konnte es eigentlich nicht liegen.
"Für dich genauso wenig, wenn du dich erinnerst. Warst ziemlich konfus, beim letzten Mal. Wir nehmen diesen Fahrstuhl hier, der bringt uns direkt zu den Fahrzeugen", sagte Stephan bestimmt und blickte den Gang ziemlich auffällig in beide Richtungen hinunter. Was hatte er denn nur?
Die Tiefgarage war nach strengsten symmetrischen Grundsätzen aufgebaut, von Neonröhren mit solcher Strahlkraft ausgeleuchtet, dass das Licht bläulich wirkte, wie in einem OP. Sie wirkte beinahe genauso sauber, wenn man von den verschiedenen Wagenspuren absah. Im krassen Gegensatz dazu der Zustand der bunt durcheinandergewürfelten Fahrzeuge: Limousinen mit einer Patina aus Stadtstaub, Sportwagen, die Fronten gesprenkelt mit zerquetschten Insekten, Geländefahrzeuge voller frischem und getrocknetem Schlamm. In einiger Entfernung mühten sich drei orangefarben gekleidete Personen mit der Reinigung eines Hondas ab. Wahrscheinlich taten diese Leute den lieben langen Tag nichts anderes.
"Sich um normale Autos kümmern ist wahrscheinlich besser, als wenn sich anomale Autos ihrerseits um einen kümmern", kommentierte der Junge, der bis auf weiteres Ace hieß.
"Gut, Stellplatz 4240, Viktor, du hast die Schlüssel?"
Viktor hatte sie. Hier unten wirkte Stephan etwas entspannter. Mathilda betrachtete die mit Schablonen aufgesprühten Zahlen der Parkbuchten. Die Garage musste riesig sein. Die Gruppe bog um eine Ecke, deren äußerste Kante von einer vorspringenden Säule gebildet wurde. Dahinter war die Decke um einiges höher und auch der Beton des Bodens hatte eine andere Farbe. Mathilda kannte das Material, es war dafür gedacht, hohes Gewicht und vor allen Dingen die Ketten von Panzerfahrzeugen auszuhalten. Die Parkbuchten waren dementsprechend bemessen, allerdings nur spärlich belegt. In etwa zwanzig Metern Entfernung beschäftigten sich zwei Männer in Uniform mit einem Spähpanzer. Der eine, ein bärtiger Kerl mit einem Dutt, den Mathilda reichlich lächerlich fand, arrangierte Tarnnetze auf dem Fahrzeug, während sein breitschultriger Kollege etwas von der Kühlerhaube kratzte und hochhielt. Er kommentierte seinen Fund und der Bärtige nickte zustimmend. Stephan machte ein Geräusch, das irgendwo zwischen Ungläubigkeit und Resignation anzusiedeln war.
"Genau das wollte ich vermeiden. Lasst uns schnell vorbeigehen, links. Die müssen nicht wissen, dass ich hier bin", sagte er leise und ziemlich gepresst.
Leute aus seiner Vergangenheit, dachte das Mädchen. Allerdings passten die militärisch-soldatischen Typen so gar nicht zu Stephans intellektuell-ruhigem Habitus. Leider hatte er sich nicht völlig unter Kontrolle, er war kurz zögerlich stehengeblieben und sein Gang veränderte sich danach. Dies wiederum schien den beiden Männern aufzufallen, schwer zu sagen, ob diese Aufmerksamkeit instinktiv oder antrainiert war. Jedenfalls drehten sich die Kerle vollends zu ihnen herum. Das Gesicht des Bärtigen hellte sich auf. Der andere, der Mathildas Ansicht nach bis auf eine etwas störende Narbe auf dem Nasenrücken ziemlich gut aussah, veränderte seinen Gesichtsausdruck nicht. Allerdings taxierte er jeden in ihrer Gruppe aufmerksam und abschätzend, irgendwie so, wie ein Fleischkenner die Auslage eines Steakhauses studieren mochte.
"Na, das ist doch die Faust! Die Faust Gottes!", lachte der Mann mit dem Dutt, der andere nickte grüßend, während er sich die Hände an einem ölverschmierten Lappen abwischte. Mittlerweile waren sie nahe genug herangekommen, dass Mathilda die MTF-Anzüge der beiden erkennen konnte. 20 Rena, drei merkwürdige Augen in einer Art Zahnrad zierten seitlich ihre Oberarme.
"Wolfgang, … Johan", sagte Stephan mit einem seltsamen Klang in der Stimme.
"Du hast Nerven, dich hier blicken zu lassen, nachdem du dich so mir nichts dir nichts aus dem Staub gemacht hast."
Es war nicht möglich zu sagen, ob der muskulöse, kantige Kerl einen Spaß machte oder nicht.
"Ich habe euch sehr wohl Bescheid gegeben, dass ich versetzt worden bin. Das kam auch für mich recht plötzlich und ich musste mein Zeug von jetzt auf gleich packen."
"Offizielle Papiere, das ja. Aber unter Kollegen wäre eine weitere Erklärung schon ganz nett gewesen. Mussten uns plötzlich umgewöhnen und neu aufstellen ohne euch."
Inzwischen war der andere an seine Seite getreten und hatte sich dort postiert wie der Staatsanwalt neben dem Richter.
"Das stimmt. Und das Schlimmste an der Sache, Peterson hast du gleich mitgenommen. Hat mich wirklich schwer getroffen. Wie geht es ihr denn?", kam die Frage in unverkennbar süffisantem Tonfall.
Oha, dachte Mathilda. Und Viktor, der offensichtlich dasselbe dachte wie sie, sah langsam zu Stephan hinüber, sagte aber ausnahmsweise nichts dazu. Stephan verspannte sich einmal mehr sichtlich.
"Es geht uns gut, keine Sorge. Und ihr lebt ja auch noch, ich sehe ab und zu nach, wie es um Rena steht."
"Während ich absolut nichts über euch finden kann. Wo dienst du jetzt, Stephan?"
Doch der winkte ab.
"Du kennst die Politik, Johan. Bist du stumm, brauchst du kein Amnesikum. Es ist geheim, das alte Spielchen."
"Euer ganzes Grüppchen riecht nach Salzwasser. Ihr wart noch vor ganz kurzer Zeit in Meeresnähe. Standort 7? 25? Auf jeden Fall ist Freund Fernsicht hier auch nicht mehr in seinem Bunker," sagte der Mann, den Stephan Johan genannt hatte, und sah Viktor an.
"Huh? Kennen wir uns?", machte der überrascht.
"Hab' dich mal gesehen. Du warst Außenagent, aber trotzdem in Standort 17 stationiert. Kam mir merkwürdig vor. Dazu die Riesenbrille, auch wenn du jetzt scheinbar Linsen trägst. Deswegen erinnere ich mich an den Spitznamen. Fernsicht."
"Tja, falsch, Sherlock. Der Name war "Sichtschutz". Und ihr seid die berühmten Renal-Leute. Renal … hab' nie begriffen, was das mit Nieren zu tun hat, ihr seid ja schließlich keine Pisser, was? Kleiner Spaß. Und euer nom de guerre …"
Mathilda musste sich stark bemühen, nicht zu stöhnen oder die Augen zu verdrehen, um nicht aus der Rolle zu fallen. Aber ihr Ziehvater mit der großen Klappe war nicht zu bremsen. Johnny fehlt, dachte sie, der hätte ihm jetzt mental ins Ohr geschrien.
"… die Hipster!", sagte er mit Blick auf Wolfgang. "Nein, Moment, die Unterwäschemodels! Oder die Preisboxer? Wie kommt es, dass man mit einem derart lädierten Organ noch solche feinen Nuancen erschnuppern kann? Mein Kompliment!"
Mit einem Schritt war Johan bei Viktor und rammte ihm im Takt seiner Worte den Zeigefinger vor die Brust. Das wirkte auf Mathilda recht bedrohlich, denn der Mann war deutlich größer und breiter als Viktor.
"Nicht frech werden, Freundchen, ja? Wenigstens kann ich ohne Hilfsmittel unterscheiden, wo meine Beine aufhören und der Fußboden beginnt. Haben sie dich versetzt wegen der Scheiße, die du in 17 abgezogen hast?"
"Langsam, Johan. Was für eine Scheiße?", schaltete sich der Dutt ein und zog seinen Kollegen ein wenig nach hinten.
"Da war eine Abteilung Antons zu Gast in Standort 17. Einer hat ihn wohl dumm angemacht."
"Wegen der 'Riesenbrille'!", warf Viktor ein, mit einem Ton in der Stimme, als sei er darauf auch noch stolz.
"Da hat er den Soldaten wohl gefragt, ob er sich schon stärker fühlen würde. Der andere fragt warum und unser Freund hier hat ihm weisgemacht, die Scheiße einer Entität im Standort würde ins Essen gemischt, weil sie anomal stark muskelaufbauend und kraftsteigernd wäre."
Wolfgang lachte auf.
"Und dann?"
"Das hat der Soldat natürlich nicht geglaubt. Zunächst. Aber weitererzählt hat er es. Da kamen Zweifel auf, ob nicht was dran sein könnte. Schlussendlich hat die eine Hälfte gefressen wie die Scheunendrescher und die andere Hälfte hat sich tödlich davor geekelt. Zwietracht allenthalben", erzählte Johan düster, Wolfgang verkniff sich offenbar weiteres Gelächter.
Mathilda nahm sich vor, diesen damaligen Vorfall immer zur Sprache zu bringen, wenn Viktor wieder einmal zu großspurigen Reden über Vernunft, Verantwortung und erwachsenes Verhalten ansetzen würde. Damit hatte sich der Umweg über DE20 bereits für sie gelohnt. Stephan unterbrach die angespannte Situation.
"Alles Schnee von gestern. Wir müssen leider wirklich weiter. Enger Zeitplan." Dabei deutete er auf Ace und sie. "Ihr versteht sicher!"
"Grüß' mir Peterson!", sagte Wolfgang fröhlich.
"Bis dann, Stephan. Gutes Gelingen, bei was auch immer. Und …" Johans Blick wanderte zu dem Ausweis an Viktors Jacke. "… man sieht sich immer zweimal, Eißner!"
Viktor blickte seinerseits auf die Brust seines Gegenübers.
"Immer 'freye' Nebenhöhlen! Man riecht sich immer dreimal!"
↑
Sicher konnte man der Landschaft etwas abgewinnen. Die Berge waren hübsch hoch, wie sie sein sollten, umsäumt von Wäldern, so wie gesundes Zahnfleisch gesunde Zähne umsäumt. Wäre das Wetter nicht so beschissen gewesen. Als sie Andermatt hinter sich ließen und die Serpentinen zum Pass hinauffuhren, hatte Viktor das Gefühl, dass der hängende Nebel und die diesigen Wolken sich die Hand reichten. Die Sicht war schlecht, der Nieselregen irgendwie nichts Halbes und nichts Ganzes, obendrauf schien es im Wagen nicht recht warm werden zu wollen. Und die Kinder auf der Rückbank rochen wie anderthalb Parfümerien. Viktor schaltete die Klimaanlage höher.
"Wie kommt Dr. Ainsworth zum Treffpunkt?", fragte Timey von der Rückbank.
"Noch drei Kurven, pinkeln bitte in die Limoflasche", gab Viktor zurück und fügte, nachdem Mathilda von hinten gegen seinen Sitz getreten hatte, hinzu:
"Entschuldigung. Ich weiß es nicht. Unsereiner muss eben zum Standort, alles abholen und dann konventionell zum Ort des Geschehens. Wegen eines Autos. 'Sjhlfels soll sauber bleiben', na ja. Wie auch immer, die Chefin hat andere Möglichkeiten. Aber sagt doch mal selber, das Wetter …"
"Wird nicht besser werden, wie ich das sehe. Auch weiter im Osten hält sich der Tiefdruck wahrscheinlich." Stephan klappte den Laptop auf seinem Schoss zu und strich sich eine Strähne seines langen Haares hinter das Ohr.
"Gehen wir die Sache noch einmal durch, nur grob. Wer mag?" Stephan drehte sich mit aufmunterndem Gesichtsausdruck nach hinten um. Der Junge schnaubte, als Mathilda nicht reagierte. Doch dann beugte er sich vor.
"Meldungen von anomalen Vorkommnissen. Bestätigte Verletzte, keinerlei bestätigte Sichtungen. Frappierende Übereinstimmungen mit der lokalen Folklore. Eine ziemlich aufgeheizte Stimmung in dem … Was ist das eigentlich? Ein Dorf ja nicht mehr wirklich, aber da zwischen den Hängen kann es ja wohl auch nicht 'Stadt' genannt werden. Zwei Parteien, die Anwohner wettern gegen einen Teil der Tunnelarbeiter. Ich verstehe nicht ganz, warum wir hier die Untersuchung leiten sollen. Wir sind dafür da, die Reste durchzuwühlen. Wenn alles vorbei ist. Polizei wird kurz gehalten. Das heißt, von oben wird gesteuert. Man sagt uns nicht alles. Oder Mati und ich erfahren nicht alles."
Viktor lächelte. Er fühlte sich an seine Anfänge bei der Foundation erinnert. Der Junge hatte pflichtgemäß und, wie ihm eingetrichtert worden war, in sachlichem, prägnant-präzisem Ton heruntergeleiert, was er wusste. Dann hatten sich eigene Überlegungen in den Redefluss geschlichen. Der Junge dachte für sich selbst. Er mochte ihn eigentlich. Was der halbwüchsige Kerl, der Mati den Hof machte, nicht unbedingt zu wissen brauchte.
