Kegare

Berg Ibuki
Ein kühler Frühlingswind wehte den bewaldeten Berg hinunter, als Kaito Eguchi den schmalen Feldweg zwischen den Bäumen hinaufging. Er stützte sich auf seinen Gehstock, ein Shakujō mit acht Ringen, der ihm von seinem Vater gegeben wurde, welcher ihn von seinem Vater vor ihm geschenkt bekommen hat. Kaito stammte aus einer generationsübergreifenden Ahnenreihe buddhistischer Mönche, aber im Gegensatz zu anderen in seinem Umfeld hatte er keinen Tempel, den er sein Zuhause nennen konnte. Sein Tempel war der offene Himmel.
Kaito rieb sich seine kahle Kopfhaut und schaute weiter hoch auf dem Bergpfad. Er war in seinen Vierzigern, aber sein aktiver Lebensstil hielt ihn schlank und drahtig. Seine Roben waren überwiegend traditionell, aber er hat die langen, bauschigen Ärmel entfernt, damit die kühle Bergluft seine entblößten Arme küsste.
Als ein wandernder Mönch bettelte Kaito um Almosen von den Einwohnern in Gemeinschaften, die er passierte, und blieb häufig für ein oder zwei Nächte in Häusern, bevor er wieder weiterzog. Seine Arbeit führte ihn von einem Ende Japans zum anderen, manchmal mehr als einmal innerhalb eines Jahres. Oft führten seine Pflichten ihn zu abgelegenen Orten wie diesem; ein Feldweg auf dem Berg Ibuki in der Präfektur Shiga in der Region Kinsai.
Kaito schaute zum Himmel hoch und schätzte, dass es mehrere Stunden nach Mittag waren, also lehnte er seinen Shakujō an einen Baum. Er band den Stoffrucksack auf seinem Rücken los, öffnete ihn und holte ein paar in Seegras gewickelte und mit geräuchertem Fisch gefüllte Onigiri hervor. Er aß seine Mahlzeit, während er über den Rand einer Klippe schaute und den Biwa-See in der Nachmittagssonne überblickte. Eine plötzliche Änderung der Windrichtung brachte ihm den Geruch von verrottenden Blättern und nasser Erde. Er beendete seine Mahlzeit, nahm den Shakujō und führte seinen Weg fort. Mit jedem Schritt läuteten die acht Stahlringe, was seinem Fortschritt ein gleichmäßiges Tempo verlieh.
Nach einer weiteren Stunde stand er am Anfang einer steilen Steintreppe, die von einem großen Torii aus Stein umrahmt wurde, welches von Wasser und Flechten befleckt war. Er trat über die Schwelle und begann, die mit Blättern bedeckte Treppe hinaufzusteigen. Die Bäume standen näher beieinander, während er ging, und warfen einen Schatten auf die Steine, was die Illusion einer späteren Stunde erzeugte.
Am oberen Ende der Treppe stand ein zerstörtes Holztor offen, das durch Feuchtigkeit verrottete, aber vor Kurzem auch von einer unglaublichen Kraft getroffen worden ist. Kaito schloss seine Hände fester um den Shakujō, während er sich dem offenen Tor näherte, aber bevor er es erreichte, flitzten zwei leuchtend orangene Lichter an ihm vorbei. Er sprang zurück und verlor fast seinen Halt auf den Blättern. Kaitos Blick folgte den Lichtern, als die beiden Hitodama zwischen den Bäumen in ihren Zufluchtsort flitzten. Die kleinen Feuerbälle flohen von den kürzlich Verstorbenen und sollen Seelen sein, die dem Körper entfliehen. Als er sich wieder dem Tor zuwendete, begann Kaito, den Amitabha Sutra zu rezitieren, um die beiden Seelen zum reinen Land zu führen.
Hinter dem zerbrochenen Tor war ein kleiner, mit Steinen gepflasterter Hof, der von den Resten eines baufälligen traditionellen Holzzaunes umgeben wurde. Die Steine des Hofes waren eng aneinander gelegt und mit toten Blättern bedeckt. Am anderen Ende des Hofes standen drei baufällige, verlassene Tempelgebäude – einst ein Schrein für den auf dem Berg Ibuki ansässigen Kami. Die Zeit und die Witterungseinflüsse haben eindeutig ihren Tribut an die Strukturen gefordert, aber trotz seiner Verlassenheit stand der Tempel immer noch in der frischen Bergluft.
Der Tempel hatte die Form eines Hufeisens, das von ihm wegzeigte, wodurch ein Innenhof gebildet worden ist. Kaito ging weiter, bis er vor der zerbrochenen Schiebtür zum zentralen Tempelgebäude stand. Als er die dekretierte Struktur betrat, fand er kaum mehr als Blätter. Auf dem Boden standen keine Möbel oder das übliche Tempelzubehör. Er konnte seltsame, verstümmelte Geräusche aus der Richtung des Innenhofes hören, also stieg er die verkümmerte Holztreppe im hinteren Bereich des Tempels hinauf. Im Obergeschoss fand er eine Platte, die den Zugang zum Ziegeldach für Reparaturen ermöglichte, und trat in die Sommersonne hinaus.
Ein Nebel hing über dem Hof und dem Berghang dahinter. Kaito näherte sich dem Rand des Daches und schaute hinab.
Auf den Pflastersteinen des Schreins lagen zwei Leichen, ein junger Mann und eine Frau mittleren Alters. Das Blut tränkte die Pflastersteine und spritzte um die Leichen herum, die alle schreckliche stumpfe Verletzungen an Rumpf und Kopf erlitten hatten. Über den Leichen hockte eine große Figur mit wildem, verknotetem Haar, Hörnern, die sich auf seinem Kopf kräuselten, verfärbter, unmenschlicher Haut und Stoßzähnen, die aus seinen Lippen wuchsen.

Das Gesicht des Onis war mit Blut verschmiert. Er hielt den Arm der Frau hoch, seine glitzernden Stoßzähne in seinem offenen Mund mit Blut befleckt, als er sich darauf vorbereitete, noch einen Bissen von ihrem Fleisch zu nehmen. Die Kreatur war groß genug, dass sein Kopf das Dach jedes Dorfhauses überragt hätte, und seine Schultern waren so breit, dass er kaum Mühe hätte, einen Wasserbüffel anzugreifen.
Plötzlich ließ der Troll den Arm fallen und schaute zum Dach, auf dem Kaito stand. "Ah, hallo, Priester. Wie angenehm."
Der Oni wischte sich den Mund mit der Rückseite seines haarigen Unterarms ab und wischte den Unterarm anschließend an der rauen Tunika und den Lappen ab, die er trug. "Könntest du in einer Stunde zurückkommen? Ich versuche, meine Mahlzeit zu genießen. Wir sind alte Freunde, du und ich, du würdest mir sicherlich so eine kleine Bitte gewähren."
Das Japanisch des Onis war grob, mit einem unterschwelligen Knurren bei jeder Silbe, aber Kaito verstand den Yokai gut genug.
"Nein. Bleibe von den Toten weg, Oni-me."
"Ich denke nicht, dass ich das tun werde, Priester." Der Oni griff nach einer langen Eisenstange, die sechseckig war und aus deren oberen Hälfte raue Metallzähne herausragten. Der Knüppel hatte einen Griff aus Knochen, der in Rauleder gewickelt war. Er war halb so groß wie Kaito.
Kaito holte zwei Ofudas aus seiner Gürteltasche hervor und befestigte einen davon an der Spitze von seinem Shakujō. Mit einer gesprochenen Beschwörungsformel oder Kotodama aus Kaitos Mund wickelte er sich fest um den Stiel unter den Stahlringen.
"Ich bitte dich, bleibe stehen, Oni. Es muss heute keinen Konflikt geben. Lass mich für diese Toten sorgen und geh zurück zu deinem Reich."
"Nein, Insekt, das werde ich nicht! Du suchst keinen Konflikt, aber du bereitest Waffen des Krieges vor. Warum bist du überhaupt hier, Priester? Das ist keiner von deinen Tempeln." Der Oni knurrte diese letzten Worte und hielt seinen Knüppel vor sich.
"Friede für die Toten, und für alles, bringt mich hierher. Dies sind keine Waffen, sondern Werkzeuge. Ich suche keinen Krieg mit dir."
"Die Komischen und Wundervollen fallen auseinander, während wir miteinander quatschen! Die Reiche schwinden, Magie versagt und die Kami verlassen ihre Tempel. Dafür kämpfst du? Verschwinde!"
"Die Kami haben diesen Ort nicht verlassen. Und ich werde nicht meine Gemeinde verlassen."
"Diese beiden Würmer?" Der Oni zeigte auf die Toten zu seinen Füßen. "Du riechst nicht so, als wärst du von hier. Sie sind nicht deine Gemeinde, Prister."
"Alle Menschen in Japan sind meine Gemeinde, Hitogoroshi-me."
