SCP-6500-3

Tod und die Autoren

Standort-87

Sloth's Pit, Wisconsin, Vereinigte Staaten von Amerika


"Ich hasse Geschichten."

Es war nicht so ganz die Wahrheit, aber sie wusste, dass es härter treffen würde.

Der Mann am Podium erbleichte. Sie hätte ihm genauso gut sagen können, dass sie Griechen hassen würde. Er schaute zur Titelfolie über und hinter ihm, als würde er dort Hilfe finden; darauf stand 'Angewandte apokalyptische Pataphysiken oder Geschichten am Ende von allem erzählen'. Er nickte sich selbst zu, anscheinend überzeugt, und bekräftigte: "Niemand hasst Geschichten."

Ein ganzes Auditorium drehte sich in den Sitzen um und sah Delfina Ibanez' kleine Gestalt den großen Türrahmen mit bloßer Kraft der Persönlichkeit dominieren. "Na gut", gab sie zu. "Ich hasse Fiktion."

"Das ist … besser." Seinem Ton nach war die Verbesserung minimal. "Nun, wollen Sie die Frage beantworten?"

Sie schlenderte den Gang hinunter, während sie am Quietschen ihrer Lederstiefel und an der Elastizität ihres Jumpsuits aus Viskose offensichtliches Gefallen fand. "Hab' sie schon vergessen."

"Ich habe gefragt, was Ihre Lieblingsgeschichte ist. Ich wollte jemanden fragen, der nicht zu spät aufgetaucht ist, aber Sie haben so einen dramatischen Auftritt hingelegt …"

Sie ließ sich auf einen Stuhl neben der einzigen Person im Raum fallen, die sie kannte. Dr. Udo Okorie sah aus wie der aufgewärmte Tod; Ibanez schenkte ihr ein sympathisches Lächeln, bevor sie antwortete.

"Ich bin zu spät, weil ich Fiktion hasse. Was bedeutet, dass ich Pataphysik verabscheue. Was bedeutet, dass Sie jemand anderen fragen sollten."

"Sie wollen das Sagen haben? Machen Sie Ihre eigene Präsentation." Er hielt sich an der Kanzel fest und lehnte sich nach vorne; sie konnte hören, wie seine Sneaker auf der Bühne quietschten. "Was ist Ihre Lieblingsgeschichte, Chief Ibanez?"

Sie gab vor, einen Moment lang zu überlegen, und antwortete dann:

"Die Helden der Nation."


Asterisk.png

"Ich hasse Magie."

Ibanez hob ihre Augenbrauen. "Wie kannst du Magie hassen?"

Okorie blieb sitzen, während sich das Auditorium um sie herum leerte. Ihre Augen wirkten gequält. "Du würdest anfangen, die Luft zu hassen, wenn du dich plötzlich auf dem Mond befändest."

"Was ist mit Ihrer Freundin los?"

Ibanez schaute zum zerzausten Adonis auf dem Gang hoch. "Ich mache Ihre dumme Vorlesung dafür verantwortlich."

"Sie sind dumm", grinste er. "Meine Vorlesung war großartig."

"Ich bin eine Thaumaturgin", sagte Okorie. Sie nahm ihre Brille ab und kniff sich an ihrer Nasenbrücke. "Von Geburt an."

"Ich bestehe zu neunzig Prozent aus Wasser", sagte Ibanez. "Sie bestehen zu neunzig Prozent aus heißer Luft. Sie besteht zu neunzig Prozent aus Magie."

Okorie lächelte leicht. "Nicht weit von der Wahrheit entfernt. Seitdem die Sackgasse begonnen hat, bin ich jeden Tag aufgewacht und habe mich gefühlt, als hätte ich einen Liter Blut verloren."

"Sie könnten zu Dr. Sinclairs Labor gehen", schlug der Mann vor. "Unsere Magierin. Dort könnte es etwas für niedrigen EVE geben."

Okorie nickte lustlos. Ibanez zuckte mit den Schultern. "Danke, Dr. Wasauchimmer."

"Placeholder", korrigierte er sie. "Placeholder McDoctorate."

Sie hob wieder ihre Augenbrauen.

"Wollen Sie wissen, wie das passiert ist?"

"Nein". Ibanez hakte sich bei ihrer Freundin ein und half ihr hoch.


Asterisk.png

Okorie fand eine Packung Spritzen im leeren Büro von Dr. Sinclair, was ihr Unwohlsein kurzzeitig linderte. Ibanez ließ sie im Schlafsaal, damit sie sich ausschlafen konnte; Placeholder ließ sich schwerer abwimmeln.