Gerade erreichten sie den höchsten Punkt des Passes, wo vor Zeiten aus einem wahrscheinlich winzigen Häuschen im Zuge der touristischen Erschließung eine Unterkunft, später eine relativ komfortable Herberge und schlussendlich ein Hotel entstanden war. Auf dem schmalen Parkplatz davor parkte eine Vielzahl von Motorrädern, einige dampften im kalten Regen. Imposante, wahrscheinlich handgemalte Schilder an der verwitterten Fassade des unwahrscheinlich nahe an die Strasse gedrängten Gebäudes zeigten den Stier des Kantons Uri und den Steinbock Graubündens. Da waren Butzenglasscheiben und das Versprechen von Gemütlichkeit.
"Hier können wir einen Kaffee trinken!", rief Mathilda.
"Pinkeln in die Limoflasche!", murrte Viktor, aber er hatte im Wissen, den Kürzeren zu ziehen, bereits den Blinker gesetzt.
Die weitere Fahrt gestaltete sich interessant, Viktor hatte nach vielen weiteren Serpentinen das Gefühl, etwas drücke auf seinen Magen, was sicher nicht an den ewigen Wendungen liegen konnte, oder dem Stück Kuchen. Weiter unten, in den größeren Schleifen standen mitunter Kühe, das Grün um die Tiere herum war immer noch sattgrün, trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit. Dann wieder sahen sie nach unten rechts in das Tal des Vorderrheins, wo man einen Golfplatz angelegt hatte. Damit einher gingen völlig unmoderne Hüttchen, von deren gehämmerten Blechdächern der Regen perlte. Noch später wurden aus Blechen Holzschindeln. Aber so, wie sich neue Abfahrten von der Strasse häuften, so mischten sich in die alten Gebäude auch moderne, kantige, in ihrer Farbgebung scharf hervorstehende. Bei einem hatte Viktor das Gefühl, ein Wohnhaus verschlinge einen Schafstall, der dabei mit verzogenen Brettern ein gequältes Gesicht formte. Und hier, in den tieferen Lagen, schienen wenigstens über die Straße Nadelbäume ihre Zweige zu legen wie schützende Handflächen. Oder wie welche, die eine Fliege fangen wollen, dachte er. Er konzentrierte sich und versuchte, seine Gedanken von der einlullenden Stille im Wagen und der ewig entlangführenden Straßenführung wegzubringen. Die Kinder waren völlig ruhig im Fond, so still wie er als … Und da rastete es in seinem Hirn ein.
"Wie heißt der Ort nochmal? Oder der Nebenort? Die Herberge?"
Stephan schreckte ein wenig hoch, er mochte eingedöst gewesen sein. Aber er war schnell mit der Information zur Hand. Er sagte es ihm. Der Regen hatte zugenommen und prasselte auf den Wagen, genau wie die Erinnerungen auf Viktor einschlugen.
"Erzähl' mir was über Karma, Stephan", verlangte er. Das konnte kein Zufall sein, denn er war schon einmal dort gewesen, als Kind. Und hatte sich im Bus genauso passiv benommen wie Mathilda und Timey, der Tachyonenknabe, der nun Ace hieß. Oder wie auch immer. Seine Gedanken schwirrten, als mehr Details und Bruchstücke dazukamen. Er dachte an die Brücke, genau in dem Moment, als sich hinter einem kurzen Tunnel und einer weiteren Kurve das Tal weit öffnete und er sie aus der Ferne sah. Sie spannte sich kerzengerade weit oben über den Fluss und verband die Felder unterhalb des Ortes mit einer Art Felsen, auf dem sich eine Handvoll Häuser erkennen ließen. Eines davon war die alte Jugendherberge und Viktor spürte deutlich, dass sie für die ganze Unternehmung ihren Stützpunkt darstellen würde.
"Ernsthaft? Warum?", fragte Stephan zweifelnd.
"Vergiss es. Ab hier kenne ich mich aus."
"Kunststück, hier gab es ungefähr zwei Möglichkeiten, falsch abzubiegen", meldete sich Mathilda gehässig aus dem Hintergrund.
Sie hatte natürlich übertrieben, aber nicht stark. Die Hauptstraße durchschnitt schnurgerade den Ort, die imposantesten Gebäude drängten sich von beiden Seiten heran und verdeckten die Bauten dahinter. Dieser Umstand erzeugte den Eindruck, der Wagen bewege sich durch einen Schlauch aus Häusern, nur hier und da zweigte ein Gässchen ab wie ein Äderchen aus einer Arterie. Als sie das Ende der Gebäudezeile schon sehen konnten, bog Viktor nach rechts ab und die Straße fiel nun sanft ab durch abgemähte Felder bis hin zu der Brücke. Sie sah noch genauso aus wie zu der Zeit, als Viktor ein pummeliger, zwölfjähriger Blindfisch gewesen war; gerade wie eine Seite eines Zimmermannswinkels, errichtet aus Spannbeton, gesichert mit einem stählernen Geländer. Sie überquerten sie, Viktor parkte kurzerhand an ihrem Ende auf einem ziemlich lädierten Fleckchen Erde.
"Was ist denn los? Warum hältst du an? Da oben ist die Herberge!", stellte Stephan fest.
"Weiß ich schon", machte Viktor und stieg aus. Es war kühl hier auf etwa 1400 Metern, er steckte die Hände in die Jackentaschen und marschierte los. Hinter ihm stiegen Mathilda und Ace ebenfalls aus. Auf der Brücke blickte er versonnen nach unten. Dann sammelte er Speichel im Mund und spuckte geräuschvoll in die Tiefe. Die Spucke schaffte den Weg nicht nach unten, sondern wurde einen Wimpernschlag später vom Wind in der Luft zerrissen.
"Eklig!", sagte Mati angewidert; Ace, der wirkte, als ob er Lust gehabt hätte, ebenfalls zu spucken, nahm Abstand von seinem Vorhaben. Viktor drehte sich um und stapfte zurück zum Endpunkt der Brücke. Ein winziger, abschüssiger Pfad führte unter den Betonblock, der sie mit dem festen Untergrund verband. Wegen des Regens war nicht daran zu denken hinunterzusteigen. Eigentlich sollte man da niemals runtersteigen, heute hätte ich Schiss, dachte Viktor. War es möglich, dass man als Kind mutiger war? Er verneinte in Gedanken die Frage für sich, man war eher verantwortungsloser und wahrscheinlich auch einfach nur dümmer. Bei der Erinnerung an das Gesicht seines Paukers, als er sie bei einer der ersten Zigaretten dort unten erwischt hatte, während seine Beine über einem gut achtzig Meter tiefen Abgrund baumelten, schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht.
"Geht die Untersuchung etwa schon los, oder was?", maulte Ace.
↑
Von den teilweise modernisierten Häusern, die sich an die recht steile Flanke des Beinahe-Berges schmiegten, war die Jugendherberge das oberste und blickte auf die anderen Behausungen hinab. Aus einem Rohr unterhalb des Gebäudes gurgelte unablässig Wasser in eine lange steinerne Rinne, um am anderen Ende wieder in einem Loch zu verschwinden. Ein weiterer Kontrast zwischen modern und altertümelnd waren eine Tischtennisplatte aus Beton nebst einem grauen Transformatorhäuschen, die neben einem uralten Holzschuppen und der Herberge selbst beinahe absurd wirkten. Weiter oben führte ein Weg zu einer strahlend weißen Kapelle. An diesem Teil der Schweiz hatten sich die Reformatoren die Zähne ausgebissen. Oder sie waren ihnen eingeschlagen worden, dachte Viktor.
Viktor stoppte den Motor direkt neben der Eingangstür. Der Parkplatz war vergleichsweise großzügig bemessen, wahrscheinlich mit maschineller Gewalt dem Hang abgetrotzt. Ähnlich wie bei dem "Zwischenangriffstollen" für den Basistunnel weiter unten auf ihrer Seite der Schlucht. So neutral die Schweiz war, so dringend wollte sie die Anbindung an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz. Mathilda und Ace sprangen beinahe aus dem Wagen, reckten und streckten sich. Stephan und Viktor ließen sich ein wenig mehr Zeit. Neben der Tür befand sich ein kleines, vierflächiges Fenster. Viktor wischte an einer der kleinen Scheiben und sah dann hinein: eine Küche mit zwei breiten Herden, ein quasi antiker Holzofen von gargantuesken Ausmaßen, Eckbank à la 70er inklusive Tisch und drei Stühlen. An der gegenüberliegenden Wand hingen der Größe nach geordnet Pfannen und Töpfe aus Messing, aufgereiht wie Soldaten beim Appell. Ein Gesicht schnellte auf der anderen Seite vor die Scheibe, Viktor wich instinktiv zurück.
"Neugier ist der Katze Tod", lachte Bell immer noch, als sie die Gruppe einließ.
"Studien aus Vermont haben gezeigt, dass unlustige, humorlose Streiche, wie beispielsweise kindisches Erschrecken, zum Tod führen können." Viktor warf seine Reisetasche geradezu in den Gang.
"Viktor, diesmal ohne ein Herumtänzeln am Rande der Insubordination, verstanden?"
Linkerhand befand sich die Tür zu der Küche, in der Bell gewartet hatte, gleich rechts führte eine schmale Stiege nach oben. Geradeaus verlor sich der Gang beinahe im Zwielicht. Der bewölkte Himmel draußen ließ am Ende eine Art Kellerabgang erahnen. Wahrscheinlich war es eher so etwas wie eine natürliche Kühlkammer. Außerdem gab es noch eine weitere, niedrige Tür, die wahrscheinlich zum Essbereich führte.
"Jetzt sucht euch erstmal alle ein Zimmer. Die beiden hinteren sind Betreuerzimmer, das rechte ist meins, also Finger weg. Wenn ihr fertig seid, treffen wir uns in der Küche", kommandierte die Chefin und fügte hinzu: "Der Schweigsame und der Geschwätzige bringen bitte ihre Jacken mit." Viktor verkniff sich die Frage nach dem warum.
Oben war die Decke offenbar angehoben worden, doch die alten Balken waren noch vorhanden, so dass man als Erwachsener zweimal leicht den Kopf einziehen musste, wollte man den hinteren Teil des Flurs erreichen. Dort wie auch neben der schmalen Treppe befanden sich kleine Fenster mit alten Schnappverschlüssen. Von dem bauchigen, handgemachtem Glas rann der Regen wie Tränen von den Wangen eines Kindes. An zwei der Türen, die nach rechts abgingen, hingen Schilder mit Piktogrammen, die die Räume als Badezimmer und Toiletten für jeweils Männlein und Weiblein auswiesen. Es roch nach feuchtem Teppich, es war klamm und kalt. Stephan nahm sich kurzerhand das erste Zimmer links. Mathilda und der Stoppuhr-Junge betraten wie selbstverständlich eines der anderen Gruppenzimmer gemeinsam, wie Viktor erzürnt beobachtete. Er beschloss, getreu dem Motto "Wehret den Anfängen" einzuschreiten.
"Auf den letzten zwei Metern brauchst du ihr dann auch nicht mehr die Koffer zu tragen", bemerkte er beim Eintreten.
"Verlaufen?", fragte Mathilda, die ungeniert Unterwäsche auf einem der unteren Hochbetten verteilte. Gegenüber packte Ich-verspäte-mich-nie ebenfalls aus. Viktor war ehrlich schockiert.
"Ich nicht, aber der da. Ihr schlaft nicht im selben Zimmer, damit das gleich klar ist."
"Hmm, doch, ich glaube schon", gab Mathilda völlig unbeeindruckt zurück.
"Dann ruf' ich am besten mal Emilia an. Nur um zu schauen, was sie dazu sagt", fuhr Viktor das größte Geschütz in seinem Arsenal auf.
"Mama weiß Bescheid. Schon seit vier Monaten übrigens. Sie findet das völlig normal."
Sie kam durch das Zimmer und schob ihn sanft aber bestimmt aus dem Raum. Mit einem freundlichen "Wiedersehen" schloss sie die Tür vor seiner Nase. Viktor spitzte die Lippen, bis sie aussahen wie das hintere Loch einer Katze. Es stimmte also, Väter und gehörnte Ehemänner erfuhren alles immer als letzte. Empört suchte er Stephan auf und trat ohne zu fragen ein.
"Wusstest du, dass … oh", machte er.
Er erinnerte sich wieder an das Hufeisen, das vor langer Zeit irgendwie von unten in einen der Deckenbalken in der Mitte des Zimmers geschlagen worden war. Es bildete eine Öse oder auch einen Griff. Die halbstarken Jungen in seiner Klasse hatten einarmige Klimmzüge daran geübt und einen Wettstreit daraus gemacht. Wenn sie gewusst hätten … Stephan drehte sich um und folgte Viktors Blick.
"Oh nein, bitte nicht", seufzte er resigniert.
"Keine Sorge, der beißt nicht mehr."
Die grauschwarze Gestalt eines beleibten Mannes in bäuerlicher Kleidung wurde ruckartig in Richtung Decke hochgezogen. Das Phantom zappelte krampfhaft und wehrte sich nach Kräften, während die toten Augen hervorquollen und die Zunge aus dem Mund hing. Nach einigen Momenten war es vorbei, der Geist erschlaffte, nur noch die Füße zuckten. Dann verschwand er für einen kurzen Augenblick. Warum das Hufeisen, fragte sich Viktor. Vielleicht hatte der Kerl irgendwelche Betrügereien oder Diebstahl im Zusammenhang mit Pferden begangen. Dafür war er bestraft worden, konsequent und endgültig. In früheren bäuerlichen Gesellschaften, in denen ein Pferd einen immensen Wert darstellte, hatte man in solchen Angelegenheiten sicher absolut keinen Spaß verstanden.
"Stephan, was ich seh', ist so überhaupt nicht gefährlich. Du kannst ruhig hier schlafen!"
"Ja, sonst noch was? Auf keinen Fall. Schlaf du doch hier!", presste Stephan hervor und stopfte seine Wäsche energisch zurück in seinen Koffer.