"Mord? Was sind schon zwei weitere Tote? Die Menschen bevölkern dieses Land, tausendmal mehr als seit der Herrschaft von Nobunaga. Sie trocknen die Meere aus, verbrennen giftige Chemikalien in der Luft und überhäufen ihre Mülldeponien mit Abfall. Ihr Leben ist entbehrlich."
"Genug geredet, Oni. Trete zurück!"
Knurrend rannte der Oni über den kleinen Hof und schwenkte seinen Knüppel auf Kaitos Hüfte. Kaito lehnte sich zurück, sodass er über ihn hinwegschwenkte, und machte einen Sprung zurück, um die Entfernung zu vergrößern. Der Oni holte mit einer Krallenhand aus und zertrümmerte teilweise das alte Dach. Kaito konnte spüren, wie die Struktur versuchte, sich aufrecht zu halten, also glitt er zum Rand der Ziegel und ließ sich in einer flüssigen Bewegung auf die Pflastersteine hinab. Seine Knie beschwerten sich über die Wucht seiner Landung, aber er hielt sein Gleichgewicht.
Der Oni knurrte und ging wieder auf ihn los, wobei er den Knüppel gegen seinen Kopf schwang. Kaito trat zur Seite, ließ das grobe Eisenwerkzeug an sich vorbeiziehen, und streckte den Shakujō aus, sodass die in Ofuda gewickelte Spitze gegen die entgegenkommende Waffe schlug.
Eine Glocke erklang im Hof, es gab einen Lichtblitz und der große Knüppel des Onis prallte zurück, als hätte er einen Felsbrocken getroffen. Der Oni trat zurück und schüttelte seine Hände eine nach der anderen.
"Das tat weh, Priester. Du hast neue Dinge gelernt, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Lass mich dich an meinen Namen erinnern, Shak–"
"Dein Name interessiert mich nicht. Ich möchte dich nicht beleidigen, aber ich spüre kein Verlangen, dich zu kennen. Trotz deiner Vertrautheit werde ich dich nicht noch einmal warnen. Verlasse dieses Reich und lass mich für die Toten sorgen."
"Ich werde deine Leiche für meine Mitternachtsmahlzeit aufbewahren!"
Der Oni sprang in die Luft und ließ seinen großen Knüppel auf Kaito niedersausen, welcher zur Seite auswich und seinen Shakujō schwang. Der Knüppel zerstörte die Pflastersteine, auf denen Kaito gestanden hat, aber sein Shakujō traf das linke Schienbein des Onis, als er landete, was ein lautes Knirschen erzeugte, als noch ein Lichtblitz von der mit Ofude umwickelten Spitze ausgestoßen wurde.
Der Oni grunzte vor Schmerz, ließ seinen Knüppel fallen und hielt sein linkes Bein fest. Kaito näherte sich dem stöhnenden Giganten, welcher nach seinem Knüppel griff, als er sah, wie sich der Prister ihm annäherte.
Kaito sprach laut ein Kotodama aus, ließ seinen Willen und den des Amitābha in den Klang einfließen, und der Hof wurde von einem himmlischen Läuten erfüllt. Eine Kraft wirkte auf den Knüppel ein und ließ die Waffe über die Pflastersteine und aus der Reichweite des Onis schlittern.
Ein großes, schmerzerfülltes Seufzen kam aus dem hässlichen Mund mit Hauern. "Wenn Magie versagt, werden die Reiche leer sein und wir werden alle sterben, Priester. All die Yokai und Kinder der schwarzen Orte werden verkümmern, deine Worte werden ihre Bedeutung verlieren und diese Zauber werden so viel Papier sein. Welchem Zweck wirst du dann dienen, Onikari?"
Anstatt zu antworten schnellte Kaito vor und schlug dem Riesen mit einer geöffneten Handfläche auf die Stirn, dabei befestigte er den anderen Ofuda an seinem Fleisch.
Noch eine Glocke läutete im Hof, lange und deutlich. Der Oni heulte, als Rauch aus seinem Mund kam und ein helles Licht seine Gestalt konsumierte. Als das Licht abschwächte, gab es nichts außer Brandspuren auf den Pflastersteinen. Die Keule flimmerte im Nachmittagslicht wie die Hitze auf dem Wüstensand, und dann verschwand auch sie von der physischen Ebene. Kaito bemerkte, wie sich der Nebel lichtete, während sich der Einfluss des Onis verringerte.
Er atmete tief ein, vor Adrenalin zitternd. Er berührte den Ofuda, der um die Spitze des Shakujōs gewickelt war, und er zerfiel zu Staub, seine Kraft war verbraucht. Er lehnte sich auf seinen Stab, um seinen Atem wiederzubekommen. Er näherte sich den beiden Toten und wunderte sich dabei, was sie an diesen Ort geführt hat. Er wandte sich zum entweihten Schrein, verbeugte sich und flüsterte ein Dankgebet an den Kami, dessen Haus es gewesen ist.
"Wenn ich Zeit hätte, würde ich den Schaden an deinem Haus reparieren, Ehrenwerter. Aber es scheint, als hätten wir Gesellschaft."
Er drehte seinen Kopf zur Ecke des Tempelgebäudes, die der Oni beschädigt hat, und rief: "Also, treten Sie hervor, wenn Sie reden wollen."
Eine junge Frau in Kampfausrüstung trat durch eine Lücke im zerstörten Zaun direkt neben dem Tempelgebäude. Sie trug ein Sturmgewehr und eine Pistole war im Holster an ihrem Gürtel. Obwohl sie das Gewehr in ihren Händen hielt, zielte sie es nicht in seine Richtung.
"Wer sind Sie und was wollen Sie?", fuhr er auf Japanisch fort.
"Ich bin Fumiko Tanaka, ich repräsentiere –"
"Die Foundation", unterbrach er sie in einem akzentuierten, aber guten Englisch. "Ihr Japanisch ist schrecklich, Tanaka-san. Was wollen Sie?"
Ihre Augen weiteten sich ein wenig. "Sie wissen von der Foundation?"
"Ja, die Kerkermeister haben keine starke Präsenz in diesem Gebiet, aber sie fallen auf, wenn man aufmerksam ist. Das erklärt jedoch nicht, was Sie hier machen. Sie hätten umgebracht werden können."
"'Kerkermeister'? Also ist es wahr, Sie gehören zur Hand?" Die Agentin schüttelte ihren Kopf, während sie das sagte, und näherte sich ihm. Sie hielt das Gewehr weiterhin nach unten gerichtet.
"Ich bin mit der Hand vertraut und sie haben mir in der Vergangenheit ihre Hilfe angeboten. Aber Sie würden mit Ihrem Ausweichen sogar Buddhas Geduld auf die Probe stellen. Beantworten Sie meine Frage." Er trat einen Schritt vor und schaute in ihre Augen, welche weiterhin über den Hof schweiften.
"Ich wurde gesandt, um Ihre Effizienz zu bewerten, bei einer lebenswichtigen Mission zu helfen."
Kaito sagte einen Moment lang nichts, dann lachte er. "Ich arbeite nicht für Ihre Organisation. Sie hätten den Oni gefangen genommen, ihn untersucht und ihm schließlich einen Ausbruch ermöglicht, weil Sie keine effektiven Maßnahmen gegen ihn gehabt hätten, woraufhin er noch mehr Menschen hier geplagt hätte."
"Das war ein Oni?"
"Ja, oder Oger, wie Sie ihn auf Englisch nennen würden."
"Ich bin vielleicht Amerikanerin, Euguchi-san, aber ich habe vom Oni gehört. Und Sie wären von unseren Fähigkeiten überrascht."
Kaito hob seine Hände, um zu zeigen, dass er keine Bedrohung darstellte. "Nun gut, das ist weder relevant noch interessant für mich. Ich habe Ihnen schon gesagt: Ich arbeite nicht für Ihre Organisation."
Sie ließ ihr Sturmgewehr an ihrer Schulter herabhängen. "Es gibt eine Situation, auf die wir gestoßen sind, bei der wir Ihre Erfahrung gebrauchen könnten, wenn Sie es mich erklären lassen würden?"
"Machen Sie nur, Agentin Tanaka."
Sie sprach mehrere Minuten lang und als sie fertig war, seufzte er. Er wendete ihr zum ersten Mal den Rücken zu. "Na gut, dann schätze ich, dass ich doch mit Ihnen kommen werde. Aber zuerst kümmere ich mich um die Toten. Haben Sie eine Transportmöglichkeit?"
Sie nickte. "Ein Heli ist in der Nähe."
"Gut." Er begann, die Leichen zu begradigen, damit sie so ruhig wie möglich liegen konnten, wo sie so ein gewalttätiges Ende gefunden haben. Er rezitierte ein weiteres Sutra und säuberte das Blut von ihren Gesichtern.
Als er fertig war, wandte er sich zu ihr. "Rufen Sie Ihren Helikopter, wir müssen uns beeilen, nach Ine zu kommen."

