Ein wenig verschnupft beobachtete Theodor Ernst vom anderen Ende des Raumes aus, wie der letzte Teilnehmer endlich humpelnd den Raum betrat. Er wartete, bis der recht junge Mann auf einer etwa in der Mitte befindlichen Bänke Platz genommen hatte.
"Herzlich willkommen. Ich hoffe, ich trete Ihnen nicht zu nahe, wenn ich bemerke, dass wir bereits vor zwanzig Minuten beginnen wollten", erlaubte sich Ernst zu bemerken.
"Ich bin ein bisschen gehandicapt, das sehen Sie doch!", gab der Mann unfreundlich zurück.
Das war keine Entschuldigung, wie alle im Raum wussten. Der alte, dunkel gekleidete Mann links von ihm gab ein missbilligendes Geräusch von sich. Ernst straffte sich.
"Nun ja, dann sind wir jetzt vollzählig und können beginnen. Ich heiße Sie alle nochmals herzlich willkommen zu unserer Gesprächsrunde. Thema ist, wie Sie ja wissen, die zunehmende Problematik der Handhabung von Angst in unseren verschiedenen Professionen. Wir wollen heute einmal über unsere Erfahrungen sprechen und dann versuchen, gemeinsam Lösungen oder wenigstens Lösungsansätze zu finden. Ich schlage vor, wir stellen uns alle erst einmal vor, das dürfte den Zugang zur Diskussion erleichtern. Mein Name ist Theodor Ernst, ich bin tätig als selbstständiger Vertriebler, früher hätte man wohl 'Hausierer' gesagt. Das heißt, ich bewege mich von Haushalt zu Haushalt und versuche mich dort bestmöglich auf die jeweilige Kundschaft einzustellen. Soviel erst einmal zu mir. Vielleicht jetzt der Herr hier vorne?"
Ein älterer Mann, der sich offenbar nicht entblödet hatte, in seiner Arbeitskleidung zu erscheinen, erhob sich und drehte sich den anderen Gruppenmitgliedern zu. Er hüstelte affektiert, bevor er zu sprechen begann.
"Prof. Dr. Hubertus Dermann, meines Zeichens Chefarzt eines Sanatoriums, im Ruhestand. Zur Zeit meiner aktiven Tätigkeit war ich der Erfinder einiger höchst innovativer Behandlungsmethoden für Lungenkrankheiten, insbesondere der Tuberkulose. Ich bin eine Koryphäe auf meinem Gebiet, wenn ich so sagen darf. Und weiterhin passiv in der Klinik tätig. Vielen Dank."
"Alter Esel", raunte der zuletzt Erschienene leise.
"Nun, dann bin ich wohl an der Reihe", sagte eine Dame mittlerem Alters mit hochgestecktem Haar in einem altertümlich anmutenden Kleid. Ihre Stimme klang merkwürdig kratzig, während sie sprach musste sie sich des Öfteren räuspern.
"Gestatten, Gräfin Nora von Beil, die letzte meines Hauses. Ich halte mir zu Ehren, die Besitzerin der Burg von Beil zu sein, welche nun ein Kunstmuseum beherbergt", schnarrte sie.
"Enchanté, Madame", ließ sich der Arzt vernehmen.
"Alte Schabracke", sagte der junge Mann.
"Nun reicht es aber! Reißen Sie sich gefälligst am Riemen, oder ich muss Sie hinausbitten!", rief Ernst und fügte hinzu:
"Hoch erfreut, Gräfin. Der Herr da hinten?"
Der dunkle, in einen schwarzen Mantel gekleidete Greis nahm den Hut ab und drehte ihn in den Händen. Weißes, langes Haar kam zum Vorschein. Er war noch um einiges schwerer zu verstehen als die Gräfin, was er sagte, war ein schleimiges Herumgerolle der Laute aus seinem Mund.
"Früher hieß ich irgendwie, aber die Leute sagen ja doch bloß: Der Totengräber. Ich wollt' mich beschweren. Die Leute …"
"Dazu kommen wir gleich, verzeihen Sie. Der vorwitzige junge Mann dann schlussendlich?"
"Oliver Bauer, Schüler, Motorradcrack. Ziemlich neu im Geschäft. Fertig", blaffte dieser gekonnt gelangweilt, während er versuchte, auf der Bank eine bequeme Position zu finden.
"Schön, dann beginnen wir die Diskussion. Herr … Totengräber, Sie wollten etwas vorbringen?"
Der Alte erhob sich und straffte seinen bodenlangen Mantel. Es war ihm anzusehen, dass er überlegte, wie er sich ausdrücken sollte, das Reden schien ungewohnt für ihn zu sein.
"Seit einigen Jahren fühl' ich mich belästigt. Ich mein' … Ab und zu Kundschaft, das braucht man ja, is' klar. Aber jetzt suchen die mich auf. Rücken mir so richtig auf die Pelle. Ständig wolln' die so Fotos von mir, jeder hat da so ein Ding dabei … Leuchtet und blitzt."
"Smartphone heißt das, Hinterwäldler", stellte der verhinderte Motorradfahrer fest.