Natürlich suchte sich Viktor ebenfalls ein anderes Zimmer, er überließ seinem Kollegen das freie Erzieherzimmer, er selbst quartierte sich neben Mati und Ace ein. Kontrollmaßnahme. Er verstaute seine Habseligkeiten in einem Schrank, nur seine Pflichtlektüre legte er auf eines der Stockbetten. "Die Sagen Graubündens", eine teilweise recht blutige Lektüre. "Man fand ihn am Morgen so fein zerhackt, dass die Hühner ihn aufpicken konnten", das war eine gängige Wendung. Als er fertig war, begab er sich nach unten in die Küche.
"Du kannst die Jacke gleich anbehalten", sagte Mathilda und Bell nickte zustimmend, während Viktors Blick an einem finster dreinblickenden Ace hängenblieb.
"Sie wollen, dass wir Holz hacken für das Ding da."
"Ach komm schon, Bell. Heiz' den Ofen magisch an und wärm' bitte die Zimmer, das geht doch viel schneller und für eine Koryphäe wie dich ist das ein Klacks. Oder nicht?", fragte Viktor, konnte sich die Antwort allerdings denken.
Bells Zeigefinger pochte rhythmisch auf das geblümte Tischtuch. Und das war nie ein gutes Zeichen.
"Sprich nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast. Ich möchte bitte, dass du und der Junge draußen den Hackklotz aus dem Schuppen schafft und ein paar Armvoll Scheite spaltet", insistierte die Chefin.
"Verstehe, aber ist das jetzt eine Bitte oder ein Befehl? Und wieso muss Stephan nicht mithelfen?", wollte Viktor frech wissen. "Nichts für ungut, Stephan."
"Noch ist es eine Bitte, kann sich aber sehr schnell ändern. Und wenn du keine Lust aufs Grobe hast, hättest du ja auch einen Doktor machen können. Ich brauche Stephan hier für die intellektuellen Feinheiten."
"Ace und ich sind also im doppelten Sinne die Dummen hier", schmollte Viktor, der unverschuldet durch sein Schicksal aus dem Universitätsbetrieb geworfen worden war.
Da waren sie nun, zwei anomale, loyale Mitarbeiter der Foundation. Viktor war erfahrener Agent und seiner Meinung nach hocheffizient. Und der Junge … hat natürlich sehr großes Potential, wenn er nur seine Hände bei sich behalten würde, dachte Viktor.
"Warum nennt ihr mich 'Ace'?", fragte der junge Mann, während er lustlos Stämme übereinanderwarf.
"Irgendwie muss man den mysteriösen Gentleman ja nennen. Ihr scheint ja ein tolles Verhältnis zu haben, Mati und du. Das war doch ihre Idee und das erzählt sie dir nicht?"
"Warum, wollte ich wissen."
Viktor stellte den ersten Scheit auf den Klotz und griff nach der Axt.
"Deine Nummer ist 136, richtig? Für die Eins steht ein A, für die Drei ein C und so weiter", erklärte Viktor und machte sich bereit.
Ace überlegte und sagte dann: "Schwachsinn, das ergibt 'Acf'!"
"Künstlerische Freiheit. Aber wo wir gerade dabei sind, also du und Mati…", begann Viktor. Im nächsten Augenblick fand er sich neben dem Block wieder. Er hielt keine Axt mehr, dafür lag ihm ein beachtlicher Haufen fertiges Brennholz zu Füßen. Hätte mir auch einen Scheitel ziehen können mit dem Scheit, dachte er. Der junge Mann sah ihn aus seinen gelben Augen an.
"Bevor ich darüber mit dir quatsche, mach' ich lieber die Drecksarbeit."
"Du Knallkopf mit den Leberschadenaugen! Erste Regel für Schüler in Hogwarts: Außerhalb wird nicht gezaubert! Wenn das jetzt jemand gesehen hätte?"
Ace ließ sich zu keiner Antwort herab. Sie packten ihre Ausbeute in eine Schubkarre aus dem Schuppen und der Junge schob sie stoisch um das Haus herum. Viktor stutzte. Da lehnte etwas neben der Haustüre, das im ersten Moment wie ein nicht zeitgemäßer Jutesack für Post wirkte. Etwa um die Mitte des ziemlich prall gefüllten Dings verlief ein eng geschnürter Gürtel, der den Sack in die Form einer Sanduhr zwang. Es war ein Behältnis für Mehl, auf dem oberen Abschnitt war das verwaschene Wort "Farina" zu lesen.
"Fass das nicht an!", kommandierte Viktor und klopfte an die Türe.
↑
Nachdem sie eingelassen worden waren und sich frierend, jeweils bis zum Kinn beladen mit Scheiten wieder in der Küche eingefunden hatten, ließen sie das Holz geräuschvoll in eine Kiste fallen. Das einladende Aroma von frisch aufgebrühtem Tee hing in der Luft, die anderen hatten es sich schamlos schon einmal gemütlich gemacht.
"Mistress, euer demütiger Diener muss berichten, dass vor der Pforte …", schnaufte Viktor.
"Ich weiß, was da draußen steht. Holt den Rest rein, dann wird hier im Ofen angeschürt. Und danach schaffst du den Sack her. Lehnst ihn da an die Wand, Naht nach oben. Wenn du heute schon mal deinen demütigen Tag hast", sagte Bell leichthin, Mathilda kicherte.
Das Gebilde wog mehr, als Viktor erwartet hatte. Offenbar enthielt es kein Mehl, oder zumindest nicht zur Gänze, es fühlte sich einerseits an wie ein Kirschkernkissen für extreme Adipositas-Patienten, andererseits knisterte es, als enthielte es spröden, viel zu oft hintereinander gestärkten Stoff. Und der Geruch … Es stank nicht direkt, es war eher fremdartig; Viktor drängte sich ein Bild von feuchten, muffig gewordenen Gewürzen auf. Er beeilte sich, es begann zu dunkeln, die eine Laterne gegenüber des Hauses flammte auf.
Viktor war nicht einmal eine Minute weg gewesen, doch es war bereits merklich wärmer in dem kleinen Raum geworden. Das war ohne Zweifel die Chefin gewesen. Er packte den merkwürdigen Sack unter dunklen Vorahnungen an die Wand. "Die Puppe des Müllers von Tersnaus", dachte er schaudernd und war froh, als er das Ding nicht mehr in den Händen hielt.
"Was jetzt?", wollte der immer interessierte Stephan wissen.
Viktor zwängte sich auf die Bank neben ihn, über Eck saßen Mati und der bockige Junge nebeneinander. Näher als nötig, unter dem Tisch wahrscheinlich beschäftigt mit Händchenhalten. Bell erhob sich von ihrem Stuhl, drehte sich zu dem Haufen Unrat an der Wand.
"Jetzt reden wir. Du weißt also, dass wir hier sind. Wenn du etwas zu sagen hast, dann nur zu."
Da waren sie wieder, die Messer, Scherben und rostigen Nägel in Bells sonst so freundlicher Stimme. Erst spannte sich der vermeintliche Jutebeutel, dann riss die mit gröbstem Garn in Kreuzstichen ausgeführte Naht Stück für Stück auf. Viktor sah zu den Teenagern. Hoppla, erschreckt, wenn ihr noch näher zusammenrückt, verkauf' ich euch als siamesische Zwillinge, dachte er. Aus dem Inneren des nun völlig freistehenden Sacks schoben sich Fetzen von fleckigen Lumpen, die Verschmutzungen wirkten verdächtig wie getrocknetes Blut. Die Streifen wuselten durcheinander, verknoteten sich, bildeten unnatürliche Formen. Schließlich blickte das gehässige Gesicht einer zahn- und augenlosen Schreckgestalt die Gruppe an. Die Stofflippen bewegten sich unbeholfen auf und ab, schwarze, schimmlige Weizenkörner quollen aus dem Maul. Die Kreatur begann zu schreien.
"MUS! SCHMALZ! HAUT! JETZT! BREI! FETT! DARM! ALLES!"
Die Stimme rasselte und knirschte wie Getreide unter dem Mühlstein.
"Ohne Arme keine Kekse", rutschte es Viktor heraus, den daraufhin alle außer Bell entsetzt ansahen.
"Schweig still, du Wurm! Zauberin, befehlt Eurem Narren!", quetschte das Wesen nun etwas ruhiger hervor.
"Nein. Nicht so. Und Einschüchterung funktioniert bei uns nicht", stellte Bell klar.
"Ah, gesehen und gefühlt habe ich viel in dieser späteren Welt. Ihr habt alles verloren. Kein Stolz, keine Macht. Ihr lebt mit diesen niederen Tieren zusammen. Viele Erinnerungen habe ich gelesen, schmutzige und dumme, allesamt. Was tut das Euch, Zauberin?"
"Ihr sprecht nicht alles aus, was Ihr seht, sondern was Euch nicht zum Gefallen reicht. Aber ich werde ab jetzt sprechen, wie es sich für heute gehört. Was willst du hier?", forderte Bell.
"Geht. Verschwindet. Jetzt und hier. Ihr habt Eurer Gesinde unter Euren Schutz bestellt, doch daran kann ich dennoch rühren. Geht, und das in Eurer eigenen Sicherheit und zum Frieden aller hier an dieser Stätte."
"Du hast Angst. Auch vor mir. Aber das ist nicht alles, bei weitem nicht. Ich denke, du weißt, was hier vor dir steht, und ich meine nicht mich. Geh zurück unter den Stein oder erlebe, wie sehr die Welt sich verändert hat."
Bei Bells letzten Worten hatten sich Viktors Nackenhaare aufgestellt. Das schien ein Wettstreit oder eher ein Kampf zu sein, von dem er nur die Worte und etwas, das sein Reptiliengehirn anzusprechen schien, mitbekommen konnte. Aber da war mehr, mit Sicherheit.
"Ich bin älter, nicht gebunden, ich bin in allen Köpfen und alle nähren mich. Das wisst Ihr und seid somit gewahr, nicht an mich rühren zu können. Mein Fokus liegt verborgen."
"Wenn du wüsstest, wie lächerlich solches Geschwätz heutzutage klingt. Nimm dir besser mehr Köpfe vor, bevor wir deinen nehmen."
"Zauberin, so sterbt denn", brachte die Puppe hervor und fiel vornüber, Bell straffte sich.
"In den Ofen damit, wenn jemand so freundlich wäre."
"ALLES! GRIEẞ! GERSTEN! AUGEN! HAFER! HIRN!", brüllte das Wesen in den lodernden Flammen des Holzofens. Ace, der sich doch noch von Mati gelöst hatte, half mit dem Schürhaken ein wenig nach.
Nachdem das Geschrei verstummt war, gestattete man sich wieder ein wenig Entspannung rund um den Tisch.
"Was war das, Bell?", fragte Mathilda mit einem besorgten Gesichtsausdruck.
"Ein Bote mit einer Nachricht, die uns Angst machen sollte", schnaubte die Chefin und fügte hinzu: "Lächerlich. Sie hat Angst, dass wir ihren Fokus finden und sie unschädlich machen. Sie wird uns Steine in den Weg legen, wo sie nur kann. Aber keine Sorge, Kontrollübernahme von genug Menschen, um uns zu lynchen … Zu viel Aufmerksamkeit und nicht ihr Stil."
"Sie? Und du kennst sie? Persönlich?", fragte Stephan.
"Was ist dieser Fokus?", wollte Mathilda wissen.
"Langsam, langsam. Wir sollten unseren Feind eigentlich nicht 'sie' nennen. Das war es zwar einmal, heute aber nicht mehr. Ein 'es' ist sie nun schon eher. Ich kenne es nicht persönlich, aber wir erkennen uns untereinander, sogar jetzt noch. Und der Fokus … Da muss ich weiter ausholen. Es ist das Machtzentrum, die Hauptschaltzentrale, die Mitte von Geist und Macht. Der Körper dieser, na gut, Hexe ist unbrauchbar geworden. Das Verschieben muss immense Kraft gekostet haben. Ist nun woanders und wir müssen den Fokus finden und eindämmen. Oder zerstören."
"Du hast von einem Stein gesprochen. Der neue Stollen hat irgendwas damit zu tun, richtig? Das Ding war da eingesperrt und die Kerle haben es unabsichtlich freigelassen. Frisst jetzt ihre Energie, oder liege ich da falsch?", kam es von Viktor.
"Ziemlich nahe dran. Die Hexe wurde vor langer Zeit aus der Akademie verstoßen, sie hatte übelste Dinge angerichtet. Wie sie es jetzt auch vorhat. Ihr Körper wurde direkt in den Berg verbannt, auf der Kuppe liegt ein Siegelstein. Die Leute hier nennen ihn 'Platta dil Barlot', Hexenplatte. Und ja, der Vorstoß hat den Geist befreit, aber der Körper ist immer noch im Gestein gefangen."
"Warum terrorisiert das Wesen die Leute hier? Was hat … die Hexe denn davon?", fragte Stephan, der mit dem Begriff offensichtlich nicht zufrieden war.
"Sie will einen neuen Körper, was sonst? Sie kann Dinge erscheinen lassen, manipulieren, sogar Leute übernehmen. Aber sie will mehr, ganz klar."
"Als Hilfstrottel und absoluter Laie gesprochen: Dafür braucht sie 'ne Menge Mana, was?", fragte Viktor.
Bell verdrehte genervt die Augen.
"Sag nicht 'Mana' und so ein windiges Zeug. Ich hab dir tausendmal gesagt: Wer keine Ahnung hat, hält den Mund. In einem Punkt stimmt das aber. Zum Erschaffen von so etwas braucht es extrem viel Kraft. Und sie ist darauf spezialisiert, Kraft aus Leid zu ziehen."
"Ignorantia impudentiaque tacete. Das lasse ich mir mal tätowieren, glaub' ich", sagte Viktor.
"Dann wird die Hexe die Leute so lange quälen und aufhetzen, bis sie genug zusammen hat", stellte Mathilda fest.
