Der Dämon, der in uns haust

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Der Lärm des Motors und des Rotors war schon längst in den Hintergrund gerückt, als der Pilot verkündete, dass sie gleich da wären. Noch vor vier Stunden waren sie im nördlichsten Winkel Deutschlands im Einsatz gewesen, als unvermittelt der Befehl kam, direkt in eine kleine Stadt im Herzen Nordrhein-Westfalens zu kommen. Ein Helikopter der Foundation hatte sie abgeholt und nun waren sie auf dem Wege zu ihrem neuen Einsatzort. Auf dem Flug wurde ihnen eine spärliche Menge an Informationen zum Vorfall gegeben. Im Stadtzoo sollten gegen drei Uhr morgens innerhalb von weniger als fünf Minuten alle 63 Tiere und die ersten bereits anwesenden Mitarbeiter verschwunden sein.
Grundlegend gab es schon mehrere vergleichbare Fälle, die der Foundation gemeldet wurden, doch eines unterschied den jetzigen Fall von bisherigen.

"Keine Hinweise?", fragte Agentin Alice Peterson.

"Keine Hinweise", bestätigte der Informant Dr. Florian Merck, "Weder Videomaterial, noch Augenzeugen, noch irgendwelche Spuren."

"Wir werden sehen", kam es von Agent Viktor Eißner.

Nur Agent Phillipp blieb still, den Kopf an die Kopfstütze gelegt.

"Alles okay, Johnny?", fragte Viktor.

"Ja. Ich denke nur darüber nach, was es sein könnte. Ich weiß ja, dass es eigentlich sinnlos ist, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Aber ich habe so ein… Gefühl.", kam es zurück.

Der Copilot meldete sich dazwischen: "Wir beginnen jetzt den Landeanflug. Könnte etwas holprig werden, in oder um den Zoo gibt es keine große freie Fläche."

Johnny sah aus dem Fenster. Unter ihnen rasten immer größer werdende Häuserschluchten und Massen an Flachdächern vorbei, nur wenige Autos konnte er erkennen. In der Ferne ragten zwei im Verhältnis zu den vielen ein- oder zweigeschossigen Gebäuden riesige Spitztürme einer Kirche in die Höhe. Er lehnte sich etwas weiter zurück und das, was er für den Zoo hielt, geriet in sein Blickfeld. Als er quer durch den Innenraums des Hubschraubers blickte, sah er durch das andere Fenster einen anderen, wesentlich größeren Helikopter mit zwei Rotoren heranfliegen. Er übermittelte Viktor und Alice ein Bild davon und alle drei bewunderten den Anblick des mechanischen Ungetüms.

Mittlerweile schwebten sie direkt über dem Zoo und sanken langsam zum Boden herab. Mit einem sanften Ruck setzte der Helikopter auf einem kleinen Platz hinter dem Eingang des Zoos auf. Dr. Merck öffnete eine der Türen und Alice, Johnny und Viktor sprangen aus dem Innenraum.

"Viel Glück!", rief der Informant gerade, bevor der Helikopter wieder abhob und sich die Tür schloss. Das Fluggerät flog nach Osten ab.

Von Südosten her kam der Zweirotorer, der knapp fünf Meter über ihren Köpfen schweben blieb. Landen war für ihn unmöglich, der Platz war zu klein.

Die Türen und die Heckklappe öffneten sich und insgesamt 17 Personen seilten sich daraus herab.

Alice erkannte Dr. Stephan Faust direkt, als er begann, sich abzuseilen. Die restlichen 16 Personen waren ihr jedoch allesamt unbekannt.

Als Stephan den Grund erreichte und seine Karabinerhaken vom Seil gelöst hatte, wurde er freudig von Alice, Johnny und Viktor begrüßt.

Die anderen 16 folgten nach und stellten sich allesamt vor. Sie bildeten eine spontan zusammengestellte MTF aus sich in der Nähe befindenden Agenten und Wachen der Foundation. Sie sollten die Trickster bei ihrem Einsatz bewachen und zur Not retten. Allen wurden Walkie-Talkies zur Kommunikation gegeben.

Nachdem sich auch der zweite Helikopter entfernt hatte, war der Kontrast der Stille zum vorigen Motorengebrumme nahezu unheimlich; nur in der Ferne war eine Sirene zu vernehmen. Nachdem auch sie verklungen war, ergriff Stephan, als Einsatzleiter eingeteilt, das Wort:

"Dann fangen wir an. Siehst du etwas, Viktor?"

Viktor sah sich um. Als er kein Phantom erblickte, stieg er auf die niedrige Mauer, die das Erdmännchengehege eingrenzte. Er schüttelte den Kopf:

"Nichts."