Fischerdorf Ine

Der Helikopter hat sie auf einem angrenzenden Feld abgesetzt, nahe dem Japanischen Meer. Dort rief Agentin Tanaka ein Boot, um sie in das Fischerdorf zu bringen. Das Dorf ist an der Grenze der Küste entlang der nördlichen Spitze der Tango-Halbinsel gebaut worden, nördlich von der alten Hauptstadt, Kyoto. Viele Häuser waren im traditionellen Stil gebaut worden, genannt Funaya, mit kleinen eingebauten Bootsanlegern, die als erstes Stockwerk dienten, und Wohnräumen darüber.
"Sind Sie sich sicher, dass die Leichen mit Respekt behandelt werden?", rief er über das Dröhnen des Motorgeräusches hinweg.
"Wie ich bereits gesagt habe, werden wir sie an die entsprechenden Stellen weiterleiten und sicherstellen, dass ihre Familien benachrichtigt werden, sobald sie identifiziert wurden."
Kaito nickte und hielt seine Hand vor seine Augen, um sie vor der Sonne über dem Wasser zu schützen. Trotz der späten Nachmittagsstunde war das Dorf still. Normalerweise wäre dies die Zeit, in der die Männer und Frauen auf Fischerbooten zurückkehren, um ihren Fang zu säubern oder auf ihren Booten zu arbeiten. Aber heute, während die Sonne sich dem glitzernden Horizont näherte, gab es keine Aktivität. Das Boot glitt in einen leeren Platz bei einem Hafenbecken und Kaito sprang auf das Holzgerüst. Er stellte Augenkontakt mit Fumiko her.
"Wo sind all die Menschen, Agentin?"
"Wir haben die Dorfbewohner mit einer Geschichte über einen möglichen Terroristenanschlag evakuiert."
"Wo sind dann die Verteidigungskräfte und Polizisten, die bei einer solchen Situation zu erwarten wären?", fragte er sie.
Fumiko lächelte und zuckte mit den Schultern, dann folgte sie ihm auf das Hafenbecken. Sie wandte sich zum Kapitän des kleinen Bootes, der eine ähnliche Kampfausrüstung wie sie trug, und nickte ihm zu. Als sie vom Schiff wegschaute, fuhr er von der Küste weg.
Sie schaute zu Kaito. "Keine Sorge, wir werden Unterstützung bekommen, wenn wir sie brauchen."
Kaito lief zwischen zwei Funaya, um auf die nächste Straße zu gelangen. "Das wird nicht nötig sein."
Fumiko schnaubte. "Sie sind ein wenig übermütig, oder?"
Kaito wandte sich ihr zu und stützte sich auf den Shakujō, seine Augen verengten sich, als sie ihre trafen. "Ich habe mein ganzes Leben als Erwachsener meine Leute vor Yokai und Oni beschützt. Die meiste Zeit davon war ich allein. Also würde ich sagen, dass ich auf dem 'gerade richtig'-Level des Selbstvertrauens bin."
Sie hielt ihre Hände in einer gespielten Geste der Kapitulation hoch und folgte ihm zu einer Straße zwischen zwei der Häuser.
"Erzähle mir von diesen Morden", sagte er über seine Schulter.
"In den letzten acht Tagen sind sechs Menschen plötzlich gestorben." Ihr Tonfall verriet nur wenig Entsetzen, als würde sie rezitieren.
"Bissspuren? Risse im Fleisch, als wäre ein Tier am Körper gewesen?"
Fumiko zitterte leicht, dann schüttelte sie ihren Kopf. "Nein, jedes Mal Erwürgen. Aber es gab keine Anzeichen der Strangulation oder des Ertrinkens."
"Wurden die Opfer in ihren Betten gefunden?"
"Nein. Obwohl die Tode in der Nacht auftraten, wurden nur wenige in ihren Häusern gefunden. Die anderen wurden auf der Straße entdeckt. Keine Zeugen haben sich gemeldet."
"Es hört sich wie ein Yamachichi an, aber nicht ganz."
"Was ist das?" Ihr Tonfall war locker, als würde sie sich überhaupt nicht für dieses Thema interessieren – was keinen Sinn ergab. Deshalb wurde er hierhergerufen, oder?
"Ein Yokai, der den Atem von schlafenden Menschen stiehlt. Aber normalerweise leben sie in den Bergen und wenn ein Opfer angegriffen wird, sterben sie am nächsten Tag."
"Könnte das einer von denen sein?", fragte sie.
"Yamachichi sind extrem selten und selbst wenn es einen in der Umgebung gibt, würde er nicht so häufig jagen."
"Wie selten?"
"Ich habe nur in einem alten Bestiarium aus der Edo-Zeit über sie etwas gelesen." Kaito seufzte. Er blieb stehen, um eine auffüllbare Wasserflasche aus seinem Rucksack zu holen, und trank einen Moment lang, bevor er wieder redete. "Wann war der jüngste Tod?"
"Vor mehreren Nächten, in einem Haus die Straße hoch. Wollen Sie es sich ansehen?"
Kaito nickte und signalisierte, dass sie den Weg weisen sollte. Ein paar Minuten später stand sie vor einem der Funaya-Häuser und öffnete die Tür, wobei sie die Polizeiabsperrung zur Seite schob. Kaito folgte ihr hoch zum Wohnbereich des Hauses und zog seine Sandalen beim Eingang aus. Fumiko begann, die Wohnung zu betreten, aber Kaito blieb stehen und schaute auf ihre Kampfstiefel hinunter.
"Niemand lebt hier gerade. Es ist nicht gerade zweckdienlich, sie aus- und wieder anzuziehen …"
"Dann bleiben Sie hier", sagte Kaito.
Als er an ihr vorbeilief, sagte sie: "Die Leiche wurde in der Küche gefunden." Kaito nickte und ging durch den Eingang, indem er die traditionelle Tür aus Reispapier zur Seite schob. Der Boden war aus poliertem Kiefernholz und fühlte sich an seinen nackten Füßen glatt an. Das Wohnzimmer kam zuerst, klein mit einem alten Fernseher auf einer Kommode. Dann kam ein modernes Badezimmer und anschließend die Küche.
Kaito konnte fühlen, wo das Leben geendet hat. Die Emanation kam aus der Ecke, wo der Bewohner gegen das Holzkabinett und die kleine Waschmaschine gefallen ist. Er schloss seine Hände, verbeugte sich und rezitierte ein Sutra.
Ein Geräusch am Fenster ließ ihn aufschrecken und er konnte gerade noch einen pelzigen Körper ausmachen, der von der Fensterbank und außer Sicht verschwand.
Kaito drehte sich um und rannte zum Eingang zurück, zog seine Sandalen an und stürzte aus der Tür. Fumiko folgte wenige Schritte hinter ihm.
"Was ist es?", fragte sie.
Kaito schüttelte seinen Kopf, während er um die Ecke auf die Straße rannte und gerade noch eine Bewegung zwischen zwei Häusern ein paar Dutzend Meter entfernt bemerkte. Als er die Gasse erreichte, gab es kein Zeichen von dem Ding.
Fumiko holte ihn ein und sicherte die Umgebung mit ihrem Sturmgewehr. Kaito legte seine Hand auf die Waffe und drückte sie herunter.
"Es ist weg."
Kaito lief zum Ende des Weges zwischen den Häusern und schaute zu einem kleinen, gut erhaltenen Park hinüber. LED-Lampen entlang der Straße und im Park flackerten auf und beleuchteten das ordentlich geschnittene Gras und den Spielplatz für die Kinder. Auf der anderen Seite des Parks war ein Wald, der einen Hügel bedeckte. Er trat auf die Straße zum Park, wurde jedoch am Rücken von etwas getroffen, das klein und furchtbar dicht war.
Kaitos Gesicht traf den Asphalt mit einem lauten Klick und die Welt wurde einen Moment lang dunkel. Als seine Sicht klarer wurde, schmeckte er Blut in seinem Mund. Sein Kopf zitterte, während er sich zu Fumiko drehte und den Yokai sah, der sich über ihr Gesicht hockte.
Er konnte den Atem sehen, der ihren Lippen entwich, während er versuchte, auf seine Füße zu kommen. Das Bild der Straße verschwamm und erschuf Doppelgänger der Szenerie. Übelkeit ergriff ihn und er würgte. Er konnte nur ein zitterndes Keuchen produzieren, als er versuchte zu reden, und schmeckte dabei Blut in seinem Mund. Sie würde sterben.
Plötzlich ertönten drei Schüsse und der Yamachichi wich zurück und kollabierte auf den Boden. Fumiko holte tief Luft, stöhnte und setzte sich dann aufrecht. Kaito schaute in die Gasse und sah, wie sich mehrere Soldaten der Foundation mit gehobenen Gewehren näherten.
Kaito stand auf, überprüfte, ob Fumiko gleichmäßig atmete, und zwang sie, sitzen zu bleiben, indem er eine Hand auf ihre Schulter legte.
Er wandte sich zum nächsten Soldaten und fegte seine Beine mit dem Shakujō weg. Er fügte einen Tritt auf das Sonnengeflecht des gefallenen Soldaten hinzu und streckte den Shakujō aus, um den nächsten Soldaten am Kiefer zu treffen, was ihn hinfallen ließ. Der dritte Soldat hob seine Waffe und zielte sie auf Kaito.