"Falsch. Die meiste Kraft wird für sie beim gewaltsamen Tod frei. Alle Menschen hier sollen sterben, am besten auf einen Schlag."
Betretenes Schweigen herrschte daraufhin drückend im Raum, deprimierend wie das Wetter draußen vor der Türe.
↑
Viktor konnte nicht schlafen und lesen konnte er auch nicht. Kaum war er am Ende einer Seite angelangt, stellte er fest, dass er vom Inhalt rein gar nichts mitbekommen hatte. Gedanken trudelten durch seinen Kopf und beanspruchten seine Konzentration völlig. Er klappte das Buch zu, schob es unter sein Kissen und stand auf. Die vertraute Kleidung auf der Haut zu spüren, tat gut, und er zog unsinnigerweise bereits im Haus die Kapuze seines Hoodies über den Kopf, bevor er sich möglichst leise die Treppe hinunter begab.
Die Haustüre war unverschlossen, eigentlich ein wahnwitziger Umstand in Anbetracht der Bedrohung, die draußen lauerte. Aber Bell hatte wohl für Sicherheit gesorgt, auf die eine oder die andere Art und Weise. Das Ding im Mehlsack hatte von 'Gesinde unter Schutz' geschwafelt. Also kein Problem, wenn ich kurz mal frische Luft schnappe, dachte Viktor. Es regnete nicht mehr, doch die Luft war immer noch geschwängert von der Feuchtigkeit, die sie sich wie ein feuchter Lappen über alles zu legen schien. Viktor schlug den Kragen seiner Jacke hoch und wählte den Weg nach links, die Straße den Berg hinauf, wo er noch nie gewesen war. Weiter oben, vielleicht fünfzig oder sechzig Meter entfernt, glomm eine weitere Straßenlaterne im Dunst entfernt von ihrem Zufluchtsort wie ein Leuchtturm zwischen Schiff und ungewissen Gewässern. Alle Leute sollen sterben, erinnerte sich Viktor. Normalerweise hätte die Foundation längst mit einer solchen Geschichte rigoros aufgeräumt. Warum nicht hier? Das war schlicht und einfach Politik. Die Beziehungen zwischen der Magierakademie und seinem Zwangsarbeitgeber waren nicht direkt schlecht … aber fragil. Bell selbst war ein gutes Beispiel. Käme es zu einem Bruch, wären die Konsequenzen wahrscheinlich fatal. Wenn also die Akademie verlangt hat, die Sache selbst zu regeln, dann sind wir der Kompromiss, überlegte Viktor, während bei jedem Schritt die zweite Lampe näherkam. Einmal rekapitulieren, wie das Ganze hier begonnen hatte. Es hatte sich um das Ausschlagen von Totholz gehandelt, die Straße hinunter, ganz in der Nähe des Tunnelanfangs. Zwei Männer, einer hatte die Kettensäge angesetzt … und Blut war aus dem Stamm gequollen. Gleichzeitig hatten die Kerle Geschrei gehört, einer hatte gesagt, es habe geklungen "wie eine schlecht gestochene Sau". Nettes, einfaches Völkchen mit hübsch direkter Artikulation. Und eine alte Frau, die Mutter einer der ausländischen Tunnelarbeiter, hatte plötzlich, obwohl schlafend im Bett liegend eine bis zum Knochen reichende Verletzung erlitten. Entsprechend der Geschichten, die sich hier seit Jahrhunderten hielten, war die Frau hinter vorgehaltener Hand als Hexe gebrandmarkt worden. Und glücklicherweise schnell abtransportiert worden, in ein Krankenhaus in Ilanz.
Morgen wollte Bell bergsteigen, aber darin sah Viktor keinen Sinn. Es war wohl anzunehmen, dass sich der komische Fokus nicht unter der ominösen Verbannungsstätte befand. Er hatte die Straßenlaterne erreicht und überlegte, ob er noch einen Blick um die Kurve werfen sollte, die rechterhand im Dunkeln weiter den Berg hinaufführte. Furchtbarer Gestank, der ihm plötzlich in die Nase drang, hielt ihn davon ab.
"Hier stinkt's wie Kotze, Scheiße und Oma unterm Arm", sagte er laut zu sich selbst.
Dort, wo das Licht nicht mehr den Hang über ihm erhellen konnte, schien sich etwas zu bewegen, von oben in seine Richtung durch das hohe ungemähte Gras zu rutschen. Womöglich wurde der Gestank sogar noch bestialischer, es stank geradezu unerträglich und Viktor spürte, dass sich sein Magen dagegen aufzulehnen begann. Dann sah er, wie etwas Monströses vor ihm eine Schneise durch die Halme pflügte, bevor es mit einem Satz über die hüfthohe, gemauerte Straßeneinfassung auf den Asphalt klatschte. Bei dem Anblick ruckte Viktors Hand mit geübter Bewegung zu seiner Hüfte. Idiot, dachte er, kein Halfter, keine Waffe. Er erkannte, was er da vor sich hatte. Es war ein Kuhmagen mit Augen. Genau wie in dem Buch, aber auch wieder ganz anders. Sich über die Naivität der Darstellung in der Sage amüsierend hatte er noch vor Kurzem den Kopf geschüttelt. Aber das hier war kein Kuhmagen, der nachts jungen Wanderern, die verspätet von irgendwelchen Damen zurückkamen, versuchte zwischen die Beine zu springen. Die erbärmlich stinkende Masse vor ihm war so groß wie ein Kleinwagen. Viktor erinnerte sich dunkel an seinen Biologieunterricht. An dem, was wohl der Pansen war, hingen die restlichen Mägen wie gräuliche, brutal herausgeschlachtete Anhängsel, die widerlich schleifend wie mit einem eigenen Willen über den Untergrund rutschten. Die ganze Kreatur sonderte in atemähnlichen Stößen Schleim, Blut und halbverdauten, schwarzgrünen Brei ab. Auf dem größten, zentralen Organ befanden sich die Augen, allerdings nicht nur zwei, sondern sehr viele mehr. Und sie hatten den freundlich-unschuldigen Blick von Kuhaugen verloren. Sie drängten durcheinander, als konkurrierten sie um die beste Position, wechselten immerzu den Platz. Aber alle Blicke waren ständig auf Viktor gerichtet. Erfahren und entsprechend konditioniert hin oder her, sein Körper reagierte. Viktors Herz schlug so heftig, dass er es bis in Arme und Beine spürte, es war, als ob kleine Dämonen in seinem Innerem wie verrückt herumsprangen. Während er seine weitere Vorgehensweise überschlug, stülpte sich in einer konvulsivischen Bewegung etwas von der Unterseite des Pansens nach oben. Es war ein ausgefranstes Loch, die Stelle, an der normalerweise die Speiseröhre hätte sein sollen. In einem Schwall aus Verdauungssäften und Blut rülpste es etwas hervor: "LAUF!"
Das musste sich Viktor nicht zweimal sagen lassen. Nach links den Hang nach oben zu klettern wäre fatal gewesen, das Wesen war bergauf mit Sicherheit schneller als er. Hinter sich führte die Straße hinter einer Kurve nur noch in unbekannte Dunkelheit. Rechts fiel der Hang bis zur Brücke hinab, dort konnte er wenigstens die brennenden Laternen sehen. Vielleicht konnte er auf der Wiese einen Bogen um das Monster schlagen und dann irgendwie das Haus erreichen, oder zumindest in Rufweite kommen. Er warf sich also in die feuchte, ungemähte Wiese. Er rutschte, versuchte die Beine mit Steigung und Tempo in Einklang zu bringen, während er hörte, wie die schrecklichen Mägen hinter ihm herwalzten. Viktor kämpfte mühsam die Panik nieder. Das kniehohe Gras schien sich böswillig um seine Knöchel wickeln zu wollen, um ihn festzuhalten. Es kam, wie es kommen musste. Er stürzte und begann unkontrolliert zu rollen und weiterzuschlittern. So schnell er konnte kam er wieder auf die Beine, das steilste Stück des Abhangs lag hinter ihm und er erlaubte sich einen Blick über die Schulter. Das Ding war viel näher als vermutet, die vielen kreisenden Augen leuchteten mörderisch rot in der Dunkelheit. Dabei gab es Geräusche von sich, die irgendwo zwischen entweichender Luft aus einem riesigen Blasebalg und heftigem Würgen und Erbrechen lagen. Viktor legte sich noch einmal ins Zeug und erreichte völlig durchnässt die Straße. Sein Plan ging nicht auf, er konnte von hier den Weg zum Haus nicht erreichen, sein Verfolger hätte ihn leicht erwischt und was dann kommen würde, wollte er sich nicht vorstellen. Damit fiel der Weg über die Brücke ebenfalls aus. Es blieb nur noch der schmale Waldstreifen zwischen Straße und der Schlucht. Die Kiefern und Tannen standen womöglich nah genug beieinander, so dass die Kreatur nicht hindurchpasste. Aber er musste vorsichtig sein, dort drin war es stockdunkel und er hatte nicht einmal sein Smartphone bei sich. Eine andere Wahl blieb allerdings auch nicht. Viktor blieb stehen, wo er gerade noch wenigstens ein wenig sehen konnte, und fuhr herum. Oh Fuck, dachte er, als er sah, dass sich sein Gegner zwischen die Stämme presste und dabei verformte wie weicher Teig. Glitschig und nur wenig langsamer quetschten sich die Mägen durch die vermeintliche Sperre. Viktor begann aus vollem Halse um Hilfe zu schreien. Trotzdem konnte er hören, was das Monster unter einem Schwall von Schleim von sich gab:
"DU SOLLST SCHWEIGEN, NARR!"
Nur noch einen Meter von Viktor entfernt hielt es plötzlich inne. Dann sackte es in sich zusammen wie von einem unsichtbaren Schwert durchbohrt, ein weiterer, miasmatischer und widerlich warmer Windstoß traf Viktor. Er musste unwillkürlich würgen. Die Kreatur fing Feuer. Jedenfalls wirkte es so, aber die Flammen schienen kalt zu sein und flackerten in kristallinem, strahlenden Weiß. Das Wesen brüllte, wand sich auf dem Boden hin und her, während das kühle Glosen es rasend schnell verzehrte. Nach wenigen Augenblicken war es ohne eine Spur zu hinterlassen verschwunden. Viktor rieb sich den vom Schreien schmerzenden Hals. Auf der Straße konnte er im Licht eine Gestalt sehen, die offenbar die Hände in die Hüften stemmte.
"Mit dir hat man immer Ärger", stellte Bell entnervt fest. "Was hast du allein draußen verloren, du Narr?
Ihre Taschenlampe flammte auf. Viktor atmete schwer. Der Angstschweiß kühlte bereits auf seiner Haut ab und er fröstelte. Außerdem musste er entsetzt feststellen, dass er sich nur wenige Meter von der senkrecht abfallenden Kante zur Schlucht befand. Wäre er im Dunkeln weitergelaufen, läge sein Körper nun malerisch von eiskaltem Wasser überspült mit zerschmetterter Hirnschale und gebrochenen Gliedern dort unten. Wie es die Hexe wahrscheinlich gewollt hatte.
"Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Wie immer. Danke, Bell. Gut, dass du mich gehört hast."
"Hab' ich nicht", sagte seine Chefin lakonisch.
"Dann hab ich wohl Glück gehabt, dass du gerade da warst. Was hast du allein draußen verloren?", fragte Viktor frech.
"Draußen war ich auch nicht, ich bin ja nicht so unvernünftig wie du. Das war kein Glück, das war das karmatische Band."
Viktor dachte einen Moment über das Gesagte nach.
"Du hast uns gechipt wie Haustiere?!"
"So ähnlich. Und wie man sieht, nicht zu Unrecht. Komm jetzt da raus. Ab jetzt keine Alleingänge mehr. Wir gehen zurück und du duschst. Und dann ins Bett, verstanden?"
"Ja, Mama. Das mach' ich", nickte Viktor dienstbeflissen.
↑
Der nächste Morgen erwies sich zwar nicht gerade als regnerisch, aber dennoch feucht und grau. Als die Temperatur draußen wenigstens um ein paar Grad stieg, begann Nebel vom Asphalt und den Grashängen hochzusteigen, waberte in dichten Schlieren um das Haus herum. Viktor spähte misstrauisch in den Ofen als er nachschürte, während er ungeduldig auf den Kaffee wartete.
"Also, wie gehen wir denn heute vor? Den Berg rauf bis zu dieser Platte?", fragte Stephan.
"Genau, ihr seht euch das einfach mal an, vielleicht fällt euch etwas auf. Obwohl ich das nicht wirklich glaube, sie hat ihren Fokus sicherlich irgendwo anders versteckt. Ich verspreche mir mehr davon, dass ihr danach unten beim Tunneleingang nach den Arbeitern seht. Stellt ein paar Fragen, sondiert die Lage, prüft die Stimmung."
"Kommst du nicht mit uns?", wollte Mathilda wissen. "Ist das nicht für uns gefährlich?"
"Und noch was anderes: Die Typen mögen sich schon untereinander nicht. Die Einheimischen hassen die Fremden geradezu. Wie wahrscheinlich denkst du ist es, dass die eine handvoll Touris mit offenen Armen zum Teekränzchen einladen?", machte Viktor flapsig.
Bell stand auf und füllte endlich die Kaffeetassen.
"Du bist doch sonst so ein gewinnender Kerl, Viktor. Du schaffst das schon mit Charme und schamloser Blenderei. Ich komme nicht mit, nein. Ich strecke meine Fühler in der Zwischenzeit anderweitig aus, wenn ihr versteht."
Draußen klopfte es dreimal hart an die Haustüre. Die Teammitglieder sahen sich alarmiert an. Ace löste sich von Mathilda und durchquerte den Raum.
"Warte mal, Junge. Du weißt nicht wer oder was das ist!", rief Stephan besorgt.