"Okay. Dann teilen wir uns auf", sagte Stephan, "Mit jedem von uns kommen vier MTF-Mitglieder. Alice, du gehst in das Reptilienhaus und zu den Katzenartigen. Viktor, du suchst bei der Voliere und bei den Laufvögeln. Johnny, du durchsuchst die Primatengehege. Ich schaue hier vorne in der Ecke. Einwände? Okay, dann los."

Stephan ging auf das Hauptgebäude zu, vier MTF-Mitglieder im Schlepptau. Er trat an die Glastür, die normalerweise wie eine Schleusentür zwischen dem Haupteingang und dem Zoo fungierte. Dem Versuch, sie aufzudrücken, gab die Tür nicht nach.
Kurzerhand schnappte er sich eines der Maschinengewehre seiner Wachen und schlug mit der Schulterstütze das Glas ein.

"Los", befahl Stephan.

Er sah sich um und erblickte zu beiden Seiten je eine Tür. Direkt voraus befand sich die Rezeption und an der gegenüberliegenden Wand eine massive Holztür, die auf den Parkplatz führen musste.

Sie gelangten an die Rezeption. Auf dem kleinen Tresen standen einige exotische Topfpflanzen, die eine bunter als die andere. Unter dem Tresen hingegen fanden sie eine Brille liegen, der eine Bügel halb eingeklappt und beide Gläser gesprungen. Daneben lag ein blau-grauer Kugelschreiber mit ausgefahrener Mine.

"Unwichtig", befand Stephan.

Sie traten auf die linke Tür zu. Entgegen ihres Erwartens war sie nicht abgeschlossen. Sie passierten den Rahmen und fanden sich in einem langen, schmalen Gang wieder. Zu beiden Seiten befanden sich je fünf weitere Türen. Die Truppe teilte sich auf und begann, die Räume zu durchsuchen.

Nach kurzer Zeit fand eine seiner Wachen einen Computer mit Aufzeichnungen der Überwachungskameras. Sie versammelten sich darum und gingen die vielen Aufzeichnungen systematisch durch. Bei jedem Tier oder Menschen war es genau dieselbe Prozedur vor dem Verschwinden: Erst blickten sie sich verwirrt um, dann taumelten sie kurz und verschwanden von der Bildfläche. Jedoch verblieben tote Lebewesen, wie beispielsweise die Fische für die Pinguine, ohne sich überhaupt zu verändern.

Viktor und seine kleine Gefolgschaft erreichten die Volieren. Von außen war nichts Anomales zu erkennen, außer natürlich, dass von den Vögeln jede Spur fehlte. Sie liefen um das kleine Gebäude herum und fanden eine Tür, die in dieses hineinführte. Drinnen waren Eimer mit allen möglichen Früchten und toten Insekten ordentlich aufgestellt. Auf den Kübeln stand jeweils eine Nummer von eins bis 16, die vermutlich anzeigen sollten, was für welche Vögel gedacht war. Er griff nach seinem Walkie-Talkie und sprach hinein:

"Leute, hier liegen noch Eimer mit toten Insekten. Liegt bei euch auch noch irgendwas Totes?"

Die anderen verneinten.

Viktor kratzte sich am Kopf und suchte weiter.

Alice hatte gerade das Reptilienhaus erreicht, als Viktors Stimme aus dem Funkgerät ertönt war. Sie trat durch die riesige und nur angelehnt stehende Tür. Die Dunkelheit umhüllte sie, wurde jedoch direkt von vier schmalen Lichtkegeln durchbrochen. Sie kamen von den Helmleuchten ihrer Wachmannschaft.

Sie liefen tiefer hinein in das dunkle Gebäude, das Licht wanderte über die Wände und den Boden und wurde schwach reflektiert. Jedes der Terrarien war leer. Auch im zweiten Geschoss des kleinen Gebäudes verhielt es sich nicht anders. Hinter einer Scheibe fand sie zwar eine Schlangenhaut, doch Lebendes war nicht vorzufinden.

"Nichts bei den Echsen", teilte sie den anderen mit.

Johnny erreichte das Affenhaus und ging durch den Besuchereingang. Zu beiden Seiten ragten fünf Meter hohe Glaswände bis hin zur Decke auf. Dahinter waren Klettergerüste aus Stämmen, Seilen und Netzen errichtet. Hinter diesen war auf Bodenhöhe zu beiden Seiten je ein mannshohes Loch in die Betonwand gestanzt, das in Dunkelheit führte.

"Wie kommen wir hinter die Wände?", fragte Johnny seine Begleiter.

"Draußen war noch eine Tür. Vielleicht durch die?", antwortete der Größte von ihnen.

Sie gingen zu dieser und stießen sie auf. Die Leuchtstoffröhren flackerten etwas, als die Tür hinter ihnen zufiel und den kleinen Raum von der Außenwelt abschnitt. Es gab nur eine Tür in der gegenüberliegenden Wand, der Putz an den Wänden war leicht abgeblättert. Johnny öffnete auch die zweite Tür und fand sich in Dunkelheit wieder.