"Zurücktreten!", rief Fumiko und lief zwischen die beiden. Sie hielt ihre Hand vor Kaito und wandte sich zum Soldaten. "Helfen Sie ihnen auf und gehen Sie zur Straße zurück."
"Aber –"
"Jetzt, Sergeant!"
Fumiko drehte sich wieder zu Kaito und platzierte beide Hände auf seine Brust, während er versuchte, sie zur Seite zu drängen, um den Soldaten zu folgen.
"Hören Sie mir zu!", schrie sie in sein Gesicht und brachte ihn zum Stehen. "Sie haben mich nur beschützt. Das ist ihr Job!"
Kaito stieß ihre Hände mit einer Kraft weg, die sie offensichtlich überraschend fand, und drehte sich zum Yamachichi um. Der Yokai zitterte und braunrotes Blut floss aus den drei Schusswunden in seinem Rumpf. Es sah wie ein Opossum mit der Größe eines Kleinkinds aus, aber etwas anthropomorphisiert. Seine Augen waren von einem schockierend menschlichen Blau. Kaito berührte die Brust des Biests, gerade rechtzeitig, als das Atmen stoppte.
"Es hat nur aus Instinkt gehandelt. Hier gab es keine Boshaftigkeit", sagte er.
"Was hätten sie tun sollen, mich sterben lassen?"
"Sie wären wiedergeboren worden. Es wird das nicht." Er war einige Minuten lang still, während er neben dem Yamachichi hockte. "Es gibt kein Gebet für einen Yokai. Keine Höllen oder einen dharmischen Zyklus. Einfach nur Vergessenheit."
Fumiko berührte Kaitos Schulter. Er schaut zu ihrem Gesicht hoch. "Es tut mir leid. Ich bin bloß von dieser ganzen Gewalt frustriert."
"Warum fühle ich mich so stark? Ich fühle mich, als hätte ich gerade drei Becher Espresso gehabt und ich habe noch nicht einmal Probleme beim Atmen."
"Wenn ein Yamachichi dabei unterbrochen wird, den Atem einer Person zu nehmen, wird sie nicht nur nicht am nächsten Tag sterben, sondern erhöhte Vitalität und ein längeres Leben haben … oder so heißt es." Kaito sprach leise, während er seinen Stoffrucksack aufknüpfte, ihn auseinanderfaltete und ihn über den kleinen pelzigen Körper legte. Er stellte seine Wasserflasche auf den Boden und legte seinen überschüssigen Ofuda in den Beutet an seinem Gürtel.
"Was hätten Sie unternommen?", fragte sie.
"Es außer Gefecht gesetzt und aus dem Reich verbannt. Es war nur ein armes Biest."
Ein Händeklatschen kam von den Bäumen, als langsamer Applaus.
Kaito drehte sich um und sah einen Tengu, der aus den Bäumen hinter dem Park auftauchte. Seine mit Krallen bespickten Füße gruben sich in das Gras, während er lief. Seine schwarz gefederten Flügel waren hinter seinem Rücken zusammengefaltet und er trug einen langen Speer aus einem schwarzen, öligen Metall. Er trug Lederrüstung auf seiner Brust mit Stahlringen, die in das Material genäht waren.
"Sehr nett." Der Tengu lachte mit einem schrillen Ton, der aus seinem Schnabel kam. Beerdigungsriten für einen Yamachichi! Willst du einen Sutra rezitieren?"
"Das wäre sinnlos, sein Geist ist dahin gegangen, wo auch immer Yokai reisen, wenn sie sterben. Er hat keine Seele, die wiederbelebt werden kann, keinen Pfad zum Reinen Land."
"Ah, sehr schade. Ich habe auf das kleine Ding aufgepasst. Er war eine gute Gesellschaft und wird vermisst werden."
"Er hat zügellos getötet, sechs in den letzten paar Wochen. Das ist ungewöhnlich. Hast du ihn angespornt?"
"Ich? Nein, warum würde jemand wie ich die zufälligen Tode von Fischern wollen? Der pelzige Teufel war verhungert, nachdem er so lange von eurer Welt weg war. Ich weiß nicht einmal, was er in dieser Umgebung hier zu suchen hatte."
"Ich glaube dir nicht, Tengu-san."
Der Tengu zuckte mit den Schultern, während er sich weiter näherte.
"Nennst du mich einen Lügner, Prister?"
"Ja. Deine Art liebt Unfug, was für gewöhnlich im Tod von Unschuldigen resultiert."
"Unschuldige! Ha!"
"Was haben euch diese Menschen angetan?"
Der Tengu blieb am Rand des Parks stehen und ließ ein paar Meter Asphalt zwischen ihnen. Er breitete seine Arme aus und schwang seinen Speer mit einer wischenden Geste, um auf das Dorf zu deuten.
"Sie leben, Priester! Sie verunreinigen alles, was sie anfassen. Es gibt für uns keinen Platz mehr, keine Geschichten über unsere Macht, kein Spiel, das in den Wäldern gefunden werden kann. Nur unendlich viele Menschen mit ihren Fernsehern und Autos, die das Land zerstören. Sie sind Kegare."
Kaito hielt seinen Shakujō in beiden Händen horizontal vor seinen Körper, als würde er eine Barriere machen.
"Das heißt nicht, dass sie sterben sollten."
"Oh, du armer, unschuldiger Prister. Glaubst du nicht mehr an das Rad? Sie werden wiedergeboren, oder nicht? Es ist nichts Schlimmes passiert."
"Müssen wir das machen? Wirst du das Reich nicht friedvoll verlassen? Ich will nicht noch mehr Gewalt?"
Der Tengu zuckte mit den Schultern. Die Soldaten der Frau töteten meinen Freund. Blut ist notwendig, um diese Beleidigung auszugleichen."
Kaito sah, wie sich Fumiko bückte, um ihr Gewehr aufzuheben. Er holte einen Ofuda aus seiner Gürteltasche und befestigte es mit einem gesprochenen Kotodama an den Shakujō. Sie drehte sich, blickte ihm in die Augen und nickte. Er wies sie mit einem Kopfnicken an, dass sie zurückfallen sollte, aber sie schüttelte ihren Kopf. Sie blickte zum Gewehr hinunter und keuchte.
Kaito drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie der Tengu mit einem unmenschlich hohen Sprung vom Himmel herabstürzte. Er trat zur Seite und hob seinen Shakujō, um den entgegenkommenden Speerstoß zu treffen. Beim Aufprall ertönte eine Glocke, und aus der Spitze des Shakujōs, die von einem Ofuda-Talisman umhüllt war, drang ein helles Licht hervor. Der Speerstoß wurde nach rechts in Richtung Fumiko abgelenkt.
Kaito wollte noch eine Warnung aussprechen, aber die Agentin war bereits am Ausweichen und der Stoß verfehlte ihr Gesicht nur knapp. Fumiko feuerte eine Salve aus ihrem Gewehr ab, aber der Tengu drehte seinen Speer und lenkte die Kugeln auf die Straße ab. Das schnabelartige Maul des Yokai schnalzte mehrmals, ein tadelndes "tsk tsk"-Geräusch.
Der Tengu drehte den Speer weiter und ließ das stumpfe Ende blitzschnell auf den Schädel der Agentin zufliegen. Kaito rief ein klingendes Kotodama, und der Speerschaft wurde in den Körperpanzer, den Fumiko trug, abgelenkt und traf sie zwischen Schulter und Kopf. Sie stöhnte vor Schmerz und schleuderte rückwärts gegen die Außenwand eines Funayas, wobei sie ihre Bodenhaftung nicht ganz verlor.
"Genug, Vogel!" brüllte Kaito den Tengu auf Japanisch an. "Es ist Zeit für dich zu gehen."
Er holte mit dem Shakujō zum Schlag gegen das Gesicht des Yokai aus, schlüpfte an seinem Schutz vorbei und traf ihn an der Seite des gelblichen Schnabels. Es gab einen weiteren Blitz und der vogelartige Yokai flog rückwärts auf den Asphalt. Er stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus. Kaito folgte mit einem Überkopfschlag auf den Speerarm des Tengu, der das Handgelenk mit einem ekelerregenden Knacken traf. Der Yokai schrie auf und ließ die Waffe fallen.
"Ich hoffe, du brennst in allen Höllen, Priester! Ich wollte nur die Welt wiedersehen, und bald gibt es kein Zuhause mehr. Du schickst mich in die Vergessenheit!"
Kaito stand über dem Tengu und hielt einen weiteren bannenden Ofuda-Talisman in der Hand. "Was meinst du? Schnell, bevor ich dich bewusstlos schlage!"
"Die Magie schwindet! Die Reiche verwelken! Bald wird es kein Zuhause mehr geben … wir müssen hierherkommen."
"Ihr seid nicht willkommen", sagte Kaito leise.
"Omoguchi-sama hatte recht mit euch."
"Wer?"