Zorn schlich über die ohnehin grimmigen Züge des Totengräbers. Er drohte mit dem Finger.
"Jaha, genauso. Kein' Respekt! Pass bloß auf, Jüngelchen!", grollte er.
"Da muss ich meinerseits dem Herrn auf das Nachhaltigste beipflichten", schaltete sich die Gräfin ein und fügte hinzu: "Mir ist einmal Folgendes widerfahren: Nun, Besucher sind mir selbstverständlich auch nachts willkommen, das versteht sich. Aber eines Nachts verschafften sich zwei Personen widerrechtlich Zugang zum Museum und, ich kann es nicht anders sagen, randalierten dort. Selbstverständlich jagte ich die Bagage in gerechter Empörung hinaus. Mit großer Genugtuung bemerkte ich ihren Schrecken, doch als ich ihnen aus dem Fenster nachsah … Sie standen einfach im Garten, blickten stupide auf diese Geräte und delektierten sich daran. Skandalös, einfach skandalös."
Der Arzt erhob sich, räusperte sich einmal mehr und strich sich, wohl um seine Würde und Distinguiertheit zu betonen, mehrmals durch seinen Bart.
"Ganz recht, Gnädigste, ganz recht. Ich darf noch etwas hinzufügen. Mir fiel im Laufe der Zeit auf, dass die Subjekte sich zunehmend auf höchst unwissenschaftliche Informationsquellen und dergleichen verlassen. Nichts als Mumpitz, Humbug! Verzeihen Sie, dass ich mich echauffiere, doch für jemanden wie mich, einer aufgeklärten Person, ist das ein Gräuel. Stellen Sie sich vor, ich sehe mir gerade einen potentiellen Patienten an und die Person, die sie begleitet, redet einfach dazwischen. Behauptete absoluten Nonsens und log das Blaue vom Himmel herunter. O tempora, o mores!"
"Vielen Dank erst einmal, Herr Professor. Meine Erfahrung zeigt, dass, auch wenn wir Hausierer noch nie so richtig willkommen waren, das Ganze sich stark verschärft hat. Die Methoden, mit denen man mich loswerden will, sind so brutal geworden, unglaublich. Ich halte also fest, unserer Einkommen schwindet und unser Nahrungserwerb leidet. Haben Sie noch etwas anzufügen, Herr Bauer?", fragte Ernst.
Der selbsternannte Motorradcrack hob den linken Arm, der andere war
oberhalb des Ellenbogens abgerissen, der ausgefranste Stumpf ragte aus der zerfetzten Motorradkluft.
"Ich bin wie gesagt neu im Geschäft. Ich wollte mir hier eigentlich nur Tipps holen. Wie man die Penner dermaßen in Angst und Schrecken versetzt, dass sie sich in die Hosen scheißen. Sorry für mein Französisch."
"Empörend und höchst bourgeois artikuliert, doch im Kern sehr wahr", blubberte die Gräfin. Das Gift, das sie vor Jahren getrunken hatte, warf auf ihren gesprungenen Lippen Blasen.
"Früher reichte es, eine befallene, knotige Lunge zu zeigen …", hing der Arzt schwärmerisch in der Vergangenheit fest.
"Als man als Hausierer ein Haus am Ende als sein eigenes bezeichnen konnte. Ach, wie die abgehauen sind und all die herrliche Angst", sagte Ernst.
"War genug, wenn se mich …"
Von draußen waren Schritte und eine Stimme zu hören. Die Gruppe hielt inne und lauschte auf die näherkommenden Geräusche. Durch das Gitter war der umherstreifende Schein einer Taschenlampe zu sehen.
"Hmm ja, sag' ich doch, seit drei Wochen … Klar hab' ich eine Schmerztablette genommen, wenn ich nach der Menge der letzten Tage noch eine nehme, explodiert meine Leber, glaub' ich … Weiß ich nicht … Puh, ob das von oben kam oder die Lichs bei ihr angefragt haben, kein Plan. Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich nicht von Angesicht zu Angesicht mit denen zu tun hatte. Sollen sauunheimlich sein … Ich geh' mal rein, ich melde mich später."
Dann wurde vor den gusseisernen Stäben die Lampe abgelegt, Sekunden später fiel die Kette von einem Seitenschneider durchtrennt samt Vorhängeschloss zu Boden. In der Stille klang das gequälte Kreischen der Scharniere beinahe wie echte Schreie. Das Licht fiel in das Innere der unterirdischen Kapelle und suchte tastend herum. Ein Mann betrat den Raum, von den Geistern aufmerksam beobachtet. Er war mittleren Alters, trug einen schwarzen Kapuzenpullover, graue Jeans und passende Sneaker. Ein offensichtlich schwerer, ausladender Tornister hing über seine Schulter, an seiner Seite ein tragbares Funkgerät. Der Mann besah sich den Raum, der Schein glitt über die maroden Kirchenbänke und den kleinen Altar, über das Kreuz und die feuchten, aus Naturstein gefügten Wände. Die Tasche wurde abgestellt, der Mann fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar und verschloss dann das Gitter hinter sich.
"Grad' jetz'!"