"Es kann nichts passieren, solange du die Schwelle nicht überschreitest", versicherte Bell.
Mit einem Mal stand Ace wie aus dem Nichts neben ihr und blickte nachdenklich drein.
"Da steht ein Kerl vor der Tür. Trägt einen Overall und eine Warnweste. Hat einen ziemlich glasigen Blick.", sagte der junge Mann ernst und wie immer ein wenig mürrisch.
"Glasiger Blick? Das ist wieder ein Bote, jede Wette." Mathilda schien sich ihrer Sache sicher zu sein und sie behielt Recht.
Ein Mann wartete draußen, es wirkte, als sei er unter Drogeneinfluss, völlig weggetreten. Sein Kopf schaukelte auf seinen Schultern haltlos hin und her. Er wirkte verwahrlost und ungepflegt, außerdem tropfte von den Fingerspitzen seiner linken Hand Blut auf den Boden.
"Was willst du noch?", verlangte Bell in einem äußerst abweisenden und drohendem Tonfall.
"Nach altem Gesetz eine Probe, Zauberin. Einen Wettstreit. Ich fordere es ein. Wählt euren Streiter. Es soll weiterhin nichts geschehen bis zum crepusculum."
Es war mehr als befremdlich aus dem Munde eines vierschrötigen, mindestens vierzig Jahre alten Kerls, der nach Schweiß müffelte und schlecht rasiert war, die Stimme der krächzenden Frau zu hören.
"Was soll denn das sein? Crepusculum?", schnarrte Ace.
"Abenddämmerung", kam es gleichzeitig von Mathilda und Stephan.
Bell hatte die Lippen zusammengekniffen und sah höchst unerfreut drein.
"Solche Tricks hätte ich mir ja denken können. Was dann?"
"Seht das Haus des verkommenen, ohnmächtigen Gottes. Dort wird euer Kämpe ausharren, in magischem Kreise, die ganze Nacht. Er mag Kerzen mitbringen, das sei gestattet. Beim Hahnenschrei und dem diluculum ist er frei. Doch flieht er früher, so ist er mein. So will es unser Brauch, Zauberin."
Bei diesen Worten war der linke Arm des Mannes abgehackt hochgeruckt wie von einem Marionettenfaden bewegt. Er wies ohne diesmal den Kopf zu bewegen den linksseitigen Hang hinauf, wo sich in etwa sechzig Metern Entfernung eine kleine Kapelle befand.
"Ich nehme an", sagte Bell fest, was Unglauben und Bestürzung bei den anderen hervorrief.
"Was? So einen Scheiß machen wir doch nicht mit? Das ist doch wieder totaler Beschiss! Die will uns eine Falle stellen und in die Pfanne hauen, hat sie doch selber gesagt! Nee nee, Bell, überleg dir das nochmal!", ereiferte sich Viktor.
"Es gibt Regeln, die befolgt werden müssen. Das versteht ihr nicht. Wie könntet ihr auch. Aber glaubt mir, es wäre wirklich nicht gut abzulehnen."
"So ist es besiegelt. Es steht euch frei, den Platz zu besehen, doch weiter nichts, bis zum Ruf des Hahnes. Als Zeichen des Respekts überlasse ich euch dies, Zauberin."
Der Tunnelarbeiter griff sich mit beiden Händen an die Kehle und begann unbarmherzig zuzudrücken. Gleich mehrere Personen wollten hinausstürzen um den Würgegriff mit Gewalt zu lösen, doch Bell hielt sie zurück:
"NICHT über die Schwelle treten, nicht jetzt."
Und so waren sie zu dem entsetzlichen Anblick verdammt, wie der Besessene röchelnd mit offenem Mund und aus den Höhlen tretenden Augen zu Boden sank und bald darauf sein Leben aushauchte. Nur Mathilda war vor dem erzwungenen Selbstmord zwischen ihnen hindurch in das obere Stockwerk geflohen.
"Was machen wir jetzt mit dem? Irgendjemand wird ihn vermissen", fragte Viktor nach einigen Momenten mit belegter Stimme. Bereits jetzt stand das Abbild des Toten mitten in seiner eigenen Leiche und redete lautlos.
"Ich könnte ihn von der Brücke werfen ohne das jemand was mitbekommt", sagte der praktische Ace.
"Geht's noch, du Held? Deine Stoppuhrfähigkeiten sind nicht immer die Lösung!", rief Viktor.
"Darum kümmere ich mich. Ace, du siehst nach Mati. Stephan, Viktor, ihr schaut euch die Kapelle an. Den Ausflug auf den Berg können wir für heute vergessen, das könnte als Regelbruch ausgelegt werden. Und denkt nach, wer von euch es sich zutraut, die Nacht alleine in dem Gebäude zu verbringen."
Bell hatte es tatsächlich geschafft den Leichnam verschwinden zu lassen und Viktor wollte eigentlich gar nicht wissen wohin, während Stephan und er sich ihre Jacken holten. Natürlich hatte er noch kurz einen Blick in Matis und Ace' Zimmer geworfen. Die beiden saßen auf ihrem Bett, Ace hatte einen Arm um sie gelegt. Mati sieht gar nicht so betroffen aus, diese beiden Halunken, dachte Viktor. Aber er hatte das Gefühl er könne sich so langsam ein wenig mit der Situation abfinden. Mit der strikten Betonung auf "langsam".
Der Weg zur Kapelle hinauf war nicht beschwerlich, irgendein konsequenter Glaubender hatte Steinplatten wie Treppenstufen als Weg bis nach oben in die Steigung verlegt und jemand mit hohen religiösen Idealen schien ihn zu pflegen. Viktor hatte in dem Buch gelesen, dass in früheren Zeiten, wenn es den Leuten durch Wetter oder sonstige Unwägbarkeiten unmöglich war die Messe zu besuchen, der Pfarrer sich oft durch zu den Leuten durchgekämpft hatte. Natürlich hatten dann die Hexen stets versucht ihn um die Ecke zu bringen, aber der Mann wurde immer durch sein geweihtes Skapulier gerettet. Das war der Grund, weshalb überall im Tal diese winzigen Gotteshäuser zu finden waren. Sie erreichten ihr Ziel und umrundeten es erst einmal. Eine kleine Ansammlung verwitterter Grabsteine, teils auch geschmiedete Kreuze, befand sich auf der Rückseite. Insgesamt nur drei Familiennamen. Stephan sah Viktor fragend von der Seite an.
"Nö, nichts. Alles sauber."
Die hölzerne Doppeltür schwang mit ein wenig altersbedingtem Widerstand auf und offenbarte ein normalerweise wahrscheinlich eher simples Bild: An der rechten Seite eine Marienfigur, vorne, hinter einem porösen Altarstein eine Kreuzigungsdarstellung. Dazu, den Mittelgang freilassend, vier schmale Holzbänke, zwei auf jeder Seite. So hätte es jedenfalls sein sollen. Die Bänke waren roh an die Wände gerückt worden, um in der Mitte der Kapelle Raum für einen Kreis zu schaffen. Er war leidlich rund, bot geradeso Platz für eine Person und war offenbar mit Blut gezogen worden.
"Ätzend. Sie hat den armen Kerl gezwungen solange mit den Fingern hier herumzukratzen, bis der Scheißkreis fertig war."
"Sieht so aus. Eine Bestie. Viktor, bitte, ich möchte das heute Abend erledigen", sagte Stephan in einem Tonfall, der so gar nicht nach Bitte klang.
"Ja, gut, aber hör mal, nichts für ungut … Du … bist doch schon eher der Theoretiker und so", druckste Viktor herum.
"Ich bin genauso ausgebildet wie du, und, tut mir leid, wahrscheinlich gebildeter, was das hier angeht. Ich mache es also, in Ordnung?"
"Schon gut, schon gut, Herr Doktor. Aber wenn du das alleine machen musst, sei bitte sehr, sehr vorsichtig, okay?"
Viktor hatte keineswegs vor, seinen Kollegen und Freund diese ominöse Geschichte allein regeln zu lassen. Er hatte einen Plan und war sich sicher, dass Mati auf seinen Vorschlag eingehen würde. Es war schließlich nur Mogeln, wenn man dabei erwischt wurde.
↑
Er hatte Ace unter dem Vorwand alleine mit Mathilda sprechen zu müssen hinauskomplimentiert und dafür selbstverständlich finstere Blicke geerntet. Viktor lies es sich nicht nehmen nach einigen Sekunden die Tür von innen aufzureißen, aber im Gang befand sich kein Lauscher.
"Völlig paranoid", konstatierte die junge Frau.
"Bei der Foundation ist das reiner Überlebensinstinkt, das weißt du ganz genau. Also, ich habe einen Vorschlag."
"Bitte komm schnell zum Punkt, ja? Keinen ewigen Sermon."
Frech, einen Freund haben und dabei noch pubertär bis dorthinaus sein, dachte Viktor missmutig. Er setzte sich neben sie auf das Bett.
"Schön, wegen Stephan heute Abend …"
"Hmm, du wirst alt, Väterchen. Früher war deine Beobachtungsgabe schärfer und du hättest was bemerkt", säuselte Mathilda.
Es stimmte. Schlagartig fiel ihm auf, dass das Bett äußerst akkurat gemacht war. Sämtliche Wäschestücke waren verschwunden, wahrscheinlich unter das Bett gestopft. Würde er jetzt in das Badezimmer sehen, würden dort keine ihrer umfangreichen Hygiene- und Schminkartikel zu finden sein. Sie war ihm einmal mehr einen Schritt voraus. Sobald sie aus der Realität verschwand, und damit auch aus den Erinnerungen aller anderen, würde nichts mehr darauf hinweisen, dass sie jemals hier gewesen war.
"Okay, dann sind wir uns ja einig. Ich möchte, dass du dich nicht einmischst, nur beobachtest. Wenn irgendwas Schlimmes passiert …"
"Mein Gott, ich weiß. Dann mache ich schnellstens Meldung. Papa, ich bin siebzehn und nicht mehr sieben. Blöde bin ich auch nicht. Sieh das doch mal ein, echt jetzt!", regte sie sich künstlich auf.
"Ja, du hast natürlich Recht, mit siebzehn hat man schon alles erlebt und die Weisheit mit der Schaufel gefressen. Andere Frage, schaffst du das, eine Nacht lang durchzuhalten ohne einzupennen?"
"Wenn ich drüben bin werde ich nicht hungrig und nicht durstig. Und müde schon gar nicht."
"Prima. In einer Viertelstunde dämmert es, Stephan ist schon losgegangen, vielleicht wäre es ganz schlau, wenn du gleich hinterhergehst, wenn Bell nämlich sieht, dass dein Damenrasierer fehlt … Die Tür unten steht offen und die Zimmertür ja auch. Wenn …"
Mathilda schnaubte und drückte auf den Heimkehrer. Viktor blinzelte. Was wollte ich denn hier im Zimmer von dem Eigenbrötler, fragte er sich. Türschwellen-Effekt, was sonst?
Mathilda versenkte sich in die oberste Schicht der Unrealität. Es war immer noch irgendwie niedlich, wie dumm ihr Ziehvater aus der Wäsche glotzte, wenn sie verschwand. Trotzdem machte sie sich umgehend auf den Weg. Ihre zweite echte Heimat, die Losgelöstheit von beinahe allen Fesseln der Wirklichkeit umschmeichelte sie, so als ob sie ihr ein Angebot zum Bleiben machte. Dazu hätte sie sich allerdings ausziehen und den Heimkehrer samt der Radionuclidbatterie-Implantate herausreißen müssen. Und die Möglichkeit verloren, mit ihrer Familie (und Ace) zu leben.
Alles um sie herum war klar erkennbar, sie hatte nie verstanden, warum Dunkelheit und gewisse Schattierungen von Schwärze und diffusem Hintergrundlicht unsichtbar für andere blieben. In ihren Augen hatten dunkle Ecken nur wenige Unterschiede zu den Dingen, die man beispielsweise in einem verstopften Siphon vermutete. Man wusste, dass es da war, dennoch ignorierten es die meisten Menschen, bis ihnen etwas Ungeheuerliches in die Küche schwappte. Sie schlüpfte durch die beiden Türen und machte sich auf den Weg zur Kapelle. Überall sah sie zu ihren Füßen das Blut des unglücklichen Mannes.
Stephan ging vor dem kleinen Gebäude rastlos auf und ab, sah auf die Uhr, beziehungsweise sein Smartphone, und blickte dann in den Himmel. Die Nacht schien ausnahmsweise klar zu werden und damit leider wahrscheinlich auch ziemlich kalt. In dieser Situation war es nicht leicht, den exakten Zeitpunkt des Sonnenuntergangs zu bestimmen, denn überall um sie herum ragten Berge auf. Man konnte sich einzig und allein auf technische Hilfsmittel verlassen. Mathilda wartete etwa zwei Minuten, bevor Stephan beschloss einzutreten. Sie schlüpfte gekonnt unter seinem Arm hindurch und machte einen Schritt zur Seite. Stephan beeilte sich in den vorhandenen Kerzenhaltern Kerzen aus seinem Rucksack zu verteilen und entzündete sie. Dann holte er einmal tief Luft und betrat den Kreis. Nochmals mindestens zwanzig Kerzen legte er neben sich auf den Boden. Ein Docht fing Feuer. Er ließ Wachs auf den kruden Steinuntergrund tropfen und steckte die Kerze hinein.