"Unser Schutzherr, du Affe. Er hat sich dafür eingesetzt, dass wir wieder hierherkommen, nachdem die meisten von uns so lange weg waren. Er warnte uns, dass ihr die Yokai niemals nach Japan zurückkehren lassen würdet."
"Wo ist dieser Mann?"
Der Tengu schlug mit seinem guten Arm nach ihm, aber Kaito wich aus und schlug erneut mit dem Shakujō zu. Das Licht war schwächer als zuvor, aber der Tengu schrie trotzdem vor Schmerz auf.
"Antworte mir!"
Als es sprach, war die Stimme des Tengu leise, ganz im Gegensatz zu seinem zuvor heftig jovialen Ton. "Glaubst du, ich würde den einzigen Mann verraten, der unsere Bedürfnisse versteht? Verrotte, Priester. Simmere im Dreck deiner Mitmenschen. Wende dich nicht an die Reiche, wenn deine Künste nicht mehr funktionieren!"
Kaito trat vor und legte den Banntalisman sanft auf die Brust des Tengu. Eine Glocke läutete in der leeren Straße, und der Yokai war verschwunden, nur noch Rauch hinterließ er an seiner Stelle. Er hat nicht geschrien.

Kaito entfernte den benutzten Talisman von seinem Shakujō und wunderte sich, warum der Ofuda weniger wirkungsvoll wirkte als in den vergangenen Jahren. Er lehnte sich auf den Shakujō, während er sich zu Fumiko drehte, die ihren Rücken zur Wand hatte und deren linke Hand die Stelle umschloss, wo sie der Speerschaft getroffen hat.
"Geht es Ihnen gut, Tanaka-san?", fragte er auf Englisch.
"Ich denke nicht, dass etwas gebrochen ist."
"Was wissen Sie über das Schwinden der Magie, von dem der Vogel gesprochen hat?"
Sie zögerte für einen Moment und schüttelte dann ihren Kopf. "Nichts. Wie Sie bereits sagten, mein Japanisch ist nicht das beste, ich habe nicht alles davon verstanden."
Kaiton starrte sie an, aber sie schaute nicht weg. Sie hielt seinem Blick ohne zu zögern stand.
"Sie wissen nichts über schwindende Magie? Jetzt gerade und am Tempel waren meine Talismane nicht so effektiv wie früher. Ein paar Schläge und sie sind nur Papier."
"Talismane? Ich dachte, der Stab …"
"Was? Nein, mein Shakujō ist bloß Stahl. Er ist eine Tradition für wandernde Mönche. Die Talismane, die ich um den Stab wickle, und die Kotodama verletzen die Yokai."
"Diese Worte, die Sie wie einen Zauberspruch aufsagen?"
"Sie sind kein Zauberspruch. Sie sind Geschenke von den Bodhisattvas und Arhats, die den Wissenden mit bestimmten Fähigkeiten ausstatten. Sie sind Werkzeuge, keine Zaubersprüche."
Fumiko schüttelte ihren Kopf. "Hört sich für mich wie ein Zauberspruch an."
Kaito stieß ein kurzes, spitzes Lachen aus.
"Also macht der Stab gar nichts? So wie Sie ihn herumschwingen, wirkt er sehr kraftvoll."
"Er tut weh, wenn ich jemanden damit schlage, wollen Sie eine Demonstration?"
Fumiko lachte unbehaglich. "Nachricht empfangen, ich höre damit auf."
Kaito seufzte. "Es gibt sehr wenige Legenden darüber, dass ein Shakujō Macht besitzt."
"Welche zum Beispiel?"
"Vor vielen Jahren habe ich von einem berühmten Mönch gelesen, der Enkōji in der Präfektur Kōchi besucht hat. Der Mönch hat seinen Shakujō bnutzt, um die Erde zu teilen und einen Ort freizulegen, wo ein Brunnen gegraben werden konnte, da das nächstgelegene Dorf an schrecklicher Trockenheit gelitten hat. Er ist immer noch dort und wird von den Bewohnern Augenwasch-Quelle genannt."
"Coole Geschichte. Nicht besonders hilfreich in dieser Situation." Sie lächelte ihn an.
Kaito lachte, wobei sein Kopf wegen dem Aufprall auf den Asphalt klingelte.
"Was ist mit dem Mann, den der Tengu erwähnt hat? Kennen Sie ihn?", fragte er.
"Ich dachte, ich habe einen Namen gehört, Omoguchi, richtig?"
"Ja, und der Yokai hat den Namenszusatz sama verwendet, also muss er eine wichtige Person sein."
"Ich werde es melden. Geht es Ihnen gut?"
Kaito spülte sich etwas Wasser aus seiner Flasche in den Mund, spülte das Blut aus und spuckte es in einen nahen Strauch. "Ich komme schon klar."
Fumiko drehte sich von ihm weg und legte einen Finger auf ihr Ohr, als sie begann, in das Radio zu sprechen. Kaito drehte sich um und schaute auf den bedeckten Körper des Yamachichi. Er versuchte, das Geräusch ihrer Diskussion mit ihren Vorgesetzten auszublenden, während er seinen Kopf freimachte und versuchte, die Verantwortlichkeit für diesen Tod zu akzeptieren. Er schaute ihn immer noch an, als sie ihm auf die Schulter tippte.
"Es gibt einen Mann in Kyoto namens Kenta Omoguchi."
"Warum denken Sie, dass das der Mann ist, von dem der Tengu geredet hat?"
"Es ist kein häufiger Nachname und dieser Omoguchi ist der CEO von Transtar Energies. Der Hauptsitz liegt in der Stadt."
Kaito rieb sich an seinem schmerzenden Kopf. "Na gut, dann lassen Sie uns mit Omoguchi-san sprechen."

Kyoto

Kaito saß auf dem Rücksitz eines bepanzerten SUV mit geschwärztem Glas und schaute zu, wie das Fahrzeug einen Hügel hinauffuhr und die Stadt Kyoto in Sichtweite gelangte. Er hielt den Shakujō mit beiden Händen fest. Ein Mann rief die Yokai und Oni in das materielle Reich und Kaito wusste nicht, was er mit dieser Information anfangen sollte. Was würde ihnen bevorstehen?
Fumiko saß auf dem vorderen Beifahrersitz und sprach leise in ihr Telefon, während der stille, uniformierte Fahrer das Fahrzeug bediente. Kaito tippte ihr auf die Schulter, als sie auflegte, und sie drehte sich zu ihm um.
"Was machen wir?", fragte er.
"Ein Einsatzteam hat das Gebäude gesichert und jeden außer Herrn Omoguchi evakuiert, unter dem Vorwand einer Sicherheitslücke im Zusammenhang mit dem Terroranschlag in Ine. Er wird von einigen Agenten zurückgehalten, damit wir mit ihm sprechen können."
"Ein bisschen plump, oder?"
"Ja, es ist nicht so unauffällig, wie ich es sonst mag, aber es war nicht meine Entscheidung. Die Situation muss so schnell wie möglich eingedämmt werden. Wenn jemand mit der steigenden Anzahl der Yokai etwas zu tun hat, müssen wir sie aufhalten."
"Also gab es mehr Vorfälle als gewöhnlich?", fragte er.
"Von dem, was wir sehen können, ja. Sie sind normalerweise ziemlich aktiv, von dem, was wir mitbekommen haben, aber wann war das letzte Mal, dass Sie mit drei Yokai zu tun hatten, die Menschen am selben Tag umbrachten?"
Er rieb seine geschlossenen Augen, sein Kopf tat immer noch vom Schlag in Ine weh. "Niemals. Sie sind für gewöhnlich allein, verteilt. Versteckt."
"Genau. Also wenn das hier eine sich verschlimmernde Situation ist, gibt es eine signifikante Gefahr für die Normalität."
Kaito spottete. "Normlität? Diese Dinger haben existiert, bevor Menschen in Japan gelebt haben … Was ist normal? Ihr Idioten versucht immer, eure eigenen begrenzten Sichtweisen dem aufzudrängen, woraus die natürliche Welt besteht. Das ist real."
Sie rutschte auf ihrem Stuhl, mied seine Augen und drehte sich wieder nach vorne. "Ich kenne Ihre Meinungen und ich kann mich in Sie hineinversetzen, aber der Punkt ist, dass diese Situation zu gefährlich für uns beide allein ist. Wie viele Tote gabe es nur bei diesen beiden Ereignissen? Acht? Das ist zu viel, Menschen werden misstrauisch. Stellen Sie sich die Panik vor!"
Er nickte abwesend, bevor er realisierte, dass sie ihn nicht mehr anschaute. "Okay, ich stimme Ihnen zu, die Panik wäre verheerend. Aber vielleicht ist es Zeit, die Menschen darüber zu informieren, in was für einer Welt sie leben."
Fumiko zuckte mit den Schultern. "Über meinem Gehalt, Euguchi-san."
Er schaute aus seinem Fenster, während die Stadt um sie herum wuchs, abwechselnd antike Tempel und moderne Geschäftsgebäude auf eine Weise, die für Kyoto einzigartig ist. Wie passend, hier einem Geschäftsmann in der alten Stadt gegenüberzustehen – wenn er mit den Oni kommuniziert, wo besser als hier? Die Vergangenheit und Gegenwart waren in die Knochen der alten Stadt verwoben.