"Licht, bitte", sagte er zu seinem Trupp.

Nichts passierte. Johnny drehte sich um und… sah nur gähnende Leere.

Leute?, fragte er die anderen Trickster.

Keine Antwort. Johnny bekam es mit der Angst zu tun. Plötzlich erschien weiter hinten im Raum ein schwaches grünliches Leuchten. Johnny zwang sich, darauf zuzugehen. Kurz bevor er den äußersten Rand des Schimmers erreichte, viel ein sattgrüner Schleier vor seine Augen und er fiel.

Er fiel immer und immer weiter, als er sich plötzlich inmitten eines dichten Waldes wiederfand. Die Bäume wiegten sich im Wind und die Äste knarzten, die Blätter raschelten. Auf einmal rasten mehrere kleine, sandbraune Wesen über den grasbewachsenen Boden und stürmten um seine Beine. Johnny erkannte sie als Erdmännchen. Zwischen den Bäumen drang ein Kreischen hervor, es hallte unheimlich. Er erkannte es als verzerrte Version eines Rufes eines Affen. Unvermittelt spürte er einen warmen Atem in seinem Nacken. Er drehte sich um und sah direkt einem Löwen ins Gesicht. Von seiner Angst gelähmt war Johnny nicht in der Lage, sich zu bewegen, als der Löwe sein Maul öffnete. Der Rachen nahm Johnnys gesamtes Blickfeld ein. Plötzlich blitzte es hell auf und er fiel wieder.

Er fiel und sah ein unglaubliches Gewirr an Farben um sich herum. Er sah alle möglichen Farben und noch mehr, und trotz seiner Angst war er fasziniert von dem Farbenspiel, das jedoch abrupt aufhörte.

Er schwebte in absoluter schwarzer Leere, fühlte, sah, empfand nichts. Er vernahm lediglich ein leises knarzen wie von Jahrhunderte alten Bäumen im Wind.

Auf einmal stand er auf einer reinweißen Fläche. Der Himmel war von einem dichten, weißen Nebel verhüllt, durch den Johnny nur gute drei Meter sehen konnte. Er fühlte sich eingezwängt und allein, obwohl er die Präsenz eines weiteren Wesens spürte.

Er drehte sich um und sein Blick viel auf eine krumme Gestalt. Sie war gut einen Meter siebzig groß und hatte einen ungewöhnlich gekrümmten Rücken. Die Haut schien wie Eichenrinde, teilweise mit Moos überzogen. Auf dem Kopf ruhten zwei gewaltige Äste, ähnlich dem Geweih eines Hirsches, jedoch wesentlich größer. Mit knarzender Stimme sprach das Wesen.

"John-Christian, was ein merkwürdiger Name. Jedoch besser, als keinen zu haben."

Johnny war verunsichert:

"W… Wer seid Ihr? Woher kennen Sie meinen Namen? Und… Wie heißen Sie?"

Die Gestalt hob den Kopf und zwei leuchtend grüne Smaragde funkelten im Holz, wie Augen. Keine anderen Gesichtszüge waren zu sehen.

"Ich bin ein Es, ein Teil des Wir. Deine Gedanken sind ein offenes Buch, mein Freund und ich… Ich habe keinen Namen. Er wurde mir von egoistischen Wesen genommen. Sie behalten ihre Sterblichkeit nur für sich. Diese Menschen. Doch du… du bist anders. Und ich bin Es-das-die-Tiere-lenkt."

Johnny starrte dem Wesen in die Augen.

"Was ist…", begann er, doch er wurde von dem Wesen unterbrochen.

"… in dem Zoo passiert?", vervollständigte es, "Ich nahm die Tiere, auf dass sich die Menschen an mich erinnern. Ohne sie bin ich ein Nichts. Doch du, Sterblicher, bist bedeutend, wer auch immer von dir weiß. Und so ergeht es auch den anderen Menschen. Doch du bist anders. Du hast etwas in dir, dass dich unterscheidet. Und du wirst mir Sterblichkeit schenken. Doch erzähle niemandem von mir und gebe mir keinen Namen. Denn sonst wirst du büßen, und deine Freunde gleich mit. Denk immer an meine Worte und dir geschieht nichts."

Damit versank die Welt wieder in Dunkelheit.


"Sie haben drei Tage im Koma gelegen. Sie haben sich den Kopf so stark gestoßen, dass es zu einer schweren Gehirnerschütterung kam", erzählte ihm der Arzthelfer.

"Was ist mit dem Zoo?", fragte Johnny.

"Der wurde abgeriegelt und es wird der Bevölkerung gesagt, aufgrund mangelnder Sicherheitsvorkehrungen musste er geschlossen werden. Die Kosten wären für den Betreiber zu hoch gewesen."

Da ertönte wie aus dem Nichts eine knarzende Stimme in seinem Kopf:

Du allein weißt, was passiert ist.

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