Was folgte waren Stunden, in denen absolut gar nichts geschah. Dabei handelte es sich in Mathildas Augen eindeutig um eine Zermürbungstaktik, die Hexe ließ erst einmal die Zeit für sich arbeiten. Stephan saß im Kreis und fror ganz offensichtlich. Während er sich die erste Zeit mit seinem Smartphone beschäftigt hatte, lag es nun unbeachtet neben ihm. Mathilda hatte wahnsinnige Angst, er könnte eindösen und dann unbeabsichtigt mit einem Arm oder Bein die Grenzen des Blutkreises übertreten. Sie spürte unterschwellig die Gegenwart der Gegnerin, auch wenn sie sie noch nicht sehen konnte. Doch schließlich, es war in etwa drei Uhr, veränderte sich die Situation. In Mathildas Augen waren Störungen der Normrealität immer durch ein mehr oder weniger schwach leuchtendes Blau erkenntlich, nun sammelte sich diese Farbe an den Wänden des Raumes und gerann zu festen Schlieren und Klumpen, so wie das Blut des Mannes auf dem Boden.
Auch Stephan bemerkte die Veränderung. Sein Blick wanderte von Seite zu Seite, er versuchte zu fokussieren, was er spüren, aber nicht festmachen konnte. Dann stürzten sie sich auf ihn. In Mathildas Wahrnehmung waren es Kreaturen, die geradewegs aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch entsprungen waren, um diesmal die dämonische Hölle auf die Erde loszulassen. Krabbenartige Käfer mit mahlenden Mandibeln drangen an den Kreis, wo sie abprallten, manche von ihnen riss es durch die Wucht des eigenen Ansturms auf den Rücken, doch weitere chitinöse Auswüchse bohrten sich durch den Panzer und die Wesen kamen wieder auf die Beine. Nur um weiter an Stephans Bollwerk zu nagen. Mathilda konnte sehen, dass er zwar zusammenzuckte, aber er behielt die Fassung. Er öffnete den Mund und begann zu deklamieren:
"Und wenn die Finsternis mich greift so leide ich nichts, Gott, unter deiner Hand. Deinen barmherzigen Schutz erbitte ich, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen."
Für Mathilda waren solche Gebete nichts wert, aber wenn es ihm half, war das Deklamieren selbstverständlich gut. Stephan entzündete drei weitere Kerzen und stellte sie neben sich auf. Von der Decke der Kapelle rutschte ein Korb herunter, Mathilda sah in ihrem Schutz angeekelt mit an, wie ein offensichtlich tödlich verwundetes Ferkel in einem Weidenkorb von der Decke gelassen wurde. Das Tier trug ein Nonnenhabit. Das nichtexistente Seil wurde gekappt, der Korb rutschte an der unsichtbaren Oberfläche des Schutzkreises ab. Die Kreatur befreite sich aus dem Korb und begann sich mit der Ordenskleidung den Hintern zu wischen.
"Wo ist Gott? Ist er in den Kartoffeln, die ich fresse, bis du mich frisst?!" quiekte die Kreatur, bevor sie in einer Explosion aus Därmen und Fleisch ihre kurze Existenz beendete.
Mathilda fror in ihrem Daseinszustand nicht, aber sie schauderte. Ihr Blick war auf Stephan konzentriert und sie hatte wie schon so oft den inneren Drang diese widerlichen Gebilde zu packen und so tief in die unteren Schichten zu schleudern, so dass sie selbst die Hölle erlebten. Noch nicht, Stephan hielt sich wacker. Aus der Wand schlüpfte jetzt ein Wesen, über das man in anderer Darstellung und Situation vielleicht hätte lachen können. Stattdessen fuhr Mathilda ein Gefühl des Entsetzens durch den Körper. Der Körper eines blut- und offenbar kotverschmierten Mannes, aus dessem aufgerissenem Mund ein Fuß ragte. Aus seinem Hintern stemmte sich eine tastende Hand ins Freie, ihre Finger tasteten unsicher in der Luft.
"Du weißt, wer ich bin?", sagte die Erscheinung erstaunlich klar.
"Ich habe dich nicht gerufen. Dein Zeichen?", sagte Stephan fest.
In der Handfläche der Kreatur flammte etwas auf. Mathilda glitt tiefer und veränderte ihre Position, um besser sehen zu können, was vor sich ging. Das glühende Symbol in der Handfläche war ein unregelmäßiges Oval, auf einer Seite vergleichsweise nüchtern gehalten, nur ein stilisierter Teufelsschwanz und einige Schleifen und Balken durchbrachen die linke Hälfte des Bildes. Allerdings war es auf der anderen Seite versehen mit Zeichen, die alles Gute ad absurdum führten. Außerdem sah es aus wie ein primitiver Schaltkreis. Zu Mathildas Erstaunen lachte Stephan im Kreis auf. Die Kreatur lachte ebenfalls und sagte dann:
"Du bist der, der die Erkenntnis sucht. Ein Angebot, reiche mir die Hand und das Wissen um alles soll das deine sein."
"Du bist ganz sicher nicht Asmodeus. Verzieh' dich oder bleib, das ist mir egal."
"Ich bin an deiner Seite," zischte der Dämon und nahm knapp vor dem Rand des Kreises Platz. Die Hand knickte unschön an der Seite des Wesens ab und betastete nun interessiert dessen Hüfte.
Dann brach buchstäblich die Hölle los. Mathilda sah Kreaturen aus den Wänden platzen, klein, groß, grotesk, zerrissen, weinend, reißend, beißend, flehend. Es war ein gewaltiger pandämonischer Ansturm auf Stephans Zufluchtsort. Von allen Seiten brüllten Wesen ohrenbetäubend laut auf ihn ein, er hatte sich die Hände auf die Ohren gepresst. Aber sie ließen ihm einen Ausweg, der geradewegs zur Tür führte. Halt durch, dachte Mathilda. Dann stockten die Kreaturen, brachen ihre Belagerung schlagartig ab. Sie glotzen, sofern sie Augen hatten, zum Eingang der Kapelle. Sie drängen durcheinander, nach hinten, mieden aber die Christusdarstellung. Dann begannen sie in weißen Flammen zu verbrennen, Mathilda konnte es sich nicht erlauben in die Realität zu wechseln, aber es kam ihr vor, als vergingen die Dämonen einfach so. Irgendetwas hätte brennen müssen, Kerzen wären geschmolzen. Mit einem Mal war es wieder totenstill. Die Doppeltür öffnete sich und Alice trat ein. Mathilda kniff die Augen zusammen und versenkte sich tiefer in der Dunkelheit ihrer Nichtwelt. Aus ihrer Freundin und angenommener Tante wurde eine aus wuselnden, suchenden Tentakeln bestehende ekelhafte Missgeburt. Das Mädchen tauchte wieder nach oben. An dieser Stelle hatte sich die Hexe wohl verschätzt. Allerdings musste sie in Stephans Kopf herumgewühlt haben um Alice zu finden und das war erschreckend. Mathilda konnte sehen, wie sich die bläuliche, unnatürliche Weltlinie aus Stephans Brust wand und in Windungen und Schlingen durch die Mauer verschwand. Bis sie irgendwo mit der wirklichen Alice verschmolz.
"Oh Mann, da bist du ja. War schwer, euch zu finden. Wie geht es dir?", wollte das Alice-Ding wissen.
"Ganz gut, bis jetzt", antwortete Stephan und entzündete gleichzeitig eine weitere Kerze.
"Bell hat alles gesäubert. Erst wollte sie nicht. Ich musste ihr wirklich auf den Zahn fühlen. Es ist jetzt absolut sicher. Komm, nimm mich mal in den Arm."
"In den Arm? Du willst mich wohl auf den Arm nehmen. Ich habe es dir vorhin gesagt, aber ich sag es gerne nochmal: Verzieh' dich oder bleib hier, mir egal."
Das Gesicht der zugegeben gut imitierten Alice verzog sich hasserfüllt.
"Vielleicht habe ich dich und deine Spießgesellen unterschätzt."
Stephan antwortete nicht sofort. Erst wandte er das Gesicht ab, dann blickte er wieder der Kreatur in die Augen.
"Von dem Phänomen der Hybris wirst du wohl schon einmal gehört haben. Du hältst Menschen für entbehrlich, maximal für Werkzeuge, aber eigentlich für nicht mehr als Insekten. Du denkst, du darfst uns problemlos unter deinem Stiefel zerquetschen, straflos, ohne schlechtes Gewissen. Du irrst dich. Und das wirst du bald merken."
"Eure kleine Gesellschaft steht nur ein wenig über den anderen. Aber natürlich seid ihr weniger als wir. Die Ausnahme ist eure Herrin, die Zauberin. Oder warum hat sie das letzte Wort und nicht ihr? Treibt es dich nicht um, dass sie unfassbar stärker ist? Dass dieser Junge viel mächtiger ist als du? Sogar der Narr hat mehr Kraft. Zu was macht dich das? Komm zu mir, und ich gebe dir Mittel an die Hand. Nimm, was dir zusteht. Ich gelobe, dass ich Wort halte."
"Wow, plumpester Manipulationsversuch seit Star Wars", kommentierte Stephan.
Ganz kurz schlich Verwirrung über die Züge der nachgemachten Alice. Dann hatte sie mit einem Mal etwas in der Hand. Mathilda schlich näher heran. Das, was sie im ersten für eine Spielkarte gehalten hatte, entpuppte sich als Tarotkarte. Die Hexe in ihrer Larve riss sie senkrecht durch und warf das hohe Arkanum auf den Boden.
"Das wird das Ende der 'Liebenden'", versprach sie überzeugt und löste sich in mitsamt der Karte in Luft auf.
Gut, dachte Mathilda, Stephan hat die Sache im Griff. Draußen begann es langsam heller zu werden. Diesen Umstand konnte Mathilda sehen, obwohl in ihrer Realität die Unterschiede marginal waren und jemandem, der nicht ihre Erfahrungen und Befähigungen hatte eine Erklärung wahrscheinlich völlig unverständlich gewesen wären. Aber etwas stimmte nicht. Ihr Zeitgefühl sagte ihr genau, dass es viel zu früh war. Sie bemerkte, dass Stephan nach seinem Smartphone griff. Einmal mehr trat sie näher. Er sah auf die Uhrzeit. Geschockt erkannte sie, was das Wesen getan hatte. Perfide. Viel Show am Anfang und ein simpler Taschenspielertrick am Ende. Der Sonnenaufgang war simuliert und die Zeitanzeige falsch. Es würde heller werden, Stephan würde glauben, es sei bald soweit. Aber sie durfte ihn nicht warnen, Bell hatte von Regelbrüchen und Konsequenzen gesprochen und ihre eigene Anwesenheit zählte ohnehin schon dazu. Sie war mehr als beunruhigt. Zeit verstrich so zäh wie das Warten auf eine wichtige ärztliche Diagnose. Aber dann schlichen sich tatsächlich erste falsche Sonnenstrahlen in den Raum. Mathilda verzehrte sich innerlich beinahe, aber würde Stephan vorzeitig aus dem Kreis treten … dann wären ihr die sogenannten Regeln scheißegal. Was sie dann zu packen bekam, würde sie ohne mit der Wimper zu zucken in den tiefsten Tartaros schleudern.
Stephan gähnte. Er erhob sich. Er machte einen halben Schritt nach vorne, an den inneren Rand des Kreises.
"Hochmut, wie erwähnt. Die Tür geht nach Norden hinaus. Direktes Licht? Die Sonne geht im Osten auf, du selbsternanntes höheres Wesen. Was für eine Idiotin du bist", sagte er gelassen in die Leere hinein.
Der falsche Sonnenschein machte der Nacht Platz und verblasste, Mathilda vernahm frustriertes Geheule, das von überallher zu kommen schien. Sie musste lachen. Der Rest war nur eine weitere Frage der Zeit.
↑
"Mati, wo warst du?", fragte Bell streng beim Frühstück.
Ihr musste also trotz allem bei Mathildas unauffälliger Rückkehr etwas aufgefallen sein.
"Ich brauche manchmal einfach ein bisschen Freiraum für mich selbst", behauptete die junge Frau.
Viktor grinste innerlich. Vom Besten gelernt, dachte er stolz. Bell schien das Thema nicht mehr zu interessieren, der Pflicht, nachzufragen, war offenbar Genüge getan.
Stephan schlürfte hingebungsvoll an seinem Kaffee. Zwischen zwei Schlucken fragte er:
"Wie geht es jetzt weiter?"
"Gut, der Tod und damit das Verschwinden des Mannes wird Fragen aufwerfen. Ihr beschäftigt euch mit den Arbeitern. Hoffentlich kommt dabei irgendwie noch etwas Brauchbares raus", ordnete Bell an.
"Handeln, statt immer nur reagieren. Da bin ich aber echt völlig d'accord", machte Viktor sarkastisch.
"Und du gehst voran, Maulheld. Stephan, du schläfst dich aus, gute Arbeit, danke. Kinder, ihr tut wenigstens so, als würdet ihr auf das hören, was Viktor sagt."
"Meh", sagte Ace.
"Wenn die Leute da unten am Tunnel starken Dialekt sprechen, was durchaus möglich ist, sollte ich wohl trotzdem mitgehen, meinst du nicht, Bell?", hackte Stephan nach.
"Nichts da, ruh' dich aus."
Als sie sich schließlich im Wagen auf den Weg machten, blickte Mathilda nochmals schaudernd zu der unscheinbar wirkenden Kapelle hinauf. Sie alle hatten zwar einen gewissen Frei- und Spielraum, dafür hatten Foundation und Akademie gesorgt, aber irgendwann musste irgendwer trotzdem Spuren entfernen. Die Fahrt dauerte tatsächlich nicht einmal sehr lang. Der Eingang zum Tunnel, zu dessen Eingang bereits moderne Infrastruktur, aber auch eine favela-artige Ansammlung von Bauwagen und Wohncontainern führte, befand sich nicht einmal einen Kilometer und hundert Höhenmeter entfernt etwa auf der Höhe des Flusses. Viktor parkte den Wagen und nickte den beiden Halbwüchsigen zu.
"Schön cool bleiben, okay? Ihr sollt auf mich hören. Soweit klar?"
"Selber erstmal 'Coolness' lernen, Beinah-Boomer", maulte Ace.