"Der Tengu sagte etwas, bevor Sie ihn verbannt haben", sagte Fumiko.
"Er hat viele Dinge gesagt, Tanaka-san."
"Stimmt. Aber etwas, was ich bemerkt habe, war, dass er Menschen 'Kegare' nannte, und das ist kein Wort, das ich kenne."
"Seine wortwörtliche Bedeutung ist Verunreinigung oder Unsauberkeit, aber im Shinto hat er eine andere."
"Die da wäre?"
"Spirituelle Korruption. Stagnation. Zucht einer Krankheit, auf der Ebene der Seele. Es ist keine moralische Korruption und bezieht sich nicht auf die Sünde oder die Färbung des Geistes einer Person durch ihre Handlungen. Es ist eine natürliche Reaktion auf amoralische, unnatürliche Kräfte. Also könnte jemand Vergebung für die eigenen Missetaten suchen und immer noch Kegare haben; sie wären immer noch von der Handlung befleckt. Verstehen Sie?"
"Nicht im Kontext der gesamten Menschheit, wie es der Vogel andeutete."
"Kegare muss von den verantwortlichen Menschen behoben werden, durch Säuberungsrituale. Eine verbreitete Allegorie, die im Shinto verwendet wird, ist die, dass ein Pool stagnieren kann, eine Infektionsquelle oder ein Zuchtort für Pesterreger. Aber fließendes Wasser ist klar, es ist rein. Der Tengu hat die Menschheit einen stagnierten Pool genannt."
Fumiko saß einen Moment lang still und er konnte ihren Gemütszustand nicht einschätzen, da sie ihr Gesicht abgewandt hat. Plötzlich sprach sie wieder.
"Wie sieht die Säuberung einer gesamten Gesellschaft aus?"
"Für einen Tengu wäre wahrscheinlich ein Tsunami angemessen", sagte Kaito.
Die Agentin keuchte kurz. Sie drehte sich um und schaute ihm in seine Augen. "Könnte ein Yokai zu so etwas in der Lage sein?"
"Wortwörtlich? Das bezweifle ich sehr, die Meere sind mächtiger als irgendein Yokai. Aber metaphorisch? Einen reinen Tisch machen? Möglich. Es gibt viele Reiche neben diesem und sie sind mit vielen Yokai gefüllt."
Fumiko war wieder still, Augen nach unten gerichtet, und dann sagte sie: "Genozid?"
Diesmal zuckte Kaito mit den Schultern. "Sowohl der Oni auf Berg Ibuki und der Tengu behaupteten, dass die Reiche schwinden würden, weil Magie zusammenbrechen würde. Ich weiß nicht, was sie meinten, aber wenn alle Yokai und Oni kein Zuhause mehr hätten und ein neues bräuchten, gibt es nach jetzigem Stand der Dinge nicht viel Platz in Japan."
Fumiko erschauderte.
"Ich stimme Ihnen zu, es ist kein angenehmer Gedanke", sagte er. Und du behauptest, nichts über dieses Schwinden der Magie zu wissen, Kerkermeister, dachte er.
Der Fahrer sprach zum ersten Mal. "Wir nähern uns der Adresse."
"Irgendetwas vom Einsatzteam?", fragte Fumiko.
"Negativ. Sie meldeten, dass das Gebäude evakuiert sei und dass sie die POI bergen würden, aber es wurden keine weiteren Neuigkeiten übertragen."
"Was?! Das ist nicht gut."
"Was heißt das, Fumiko?", fragte Kaito.
Sie drehte sich wieder zu ihm um, ihre Augen ein wenig geweitet bei seiner Verwendung ihres Vornamen. "Ärger."
Ein paar Minuten später standen sie vor dem zehnstöckigen Geschäftsgebäude, dessen gläserne Türen eine makellose, menschenleere Lobby zeigten. Es gab keine Anzeichen von Foundation-Aktivitäten.
"Das ist korrekt, wir haben nichts gehört, seit sie das Gebäude gesichert haben", sprach Fumiko in ihr Mobiltelefon. "Nein, ich denke, wir benötigen hier ein ganzes taktisches Team. Mobilisieren Sie ein Einsatzteam und befördern Sie es zu unserer Position. Danke, Direktor."
Als sie auflegte, schaute Kaito sie an. Sie stellte Augenkontakt her und sah entschuldigend aus. "Wir müssen auf Verstärkung warten."
"Nein. Ich werde mit diesem Mann sprechen und zwar jetzt." Er lief auf die Glastüren zu, aber sie blockierte seinen Weg mit ausgestreckten Armen, die eine Barriere bildeten.
"Wir müssen warten; Wir wissen nicht, was da drinnen los ist."
"Ich werde dieses Gebäude nicht hinter einer Truppe deiner professionellen Soldaten betreten, Fumiko. Ich werde jetzt reingehen." Er schob sie zur Seite, sanft aber bestimmt, und begann, die Treppe zu den Glastüren hochzulaufen.
"Gottverdammt."
Fumiko drehte sich zum Fahrer, der immer noch saß. "Bleiben Sie hier und informieren Sie das Team, wenn es ankommt, ich schalte meinen Transponder ein, also sollten sie sehen können, wo genau ich bin."
"Das sind nicht unsere Befehle!", rief er ihrem Rücken zu, als sie Kaito in das Gebäude folgte.

Kaito sah sich in der leeren Lobby um. Ein unberührter sauberer Boden und eine verlassene Sicherheitsstation lagen vor ihm. Er näherte sich der Sicherheitsstation und schaute auf den Computerbildschirm, bei dem sich schon eingeloggt wurde.
"Habt ihr das gesamte Gebäude evakuiert?", fragte er über seine Schulter, als Fumiko die Lobby betrat.
"Ja, oder das wurde mir zumindest gesagt."
"Diese Station wurde schon vor langer Zeit verlassen und niemand läuft draußen herum."
Sie zuckte mit den Schultern, während sie sich zu ihm gesellte. "Das war vor fünfundzwanzig Minuten, also nehme ich an, dass jeder, der noch übrig war, nach Hause gegangen ist. Es ist nach Neun, ich denke, es sind nicht mehr viele hier."
Er drehte sich um und schaute sich ein weiteres Mal in der Lobby um, dann schaute er ihr in die Augen. "Wo ist dein Team?"
"Ihre Transponder sind alle in der Vorstandsetage. Ganz oben."
Kaito nahm einen Sicherheitsausweis, der auf der Theke der Sicherheitsstation lag. Er lief zu den Fahrstühlen und hielt die Türen für sie offen.
"Backup kommt in fünfzehn Minuten", sagte sie, während sie ihm in den offenen Fahrstuhl folgte.
"Wir werden nicht auf sie warten", sagte er, während er den Sicherheitsausweis auf den Sensor presste und den Knopf für die oberste Etage drückte.
"Was ist dein Plan, Kaito?"
"Mit dem Mann reden, seine Verbindung zu den Oni herausfinden, dein Team finden."
"Du lässt es sehr einfach wirken."
Er lächelte traurig. "Alles ist einfach, wenn du es auf die richtige Weise anschaust."
Sie schüttelte ihren Kopf und überprüfte ihr Gewehr. "Nicht nach meiner Erfahrung."
"Lass deine Angst los, das ist die Illusion. Alles muss irgendwann enden."
"Also, ich würde es bevorzugen, wenn wir heute Nacht nicht enden."
Er nickte, während die Fahrstuhltüren sich auf dem obersten Geschoss öffneten. Fumiko ging vor und sicherte den Raum mit ihrem gehobenen Gewehr. Kaito folgte ihr, blieb jedoch stehen, um hoch zu schauen.
Die Decke war über fünfzehn Meter über ihnen und ein großes Torii stand im Zentrum des Raums. Der Flur dahinter führte zu vielen anderen Räumen, aber um die Vorstandsetage zu betreten, musste man unter dem Torii hindurchgehen.
Er ging zum rötlich orangenen Torbogen und legte seine Hand darauf, während er immer noch hochschaute.
"Was stimmt nicht?", fragte Fumiko.
"Das ist ein richtiges Torii, nicht bloß eine Dekoration. Es ist sehr alt und gut erhalten, aber es ist seltsam, eins hier zu sehen."
"Hm, stimmt. Man sieht sie nicht oft drinnen."
"Ich kann mir nicht vorstellen, aus welchem Grund eins in so ein Gebäude gestellt wird. Im Shinto haben sie draußen eine Funktion. Das Weltliche vom Heiligen zu trennen. Ich denke nicht viel über den Begriff der Ketzerei nach … aber ich denke, dies könnte nahe dran sein."
"Der Buddha hätte Führungskräfte nicht als heilig angesehen?"
"Unwahrscheinlich."
Er ging tiefer in den großen Raum hinein und realisierte, dass es noch eine Lobby war. Ein Empfangstresen stand wenige Meter vom Torii entfernt und bewachte den Weg zu den inneren Büros von den CFOs und CEOs. Dort war auch niemand.