"Nein, nein, vielleicht ist das nicht einmal der schlechteste Zufall. Wir könnten an ihm etwas Neues ausprobieren oder uns wenigstens ein bisschen laben", stellte der Hausierer fest.
"Oder sogar eine Zeit lang an ihn heften, dass ist noch effektiver", fügte der Arzt genüsslich hinzu, "Aber sehen wir erst einmal, wie das Subjekt vorgeht."
Inzwischen machte sich der Neuankömmling an dem Tornister zu schaffen. Er reihte vor sich sechs steinerne Pyramiden auf, deren Kantenlänge etwa zwanzig Zentimeter betrug. Zwei davon platzierte er links und rechts neben dem Eingang. Aus den seitlichen Taschen seines Pullovers kramte er ein Stück Kreide, aus seiner Hosentasche ein Smartphone hervor.
"Da, da! 'Türlich hat der auch so ein Ding!"
"Von beidem etwas, mein Bester. Esoterischen Hokuspokus auch, sehen Sie nur!"
Abwechselnd auf das Display und die Wand blickend, hatte der Mann begonnen, mit der Kreide verschlungene Symbole auf das raue Mauerwerk zu zeichnen. Mit zwei weiteren Pyramiden begab er sich auf die rechte Seite der Kapelle und stellte sie dort im Abstand von einigen Metern auf. Die Kreide wurde gezückt.
"Der kriegt einen kleinen Vorgeschmack von mir!", sagte der zerrissene Motorradfahrer mit diabolischem Grinsen.
Er erhob sich und humpelte mit verdrehten Gliedern auf den hockenden Mann zu. Energie wurde aus dem direkten Umfeld abgezogen, die Temperatur fiel um ein paar Grad. Der Geist streckte den intakten Arm aus und versetzte dem Geisterjäger einen Stoß zwischen die Schulterblätter. Dieser stützte sich reflexartig an der Wand ab.
"Ha, scheint ja ganz ein Harter zu sein. Ich spüre nur ganz wenig Angst und die … ist heftig unterdrückt, als ob was Schweres drauf liegt, wie ein Amboss, oder so was. Und ich glaube, der hat 'Arschloch' zu mir gesagt!"
"Diese Sorte kenne ich, das sind die, die sich am Ende am meisten fürchten. Wenn die überzeugt sind, gibt es kein Halten mehr, wie bei störrischen Patienten", kommentierte der Arzt.
Mittlerweile war der Mann auf der linken Seite fertig geworden und machte sich nun an beiden Seiten des kleinen Altars zu schaffen, seine Runen malte er skrupellos auf die verblassenden, auf sprödes Holz aufgebrachten Bilder. Als er schließlich fertig war, setzte er sich, noch respektloser, kurzerhand auf den hüfthohen Steinquader.
"Infame Kreatur! Wie nun, meine Herren?", entsetzte sich die Gräfin.
"Bin dran! Den Herrn nich' achten, wie? So 'ne Leute stör'n auch die Totenruhe. Soll mein Gesicht sehn', das Aas!", redete sich der düstere Totengräber in Rage.
Er stampfte mit wehendem Mantel in den vorderen Teil des Raumes, während sein halber Unterkiefer knirschte und krachend an die oberen Zahnreihen schlug. Ab und an trat die schwarze, geschwollene Zunge hervor. Er beugte sich vor dem Eindringling herunter, bis sein verfallenes Gesicht sich genau vor dem anderen befand. Er sammelte sich, es wurde eiskalt in der Kapelle. Der Mann sah auf und ihm direkt in die verwesten Augen, noch bevor er sich sichtbar machen konnte. Etwas stimmte nicht, dachte der Totengräber bei sich. Um die Pupillen seines Gegenübers drehten sich schwach bläulich leuchtende, winzige Zeichen chaotisch durcheinander.
"Spar dir den Scheiß, Opa. Ich sehe dich auch so. Bin ganz froh, dass ich dich nicht riechen kann."
Der Totengräber wich verwirrt zurück. Von den anderen Geistern begriff der Hausierer als Erster, dass die Sache aus dem Ruder lief. Er beeilte sich, durch den Raum zu hasten. Er versuchte durch das geschlossene Gitter zu entkommen, prallte aber ab, als wäre er gegen eine massive Wand gelaufen. Panik erfasste nun auch den Rest der Gruppe, jeder versuchte den Ausgang zu erreichen, keiner hatte Erfolg. Der Mann auf dem Altar seufzte und nahm sein Funkgerät zur Hand. Er drückte den Sendeknopf.
"Liebe MTF-18, ihr könnt dann langsam. … Ja, Angstpiraten, ganz fiese Typen … 5 … Gut, ich mach' mich dann vom Acker, bitte also noch ein paar Minuten warten und bitte so schnell keinen Schüleraustausch mehr, ich hab' selber genug zu tun. … Alles klar."
Er stellte die Beine auf den Boden und schritt dann ungeniert durch den Geist vor ihm. Alle verfallenen Augen waren auf ihn gerichtet.
"Mal kurz herhören. Ich muss jetzt leider schon gehen. Nur so viel noch: Ihr habt gleich ein richtig großes Problem", sagte Viktor.