"Halt die Fresse, Schatz", wies ihn Mati liebevoll zurecht, was bei dem jungen Mann offensichtlich für einigen Unglauben sorgte.
Irgendwie hatte Mathilda geschäftiges Treiben vor dem Stolleneingang erwartet. Doch es wuselten keine Kolonnen von Arbeitern auf aufgeweichtem Erdreich und Kies umher. Nur unterschwelliges Dröhnen war zu hören und zu spüren. Sie hatte keine Ahnung, wie weit der Vortrieb bereits im Moment gekommen war. Ein Mann stand nahe an der Öffnung, als Fortsetzung seines langen grauen Bartes wuselten Haare wirr unter seinem neongelben Sturzhelm hervor. Beim Näherkommen trat er ihnen in den Weg.
"Baustelle, Sie gehen zurück, hier ist es gefährlich für Sie. Außer Sie sind von der Polizei."
Der Akzent war stark und schwer, ganz so, wie Stephan prophezeit hatte. Und kein "Bitte", dachte Viktor und ergriff das Wort:
"Entschuldigung, wir sind gleich wieder weg, vielleicht könnten Sie uns helfen. Wir haben auf Umwegen erfahren, dass eine entfernte Verwandte von uns hier einen Unfall gehabt haben soll. Wo sie jetzt ist wollten wir gerne …"
"Noch mehr Zigeuner. Macht, dass ihr hier wegkommt."
Nun sprach die Körpersprache des Kerls Bände. Offenbar ein sehr reizbarer Zeitgenosse.
"Ich wollte nur nachfragen …"
Der Mann nahm sein Funkgerät von der Seite und sagte etwas hinein, das Mathilda nun beim besten Willen nicht mehr verstehen konnte. Das Dröhnen im Schacht verstummte.
"Das Z-Wort sollten Sie besser nicht benutzen", warf Ace wie immer provokativ ein.
Nun strömten doch noch Menschen herbei, einige aus dem Tunnel, die meisten aber aus den Containern. Beinahe sofort und wie abgesprochen trennte sich die Menge in zwei Lager, schieden sich ganz natürlich, wie Öl und Wasser. Die Luft knisterte beinahe vor angestautem Hass. Testosterongeplagte arme Kreaturen, dachte Mathilda. Der Kerl mit dem Funkgerät, der sicherlich der Aufseher oder Anführer der regional verwurzelten Arbeiter war, musterte einen weiteren, schmächtigeren Mann mit olivfarbenem Teint. In seinen Augen handelte es sich offenkundig um seinen Widersacher. Er zeigte auf Viktor und die beiden Halbwüchsigen.
"Schleppst du jetzt bald die ganze rumänische Gosse hierher? Viele Verwandte habt ihr ja alle. Jeder mit jedem und mit den Hunden. Die da sind auch aus deiner Sippe. Suchen deine Mutter."
Das letzte Wort wurde beinahe ausgespien und schien einen Moment lang wie klebrig in der Luft zu hängen. In der Gruppe, die sich ihm und seinen Freunden entgegengestellt hatte, wogte die Empörung sichtbar auf wie ein mit unguten Zutaten befüllter, brodelnder Kessel. Noch war es nicht soweit, aber eine Entladung stand bevor, daran gab es keinen Zweifel. Der andere Mann musterte die Neuankömmlinge abschätzend.
"Nicht gesehen. Kenne nicht", antwortete er gepresst mit einem anderen, allerdings ebenso starken Akzent.
"Nicht gesehen, nicht gesehen. Vielleicht wissen die ja, wohin der Christian verschwunden ist. Wenn du schon nicht dein zahnloses Maul aufmachst."
Mathilda registrierte, dass Viktor einen Schritt zurückmachte und die Hände beschwichtigend hob.
"Is' mir auch scheißegal, ihr verzieht euch, habt hier noch weniger verloren als die da! Chris ist weg, den habt ihr sicher umgebracht, alle miteinander! War wohl die Rache dafür, dass die dumme Alte sich ins Bein geschnitten hat!"
"Nicht 'schnitten. Jemand hat gemacht!", schrie der Anführer der Nicht-Schweizer, unterstützt von zustimmendem Geschrei seiner Kameraden.
Noch eine Eskalationsstufe, dachte Mathilda. Sie hatte genug Schulungen hinter sich um auf Details und Körpersprache zu achten. Fast alle Männer beider Parteien sahen sich verstohlen nach etwas Brauchbarem zum Zuschlagen um. Werkzeug, Holzlatten, vielleicht ein handlicher Stein.
"Wisst ihr was? Wir ham' die Schnauze voll von euch. Und euren Diebstählen. Schon alles an Terroristen verkauft, Radu?"
Viktor drehte sich zu den Kindern um.
"So, gleich kracht es hier gewaltig. Das ist leider nicht drin. Ace, du weißt, was zu tun ist. Und niemanden von der Brücke werfen, wenn es geht."
Ace nickte knapp und wollte wohl zur Tat schreiten. Aber Mathilda war schneller und packte blitzschnell seine Hand. Dann drückte sie mit ihrer Linken auf den Heimkehrer an ihrem Oberarm. Was für sie wie das Betreten des eigenen, vertrauten Schlafzimmers war, musste sich für ihren Freund wie eine plötzliche, schockierende, existenzielle Krise anfühlen. Er war von einem Moment zum anderen völlig abgetrennt von allem, was er kannte, sein Verstand in sich selbst gefangen und überfordert mit der Tatsache, keine Außenreize mehr wahrzunehmen. Wahrscheinlich konnte er nicht einmal ihre Hand fühlen; wenn sie ihn nun losließ würde er im Nichts der Unwirklichkeit zerfasern und zerspleißen bis seine Persönlichkeit verschwand. Und dann konnte sie ihm nicht mehr helfen. Aber er musste Dinge erfahren, der jetzige Zeitpunkt war so gut wie jeder andere.
"Komm schon!", rief sie, obwohl ihr klar war, dass er sie unmöglich hören konnte.
Der junge Mann hatte sich instinktiv zu einer Kugel zusammengekauert und zuckte unkontrolliert. Sie griff noch fester zu und zog ihn zu sich heran. Er durfte ihr nicht entgleiten.
"KOMM SCHON!"
Eine bläulich leuchtende Blase mit einem Radius von einigen Metern manifestierte sich um sie herum. Mathilda beobachte fasziniert, was am Rand der Erscheinung geschah. Teilchen und Ströme, Wirbel und Muster, die nach außen und innen strebten, aber sofort wieder zurückgezogen wurden. Das ganze glich Meeresgischt, von temporalen Effekten an die von Ace erzeugten Klippen geschleudert. Mathilda fand es wunderschön. Ihr Freund stöhnte gequält auf. Er kam auf die Beine, wackelte allerdings noch ziemlich unsicher.
"Dreck, gottloser. Is' mir schlecht", würgte er.
"Hat wirklich hingehauen! Wird gleich besser."
"Wir hatten ausgemacht, dass wir das vorsichtig in einer ruhigen Minute probieren. Und jetzt überfällst du mich so. Aber stimmt schon. Ich kann atmen und schön langsam auch wieder was sehen. Alles wie verschieden schwarze … Scherenschnitte über- und untereinander. Wenigstens ein …"
Er brach abrupt ab. Seine Augen, in der Normrealität gelblich, leuchteten hier, wie alles Anomale, bläulich und ähnelten damit Viktors. Was dem Ausdruck blanken Erstaunens und Unverständnisses keinen Abbruch tat. Sein Blick scannte Mathilda förmlich vom Scheitel bis zur Sohle, als sähe er sie zum ersten Mal. In gewisser Weise stimmte das natürlich auch.
"Ja. Das bin ich. Überraschung."
"Abgefahren. Warum …?"
Sie wusste natürlich, was er sah, und sie hatte Angst vor seiner Reaktion. Sie sah an sich herab. Ihre Schuhe schienen unnatürlich weit nach hinten gerutscht zu sein, ihre Knie ragten zu weit nach vorne. Ihre Hose konnte die Veränderungen gerade noch ausgleichen. Würde sie sich jetzt über das Gesicht streichen, wären auch hier Unterschiede zu fühlen gewesen. Es war immer noch menschlich, nur ein wenig schmaler. Deutlich waren wohl auch ihre Pupillen, die hier aus waagrechten Strichen bestanden. Noch unübersehbarer waren die beiden etwa fünfzehn Zentimeter langen Hörner, die aus ihren Schläfen wuchsen und in sanftem Schwung der Form ihres Kopfes folgten.
"Ich bin ein Hybrid. Aus einem Mensch und etwas anderem. Bist du schockiert? Jedenfalls bin ich hier so, wie ich wohl eigentlich gedacht war."
Ace kam näher, streckte die Hand aus und berührte sie. Mathilda ließ es geschehen. Es dauerte eine Weile, bis er antwortete.
"Ich bin nicht schockiert. Neu ist das, aber nicht schlimm. Wir sind alle irgendwie anders, so oder so. Aber warum steht hier gerade die Zeit für dich nicht still? Und was ist das da für ein Ding?"
"Ich bin hier daheim, und zuhause mache ich, was ich will. Den Spruch habe ich von einer Bekannten, die mich ab und zu besucht, egal. Und das da", sagte sie auf die gewaltige dunkle Gestalt in der Ferne weisend, "ist mein Dad."
Das Wesen, das auf der anderen Seite des Tals die Hände zwischen einige beinahe zweidimensional wirkende Berggipfel stemmte, schien sich ein wenig vorzubeugen. Ein Gesicht war nicht zu erkennen, gedrehte Widderhörner und die Zacken einer Krone allerdings schon.
"Dein … Vater. Okay. Setz' mich ins Bild. Oder sollten wir nicht schnell machen?"
"Wir sind außerhalb von Allem, ich weiß nicht warum, aber mit deinen und meinen Fähigkeiten kombiniert scheint sich gar nichts außerhalb zu tun. Glaub' ich. Ich weiß es nicht. Aber wie du siehst, keiner bewegt sich. Spielt keine Rolle. Also … ich habe einen biologischen Vater, der wohl mindestens gewalttätig war. Der da hat meine Mutter quasi ein zweites Mal geschwängert, indem er sie, ich kann es nicht anders ausdrücken, anomal vergewaltigt hat. Und mein richtiger Papa ist Viktor. Einfach, oder?"
"Klar. Ein Gewalttäter, ein Skip und ein unerträglicher Klugscheißer. Tut mir leid für dich, aber der Besserwisser ist mir unangenehm", schüttelte Ace den Kopf.
"Schon klar. Ich seh' das Problem. Ihr seid euch ein wenig ähnlich. Und beide eifersüchtig. Männer halt. Dabei könntet ihr die besten Freunde sein," rekapitulierte Mathilda die Situation wie sie sie sah.
Der Junge sah nicht überzeugt aus, eher so, als hätte er etwas in den Mund gesteckt, das aussah wie Schokokrokant und sich als etwas anderes entpuppte.
"Ist dein Vater da hinten gefährlich für uns?", fragte er um das Thema erst einmal zu beenden.
"Traut sich nicht ran. Keine Sorge. Ist oft, okay, fast immer in der Nähe, aber er kann mich nicht haben, obwohl er das möchte. Ich hab' es verboten. Er ist nicht so … fähig wie ich. Ihm fehlt etwas, vielleicht das Menschliche, auch das weiß ich nicht. Wenn er einen Fehler macht, ziehe ich ihn dorthin, von wo er nicht mehr wegkommt. Ich kann nicht sagen, ob er sowas wie Angst fühlen kann, aber das dürfte der Sache ziemlich nahe kommen."
"Mati, das ist erstmal genug für mich zum Verdauen. Legen wir los. Wie entschärfen wir die Situation draußen?"
"Du gibst Viktor einfach eine Chance", lächelte Mathilda schelmisch.
↑
Viktors Ruf, mit dem er Mathilda aufhalten wollte verhallte noch. Die aufsässige Bande (denn hier waren zwei Mitglieder wirklich bereits eine Bande) erschien direkt vor ihm. Ace wirkte ein wenig blass, Mati dagegen ziemlich erleichtert. Er sah an ihnen vorbei zum Tunneleingang.
"Wo sind sie hin?", wollte er wissen, sich vergegenwärtigend, dass die Sache wieder Ärger nach sich ziehen würde.
"Die eine Hälfte liegt gefesselt im Tunnel. Die andere verteilt auf die Container. Keine Sorge, alle am Leben und unverletzt. Jeweils einen haben wir nicht gebunden. Deswegen sollten wir lieber schnell verschwinden", sagte seine Ziehtochter zufrieden.
Ich bin kein Role Model, so sehr ich mich auch bemühe, dachte Viktor resignierend. Dann eilten sie zurück zum Wagen.
Bell war einmal mehr frustriert, das war klar erkennbar, weil sie ihnen bereits die Tür aufriss, noch bevor der Motor ganz zur Ruhe gekommen war. Ihr innerlicher Motor arbeitete auf Hochtouren, Viktor hätte sich ein Druckablassventil gewünscht.
"Ungefähr dreißig Leute haben euch gesehen. Dreißig Leute, die sich jetzt fragen, was da passiert ist. Habt ihr denn völlig den Verstand verloren?", tobte sie.
Auch wieder in der Küche versammelt hatte sich die Chefin noch nicht wieder völlig im Griff.
"Die hätten sich umgebracht, Bell. Und ich habe dem Jungen den Befehl zum Handeln gegeben. Das geht auf meine Kappe", sagte Viktor und suchte absichtlich Blickkontakt mit seiner Vorgesetzten.
"Dann hast du sicherlich eine Lösung dafür? Verdammt nochmal, das war schon wieder sinnlos!"
"Amnesika-Chemtrail wäre doch eine Option?"