Das Klirren der Ringe seines Shakujōs hallten durch die leere Halle, während er weiter hineinlief. Es gab keine Spur vom Kerkermeisterteam.
"Wo sind deine Leute?"
"Ein paar Dutzend Meter in diesem Korridor."
Sie gingen weiter, bis sie große Doppeltüren mit einem Namensschild erreichten, auf dem Omoguchi Kenta CEO in formellen japanischen Buchstaben stand. Er drückte gegen eine der Türen und keuchte.
Fumiko rannte zu ihm und schrie. "Verdammt!"
Vor ihnen war das fünfköpfige Team aufgereiht, fast bis zur Unkenntlichkeit ausgeweidet und verprügelt. Mehreren wurde der Kopf abgetrennt. Der Geruch von Blut und Exkrementen war deutlich im Chefbüro zu riechen.
Kaitos Sicht verschwamm, während er seinen Blick über die Leichen schweifen ließ, bis eine Bewegung am Ende des Raums seinen Blick auf sich zog.
Ein japanischer Mann mittleren Alters in einem teuren Anzug trat aus einem privaten Badezimmer, während er seine Hände mit einem Handtuch abwischte. Kaito bemerkte, dass das weiße Handtuch rot befleckt war.
"Was ist das hier?", fragte Kaito auf Japanisch.
"Sie kommen in mein Gebäude, ohne Erlaubnis, und haben die Frechheit, mich so etwas zu fragen?", sagte der Mann auf Englisch. "Firmenspione, ohne Zweifel. Oder Terroristen."
Er ging zu seinem Schreibtisch und warf das blutige Handtuch in einen kleinen Mülleimer, dann stellte er sich vor seinen Schreibtisch und lehnte sich leicht dagegen.
"Sie sind Kenta Omoguchi?", fragte Fumiko. "Obwohl, vergessen Sie's! Was haben Sie diesen Menschen angetan?"
"Sie kamen herein und haben mit ihren Waffen herumgefuchtelt … Ich hatte Angst um mein Leben." Der Mann lächelte.
"Also haben Sie sie mit Ihren bloßen Händen umgebracht?", fragte Kaito.
"Ja, sie haben mir nicht den angemessenen Respekt gezeigt, Priester."
Fumiko richtete ihre Waffe auf Omoguchi.
"Sie Mistkerl!"
Kaito berührte sie an der Schulter und flüsterte: ""Nein, wir müssen wissen, was hier passiert ist."
"Ich bin ein König. Ich bin vagabundierenden Priestern oder paramilitärischen Agenten von geheimen Organisationen keine Rechenschaft schuldig."
Kaito begann zu fragen, was der Mann meinte, aber wurde vom Geräusch des Anzugs abgelenkt, der an den Nähten riss. Sein Fleisch wuchs, durchbrach den Stoff und dann seine blasse Haut, und enthüllte einen gehörnten, zweieinhalb Meter großen Oni-Krieger. Die abgelegte Haut fiel unordentlich auf den gekachelten Boden und verteilte Blut in einem Pool um ihn herum.
Der Oni hatte hellblaue Haut, drei Hörner, die aus seiner Stirn wuchsen, und einen Mund voller Stoßzähne. Seine Augen leuchteten rot im wenig beleuchteten Büro. Er trug einen Mantel aus öligen grünen Schuppen, wie eine Rüstung über seinem rauen Fleisch.
Kaito schaute sich um und sah, wie das Licht aus dem Raum floh und ein Nebel aus dem Boden aufstieg, der die toten Agenten verdeckte. Die Luft wurde auch kälter. Der Oni griff nach links und holte eine große Naginata aus der flimmernden Luft.
"Für wen hälst du dich, dass du in mein Reich einbrichst und Antworten verlangst, Wanderer?"
Kaito griff seinen Shakujō und befestigte einen Ofuda an der Spitze des Stabs. "Was ist dein Name, Dämon?"
"Shuten-dōji."
Kaitos Mund öffnete sich weit und er war einen Moment lang sprachlos.
"Was?", fragte Fumiko.
"Dein Priester hat von mir gehört!", schrie der Oni und füllte dann den Raum mit schallendem Gelächter. "Was kann ich sagen? Ich habe schon immer Sake gemocht."
Fumiko war kurz davor, eine weitere Frage zu stellen, wurde jedoch zurückgeworfen, als die Klinge der Naginata in den Boden vor ihr gerammt wurde. Eine Schockwelle entstand durch den Aufprall, aber Kaitos Shakujō wehrte die Kraft ab, wobei eine Glocke klingelte, während der Ofuda seine Wirkung entfaltete.
"Keine weiteren Fragen", schrie der Oni, während er sich in seine Richtung stürzte.
Als die Klinge der Naginata nach Kaito ausholte, sprach er einen Kotodama und sprang nach rechts. Die Klinge prallte an der Kraft seines Wortes ab und wurde wieder auf den Boden geleitet, was Kacheln zerstörte und Splitter Kaitos Körper bombardieren ließ. Er spürte brennende Schnitte auf seinen Wangen und Armen und wusste, dass dort Blut sein würde.
Er schlug seinen Shakujō nach unten und traf den Oberarm des Oni mit einem dumpfen Aufprall. Der Oni knurrte und griff nach ihm. Die große Hand schloss sich um Kaitos ausgestreckte Handfläche und ein greller Lichtblitz eruptierte aus der geschlossenen Faust des Oni. Blaues Blut spritzte auf Kaitos Brust, während Shuten-dōji keuchte und seine verstümmelte Hand wegzog. Drei Finger waren von der Explosion zerquetscht worden, und in die große blaue Handfläche war ein Schnitt gerissen.
Kaito warf das zerstörte Ofuda herunter, das mit Oni-Blut befleckt war. Der Dämon ließ den Kriegsspeer fallen und drückte seine Hand an seine Brust.
"Du verdammte Maus! Du wagst es, mich zu schlagen?!?"
Kaito rannte auf ihn zu und rammte seinen Shakujō in die zerbrochene Kachel vor dem Giganten. Das Stabende sank elegant in den Boden und der Ofuda am oberen Ende schien hell und löste eine Kakophonie der läutenden Glocken aus. Der Ofuda stieß ein weißes Licht aus und der Oni griff mit seiner heilen Hand an sein Auge, während er einen Fluch auf Japanisch ausstieß.
Kaito lehnte sich vor und platzierte zwei Ofudas auf dem schimmernden Schuppenpanzer. Weißes Licht wurde ausgestoßen und bildete eine Reihe von Ketten, die sich um den Oni wickelten und ihn an den Boden fesselten. Der Oni gurgelte, als sich eine der Ketten um seinen dicken Hals wickelte.
Kaito hob seinen Stab vom Boden, was den benutzten Ofuda von seiner Spitze bröckeln ließ. Er wendete sich zu Fumiko, die sich bemühte, von der Stelle aufzustehen, wo die Explosion sie gegen die Wand gedrückt hatte. Die Trockenbauwand über ihr hatte Risse, wo sie sie getroffen hat.
Er kniete sich neben ihr nieder. "Bist du verletzt?"
Fumiko stöhnte und griff nach ihm. Er zog sie auf die Füße. "Es klingelt in meinem Kopf, aber ich denke nicht, dass etwas gebrochen ist."
Er schaute über ihre Schulter hinweg auf den Krater, den sie in der Trockenbauwand hinterlassen hatte. Sie folgte seinem Blick und keuchte, dann fuhr sie mit ihren Händen über ihren Körper. "Mein Gott, blute ich?"
"Das scheint nicht der Fall zu sein."
"Der Yamachichi?"
Er nickte und drehte sich zum zappelnden Oni um. Die Ketten schienen heller, während er versuchte zu entkommen, und wickelten sich fester um ihn.
Kaito stand vor dem König der Oni. "Was machst du hier? Ich habe gehört, dass du tot seist."
"Menschen und ihre Geschichten, bah!"
"Wer ist er?", fragte Fumiko.
"Selbsternannter König der Oni, der einst für viele Tode in dieser Umgebung verantwortlich war. Die Legende besagt, dass sein Kopf von einem berühmten Samurai abgetrennt worden ist."
"Und so war es, Priester. Aber ich überlebte! Meine Magie ist stark."
"Warum die Maskerade? Warum sich als Mensch ausgeben?"
"Macht. Geht es nicht immer um Macht? Ich brauchte Ressourcen und Einfluss, um meine Yokai zurück zu dieser Welt zu führen."
"Erzähle mir von den schwindenden Reichen, warum sucht ihr hier Schutz?"
Frage deine Kollegin."
Kaito schaute zu Fumiko, die ihren Kopf schüttelte.
"Sie weiß es, das tun sie alle. Sie haben seit Monaten versucht, uns zusammenzutreiben, sie wissen, warum wir hier sind. Magie schwindet, Priester. Was hättest du an unserer Stelle getan?"
"Sagt er die Wahrheit? Habt ihr Yokai gejagt?", fragte Kaito Fumiko.
"Natürlich, das ist unser Job! Wir dämmen das Anomale ein."
"Aber das wirft die Frage auf, Priester, warum sie dich brauchten."
Kaito starrte Fumiko an.
"Das habe ich dir schon gesagt! Wir konnten nicht das finden, was die Menschen in Ine getötet hat, wir brauchten jemanden mit mehr Erfahrung."
Der Oni fing wieder an zu lachen und das Geräusch hallte an den Wänden wieder.
"Sie brauchten nicht dich. Sie brauchten das da." Der Oni schaute direkt auf Kaitos Shakujō.
"Was?"
Fumiko schaute vom Oni zu ihm und hob dann ihre Waffe, um sie auf den Dämon zu richten. Kaito griff das Gewehr und hob den Lauf nach oben zur Decke.
"Nein! Sag mir, was er meint!"
Fumiko zog das Gewehr von ihm weg und wandte sich ab. "Ich weiß nicht, wovon er spricht."
"Hör auf zu lügen, Fumiko", sagte Kaito sanft.
Sie drehte sich schnell zu ihm, Wut zeichnete deutlich ihr Gesicht. "Ich –"
Plötzlich berührte sie ihr Ohr und sprach so leise, dass er sie nicht verstehen konnte.
"Alles klar. Danke, Sir", sagte sie zu demjenigen, der m anderen Ende der Leitung war.
"Worum geht es?", drängte Kaito.
"Wir wollten deine Hilfe, das ist wahr."
"Aber?"
"Wir wollen auch den Stab."
"Warum? Er ist ein Andenken an meine Familie, er ist bloß ein Shakujō. Du könntest einen ziemlich einfach kaufen."
"Nicht so einen." Sie massierte ihre Schläfen, entweder vor Schmerz oder Frustration oder beidem. Sie seufzte.
"Er ist ein Relikt. Eine Anomalie. Wir sind auf einige Dokumente im Archiv gestoßen, die darauf hindeuteten, er wäre Magie, mächtige Magie."
"Was für ein Unsinn ist das?"
"Du musst es wissen, er ist weit mehr als ein Stab. Er ist ein Schlüssel."
"Für was?"
"Für die Reiche. Für Dimensionen. Für endlose thaumaturgische Energie. Er ist ein Blitzableiter für das Göttliche, er ist austretende Akiva-Strahlung, wie wir sie noch nie gesehen haben."
"Was bedeutet das alles?"
"Das ist der Grund, warum du Yokai so leicht bannst, nicht deine Zauber. Nicht deine Zaubersprüche … Kotodama. Es ist der Stab."
"Nein."
"Hast du jemals einen Oni-Jäger getroffen, der so effektiv wie du warst? Dachtest du, du wärst einfach stärker als alle anderen? Du kannst einen Geist mit Leichtigkeit verbannen, für dessen Bezwingung es ein Geschwader von Soldaten und Thaumaturgen braucht. Schau, was du mit ihm gemacht hast!"
Der Oni lachte wieder, aber nicht ganz so laut. "Es ist wahr, Priester. Du bist nichts Besonderes. Es ist der Stab, der die harte Arbeit für dich erledigt."
"Hör nicht auf diesen Mörder! Hör auf mich!", rief Fumiko.
Kaito starrte auf den Stab, der lose in seiner Hand lag.
"Er hat Recht. Magie ist am Versagen. Das Anomale fällt zusammen. Dinge, die wir jahrhundertelang kannten, hören einfach auf zu existieren … und einige davon verursachen eine ganze Menge Chaos dabei", sagte sie, während sie ihm an die Schultern fasste. "Aber was versagt nicht, Kaito? Du. Dieser Stab. Du hast Dämonen jahrzehntelang bekämpft und immer gewonnen. Der Stab ist der Grund."
"Nein", flüsterte er. Seine Arme begannen zu zittern.
"Ja! Aber das schmälert nicht das, was du getan hast … Du hast deinem Volk gut gedient."
"Und nun?", fragte er, wischte dabei ihre Hände von seinen Schultern und drehte sich sowohl von der Frau als auch vom Oni weg.
"Wir können etwas gegen diese Entropie unternehmen und dieser Stab könnte der Dreh- und Angelpunkt sein. Komm mit uns, hilf uns."
Der Oni fing wieder an, laut zu lachen. "Er arbeitet nicht für Kerkermeister, kleine Agentin. Schau ihn dir nur an! Du erwartest von ihm, dass er sich jetzt ändert? Er bricht unter dieser neuen Welt zusammen, die er entdeckt hat!"
"Halt deinen Mund!"
Der Oni knurrte und der Raum wurde noch dunkler. Kaito schaute sich verzweifelt um. Die Wände des Büros waren verschwunden und mit rötlichem Nebel und sterbenden Bäumen ersetzt worden.
"Schau dich um, Priester! Die Reiche sterben und wir werden unseren Platz in der Welt einnehmen."
Kaito drehte sich gerade rechtzeitig zum Oni um, um die leuchtenden Ketten dimmen und dann mit einem Knacken wie eine Gewehrschuss zerreißen zu sehen. Die Geist-Ketten fielen zu Boden, flackerten und verschwanden.
Shuten-dōji schlug Fumiko mit seiner Rückhand in den Nebel und schrie ihn an. "Ich werde dein Spielzeug nehmen, dein Fleisch essen und meine Leute werden diese Inseln wie eine Flut bedecken! Wir würden uns mehr um sie kümmern als jeder Mensch. Sobald sie alle tot sind!"
Der Oni brüllte und der Nebel umhüllte sie beide. Kaito schaute dorthin zurück, wo die Lobby der oberen Etage gewesen wäre, wo das Torii mattrot leuchtete. Der Oni hat sie in sein Reich gezogen. Das Torii war eine Grenze, nicht zum Heiligen, sondern zum Außerweltlichen.
Aus dem Nebel schoss die Klinge der Naginata auf Kaitos Brust zu. Er trat zurück und schwang den Shakujō in einem engen Bogen, womit er die Klinge abwehrte. Eine Glocke läutete schwach in der Ferne.
Er sprang auf, als die Klinge nach seinen Füßen schwang, und stach in der Luft in den dicken Schaft des Speers, so dass dieser entzwei brach. Noch eine Glocke läutete, dieses Mal lauter und näher.
Shuten-dōji brüllte. "Stirb doch endlich!"
Kaito stürzte sich in den Nebel und rezitierte währenddessen leise ein Gedicht auf Japanisch:
Die fließenden Flussgewässer
bringen alle Dinge zum Meer
Ich muss auch gehen.
Der Nebel teilte sich und der Oni knurrte über seine großen blutigen Stoßzähne hinweg. Er griff nach ihm mit seinen Händen, eine ganz und eine schrecklich verstümmelt.
Kaito drehte sich im Laufen, schlüpfte zwischen die beiden monströsen Hände und schlug mit dem Shakujō auf den nassen Boden des Oni-Reiches. Eine Glocke läutete um sie herum und ein weißes Licht umhüllte den Oni, während blau-weiße Flammen über den Boden und seine Beine hinauf fegten. Der Oni bäumte sich auf, schreiend und gegen die Flammen kämpfend. Kaito schwang seinen Stab und schlug dem Shuten-dōji ins Gesicht.
Blau-schwarzes Ichor spritzte auf Kaitos Körper und Gesicht und machte ihn blind. Der Oni-König schrie vor Schmerzen und schlug verzweifelt um sich, wobei er Kaitos Brust traf und ihn auf den kalten Boden warf.
Als er seine Augen ein wenig öffnen konnte, sah er, wie Licht zurückkehrte, die Wände des Büros wieder zusammenschmolzen und der halb eingefallene Kopf vom Shuten-dōji ihn anstarrte. Zitternde Atemzüge kamen von der Kehle des besiegten Oni-Königs, während er versuchte zu sprechen. Plötzlich fixierte sich der Oni mit seinem guten Auge auf sein Gesicht und stöhnte: "Ich werde nicht … schwinden."
Die Brust vom Shuten-dōji wurde von starkem Husten geschüttelt, was mehr vom blauen Ichor von seinen Lippen fließen ließ. Er schaffte es, einen schwachen, feuchten Seufzer auszustoßen, und wurde dann still. Die Brust des Biests hörte auf, sich zu heben, und das Licht verschwand aus seinem Auge, während es heller im Raum wurde. Kaito schaute weg.
Kaito legte den Shakujō quer über seine Brust und legte sich auf den Rücken. Ein scharfer Schmerz stach bei jedem Atemzug in seine Seite und er schmeckte Blut. Er bemühte sich, seinen Hals zu strecken, um den Stab anschauen zu können.
Nun, sieh mich an. Hättest du mir nicht früher von deiner Macht erzählen können? Ich hätte diese Hilfe gebrauchen können.
Jemand lief zu ihm; er erkannte kaum Fumiko in seiner Fugue.
Die Welt wurde schwarz, als er seine Augen schloss.
<ENDE DES PROTOKOLLS> | |
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