"Irgendwann näh' ich dir dein freches Mundwerk zu! Ich habe den Betroffenen größtenteils ihre Erinnerungen genommen, aber mich kostet das auch Kraft. Ich hänge nicht an einem magischen Kernkraftwerk, kapiert ihr das?"
"Es war nicht sinnlos. Ich hab fast alles zusammen. Ich bräuchte bitte eine topographische Karte der Umgebung, Stephan", sagte Viktor.
"Machst du jetzt hier den Poirot?", fragte Ace hämisch.
"Keine Haare am Sack, aber einen Kamm in der Tasche, was? Wie gesagt, ich glaube zu wissen, was sie vorhat. Es liegt an dem, was der beschissene schweizer Nazi gesagt hat. Der Schwazi."
Stephan schob seinen Laptop auf dem Küchentisch herum, so dass Viktor ihn sehen konnte. Tote sehen, bevor sie sterben, dachte Viktor. Wie echtes Leben. Und er dachte außerdem: Randvoll, Regen und stetiger Zufluss. Er wandte sich den anderen zu.
"Mati, Ace. Der Kerl hat den Leuten Diebstahl und Verkauf an Terroristen vorgeworfen. Was verkauft ein skrupelloser Konzerner oder der geschäftstüchtige Zwischenhändler an die?"
"Waffen", machte Ace.
"Sprengstoff", sagte Mathilda.
Viktor sah zu Bell hinüber. In diesem Moment fügten sich in seinem Verstand die restlichen Teile zusammen, die wohl in seinem Unterbewusstsein vor sich hingegärt hatten, bis die Zeit gekommen war. Wenn stimmte, was er vermutete, bestand akute Gefahr. Die Kinder hätten alle fesseln sollen.
"Genau. Wird in dem Tunnel auch gesprengt?"
"Den Vortrieb besorgt eigentlich ein riesiger Highend-Bohrer auf provisorischen Schienen. Danach kommen Armierungen und Beton. Aber ja, wenn nötig, wird gesprengt", antwortete Stephan.
"Sie hat uns lange genug abgelenkt. Unsere Anwesenheit hat wahrscheinlich alles nur noch beschleunigt. Schaut euch das das hier mal an."
Viktor zog den Rechner zu sich und zoomte aus dem Bild ihres Standortes heraus.
"Hier und hier sind zwei Staumauern mit ziemlich großen Wasserreservoirs dahinter."
Er zog sein eigenes Smartphone hervor.
"Heidi, erbitte Erfassung und Weiterleitung zu KIRA. Was passiert, wenn jetzt die markierten Dämme brechen?"
Es dauerte nicht einmal eine Sekunde, bevor Heidi sagte:
"Nach Simulation wären die Schäden der Infrastruktur in eurem und dem Bereich der nächsten Täler entlang des Flusses gravierend. Ästemierte Überlebenschance von Individuen liegt bei 7,2 %. Haut mal besser ab!"
Viktor wandte sich Bell zu.
"Ein paar hundert Leute mit Sicherheit. Würden zwar nicht direkt gleichzeitig, aber recht schnell hintereinander über die Wupper gehen. Könnte ihr das energetisch ausreichen?"
"Ganz bestimmt sogar. Sie würde sich aufsaugen wie ein Schwamm. Das ist zwar eine Spekulation, aber mehr haben wir im Moment wohl nicht. Stephan, kennst du jemanden, der sich mit Sprengstoff auskennt?"
"Mehrere Leute sogar. Aber ich denke ich weiß, wen du meinst. Wolfgang. Ich weiß aber trotzdem nicht, ob es eine gute Idee ist, sie anzufordern", erwiderte er sichtlich unglücklich.
"In dieser Situation können wir uns bei Rena am ehesten auf Verschwiegenheit verlassen. Außerdem brauchst du dir keine Gedanken zu machen, erstens treffe ich hier die Entscheidungen und zweitens kümmere ich mich um den Kontakt."
"Wartet mal kurz. Bell, ihr seid doch beide Zauberinnen? Könntest du nicht, ich meine falls wir es nicht schaffen sie zu stoppen etwas von dieser Kraft absorbieren? Ihr unter der Nase wegschnappen?", wollte Mathilda wissen.
"Daran will ich nicht einmal denken, auf keinen Fall. Seelenfressen, nein", stieß Bell angeekelt hervor.
Viktor räusperte sich.
"Ich war noch nicht ganz fertig. Zwei Fragen: Könnte der Fokus bei dieser Katastrophe zerstört werden, falls er hier irgendwo rumliegt und kann dieses Ding auch ein Lebewesen sein?"
"Ja und Ja. Worauf willst du hinaus?"
"Ha. Ich verschaukele Leute ganz gern, werde aber nicht gern verarscht. Die Hexe hat unsere ureigene Erziehung benutzt um unseren Blick vom Offensichtlichen wegzulenken. Dabei liegt alles offen da. Bisschen entwendeter Brief und so."
"Komm zum Punkt, Mann", forderte Ace.
"Wir haben alle ein Denkmuster, das folgendes besagt: Hexenverfolgungen beruhten auf Unverständnis, Aberglauben und Gier. Fehlgeleitete Religion nicht zu vergessen. Und im Kopf haben wir das Bild der unschuldigen, gequälten alten Frau auf dem Scheiterhaufen. Wir bemitleiden die Opfer der Vergangenheit. Und im Opfer sehen wir nie den Täter. Das nutzt sie jetzt schamlos aus. Der Fokus ist die alte Frau mit der zerhackten Stelze in dem Krankenhaus in diesem Ilanz."
Viktor lehnte sich zufrieden zurück. Im Raum herrschte Schweigen.
↑
Bell hatte wieder das Kommando übernommen und entfaltete vor ihnen den Schlachtplan, der eigentlich überhaupt keiner war. Schon an den ersten Sätzen hatte Viktor ziemlich zu knabbern und bewegte sich am Rande der Verärgerung herum. Seine Chefin tigerte einmal mehr in der Küche auf und ab, während sie, ganz Generalin, die Anweisungen diktierte.
"Rena ist verständigt, hat zugestimmt und wird sich aufteilen. Wolfgang und sein Trupp prüfen die Staumauern. Die andere Abteilung wird sich um den Fokus kümmern. Ich werde in ein paar Minuten verschwinden und zu ihnen stoßen. Ich hoffe sehr, dass du recht behältst, Viktor. Zu euch. Ihr bewacht das Haus, keine Angst, selbst wenn die Staumauern brechen sollten, seid ihr hier in Sicherheit. Ich melde mich dann zeitnah. Ruht euch aus. Alles soweit verstanden?"
"Ja", machten sie in etwa so begeistert wie eine Schulklasse ihr 'Guten Morgen' herunterleierte.
"Gut. Bis dann und wünscht uns Glück!", nickte und forderte Bell recht theatralisch.
Sie machte kehrt, verließ den Raum und Viktor hörte, dass sie die Treppe hinaufging.
"Dann warten wir mal ab", sagte Mathilda und lächelte Ace verliebt an.
"Euch fällt schon was ein zum Zeitvertreib, verstehe schon. Aber nichts dergleichen wird passieren. Weil ich dir deinen Galan nämlich entführen werde. Wir machen einen Roadtrip, Timey!", triumphierte Viktor.
"Du hast sie wohl nicht mehr alle! Hast du gerade nicht zugehört?", entsetzte sich Stephan.
"Doch. 'Ihr bewacht das Haus', hat sie gesagt. Nicht 'Ihr alle bewacht das Haus."
"Das ist mutwillige Wortklauberei und Insubordination. Viktor, bitte sei vernünftig, das könnte diesmal wirklich schlimme Konsequenzen für uns haben. Sie merkt das. Die karmatischen Bande, du erinnerst dich?"
"Sie hat im Moment anderes im Kopf, da bin ich sicher. Für dich und Mati hat es außerdem keine Konsequenzen, weil ihr nämlich hierbleibt. Ich bitte euch sogar ausdrücklich darum. Den Querkopf hier nehm ich nur mit, weil ihm ja sowieso alles außer Mati egal ist. Und nur dann, wenn er sich auch traut … ich meine, nur wenn er möchte."
"Provokation zieht bei mir nicht. Aber nur mal hypothetisch gesprochen: Um was geht es denn überhaupt?", wollte der Angesprochene dann nun doch wissen.
"Ich will nur wissen, was da vor sich geht. Schließlich haben wir ja die ganze Arbeit gemacht. Belohnungen kriegen wir ja eh nie. Ab und zu mal ein Bonbon. Das ist mir auch egal. Aber das Ergebnis nicht mal sehen dürfen kotzt mich an. Vielleicht komm ich schon zu spät, hinfahren werd' ich trotzdem. Und keine Angst, direkt einmischen will ich mich gar nicht."
"Gut, dann komme ich mit. Aber laber mich ja nicht wieder voll, sonst findest du dich allein am Straßenrand wieder."
"Sehr schön. Wenn also einer von euch anderen beiden petzen gehen möchte, wäre wohl jetzt der richtige Zeitpunkt. Ruft sie an. Oder ihr könnt ja mal in ihr Zimmer gucken, aber ich verwette meine Tangasammlung, dass es leer ist."
"Du hast eine Tangasammlung?!", rief Stephan an den Grundfesten seiner Ansichten erschüttert.
"Nein. Deswegen kann ich sie ja auch leicht verwetten."
Stephan schüttelte den Kopf und stand auf.
"Ich muss den Bericht schreiben. Und noch eine Menge lesen. Bis später."
Und weg war er. Blieb noch das Mädchen.
"Macht doch was ihr wollt. Dumme Männer und ihre Egos. Kommt nur wieder in einem Stück zurück."
Es war beinahe unheimlich, wie gut die ganze Geschichte in diesen Landstrich hineinpasste. Alles war irgendwie mystisch verklärt, jeder noch so kleine Flecken Erde, Täler und Berge, alte Wege und Wälder hatten eine Geschichte zu erzählen. Sie fuhren über eine Brücke unter der sich weit unten ihre uralte Vorgängerin aus Holz spannte. Inklusive einem verfluchten Wiedergänger, der sie bewachte. Da war die senkrechte Seite eines Berges an der blutrote Streifen hinabliefen. Eisenoxid, natürlich, aber hier war es das Blut eines Hirten, der von der Spitze seine Leute vor einem Angriff gewarnt und dabei so geschrien hatte, dass seine Lunge geplatzt war. Ein Schneefeld weit oben unter dem eine Kirche begraben war, weil der Pfarrer Fastengesetze ignoriert und bezahlte Messelesungen in den Wind geschlagen hatte.
Ihre kleine Reise verlief Ace' Wunsch entsprechend schweigend. Mit der Zeit weitete sich das enge Tal immer mehr und schließlich erreichten sie die Stadt oder eher das Städtchen Ilanz. Der Beschilderung folgend war es kein Problem das Regionalspital zu erreichen, es handelte sich um mehrere praktische, beinahe kubistisch anmutende Gebäude aus Beton. Ein typisches Krankenhaus eben, dachte Viktor, manchmal hatte er das Gefühl solche Anlagen würden irgendwo aus Eiern erbrütet werden. Er parkte an einem etwas versteckten Seitenweg in der Nähe des Haupteingangs. Sie stiegen aus.
"Auftritt ungesehenes Wunderkind."
"Deswegen musste ich also mit. Zum Spionieren missbraucht", ätzte der junge Mann.
"Als ob du das nicht schon geahnt hättest. Du bist vieles, aber doof bist du nicht, muss ich anerkennen. Geh bitte rein, schau dir an, was Sache ist und komm wieder her. Ganz einfach."
"Die alte rein-raus-Geschichte also. Na dann", sagte Ace und bevor Viktor einen schlimmen Kommentar äußern konnte schien es, als säße der Junge plötzlich schräg gegenüber auf einer Holzbank.
"Das wird dir gar nicht gefallen. Da sind einige Leute bei der alten Frau. Das Personal wirkt wie weggetreten. Eine handvoll Rena-Leute lungern auf dem Gang vor dem Zimmer rum. Auch der Typ mit dem kaputten Zinken. Bell steht bei der Alten am Bett. Sie hat … Johnny bei sich. Ich hab keine Ahnung, wie die alle so schnell da hingekommen sind, wahrscheinlich hat Bell das gemacht."
Viktor hatte merkwürdige Gefühle. Ein ganz klein wenig Eifersucht vielleicht, aber größtenteils Sorge um seinen Freund und dazu eine gehörige Portion Verwirrung. Warum noch Johnny mit dazugeholt? Bell konnte doch problemlos mit der Hexe kommunizieren, oder nicht? Aber das war jetzt egal, denn der Ärger holte ihn ein.
"Das war unser Verdienst, verdammt nochmal! So eine Scheiße! Warum die und nicht wir?"
Er trat nach einer achtlos weggeworfenen Safttüte.
"Du verstehst es echt nicht, oder?"
"Was denn? Dass sie uns übergeht? Doch, hab ich am Rande mitbekommen!"
"Sie übergeht uns nicht, sie beschützt uns. Johnny kann sie ins Feld schicken, dich auch. Es geht um Mati und mich. Es ist egal, was wir können, wir sind die Jüngsten. Sie sieht uns als Familie."
Viktor legte den Kopf in den Nacken und blickte in den grauen Himmel. Ace hatte recht. Und eigentlich dachte er ja genauso.
"Stimmt wohl. Fahren wir zurück. Hast du gut gemacht."
"Eine Sache noch. Ich sag' das genau einmal und dann nie wieder, okay? Du musst dir keine Sorgen machen. Ich meine es ernst mit Mati und ich würde ihr nie wehtun. Soweit klar?"
Viktor blickte ihm fest in die Augen und konnte nichts als Aufrichtigkeit erkennen. Schneid hat er ja, keine Frage. Und da geschah noch etwas Unerwartetes: Ace hob langsam den Arm und streckte ihm die Hand entgegen. Viktor atmete tief aus und ergriff sie.