"Wissen Sie, wie selten es ist, dass die O5s zwei Doppel-Null-Eins-Vorschläge freigeben?", fragte er ihren Hinterkopf. Seine Beine waren lang, aber sie lief, als hätte sie ein Ziel. "Swann sagt, eine Horde Horrorautoren im extradimensionalen Raum mische sich in unseren Alltag ein, und Pickman und andere sagen, das Konzept des Narrativs selbst sei intelligent. Sie würden mich nicht ohne Grund darüber eine Vorlesung halten lassen und jeden in Panik versetzen."

"Ich habe nicht gesagt, es gäbe keinen Grund", rief sie über ihre Schulter. "Ich sagte, der Grund ist dumm."

"Realität ist nicht dumm!" Er joggte vor sie und begann, den Flur rückwärts auf seinen Zehenspitzen entlang zu tanzen. "Unsere Existenz wird von einem Netzwerk anomaler Systeme definiert. Wir leben in einem anomalen Ökosystem, Chief Ibanez. Etwas tötet die genetische Diversität, aber es passiert nicht gleichmäßig auf dem Spielfeld. Während sich eine Schicht esoterischer Seltsamheit zurückzieht, breiten sich die anderen aus, um die Lücke zu füllen." Er zog ein komisches, kompliziert aussehendes Stück Technik aus seiner Labortasche und hielt es ihr vor die Nase. "Dieses Ding misst narrative Fluktuationen und die Nadel bewegt sich noch. Es ist kaum noch Magie in Sloth's Pit übrig, aber die Macht der Fiktion ist nach wie vor stark."

Sie grinste. "Sie erwarten von uns, dass wir Geschichten durch echte Magie ersetzen."

"Geschichten sind echte Magie!" Placeholder fuchtelte mit den Armen und warf die Baseball-Kappe vom Kopf eines vorbeigehenden Agenten herunter. Er machte eine Pirouette, um sich zu entschuldigen, und ging dabei im Gleichschritt mit Ibanez.

Sie schüttelte ihren Kopf. "Na gut! Es ist alles das gleiche." Sie haben die Barracken erreicht, in die sie sich für die Nacht verduftete. Sie lehnte sich gegen die Tür und löste einen Schlüsselbund von ihrem Gürtel. "Geschichten können meinetwegen Magie sein, weil mein Beruf darin besteht, Magie auszuschalten." Sie entriegelte die Tür. "Ich beende Geschichten, Doktor."

Sie schlüpfte rein und warf ihm die Tür ins Gesicht.


Moon.png
Ferry.png


Ibanez wachte zum Geräusch von Wasser auf Holz auf. Es plätscherte am Rande ihrer Wahrnehmung, ein rhythmisches flüssiges Klatschen, beruhigend leise. Sie bemerkte eine unangenehme Nässe auf der Rückseite ihres Overalls und ihr erster klarer Gedanke war ich habe vorher noch nie ins Bett gepisst.

Ihr zweiter klarer Gedanke war ich habe noch nie zuvor im Gras geschlafen, und das reichte aus, um sie aufstehen zu lassen.

Die Luft war eiskalt und sie konnte ihren Atem einen kurzen Moment lang sehen, bevor er sich mit dem erdrückenden Nebel vermischte, der ein Flussufer in alle Richtungen umhüllte. Das Wasser war dunkler als das, was sie sah, wenn sie ihre Augen schloss, und es klatschte gegen ein tief liegendes Ruderboot, das in einer Brise umherschaukelte, die sie nicht fühlen konnte.

Ruder lagen in den Dollen und ein schwerer Reisemantel war achtlos über das Heck geworfen worden. Ein abgenutzter Fedora lag darauf, gefährlich nahe am Rand …

… und bewegte sich, um zu sehen, wie sie sich ihm näherte. Der Mantel hob sich einmal, nur einmal, wie ein angehaltener Atem.

"Hi", sagte sie.

Der Hut senkte sich und verdeckte, was darunter lag. Ein Ärmel schwang sich aus dem Wasser, tropfte schwarze Rinnsale und zeigte schwach den Fluss hinunter. Er hielt diese Pose nur einen Augenblick, dann schlug er wieder gegen das gebleichte Holz.

"Warum nicht", sagte sie. Das war eindeutig ein Traum.

Sie watete durch das Wasser, während sie dabei die Kälte an ihren Waden durch ihre Kampfstiefel hindurch fühlte, und bestieg das kleine Boot. Der Stoffhaufen schien sich zu entleeren, als hätte ihm das Erreichen seines Ziels die letzte Kraft geraubt.

"Dann werde ich wohl rudern", seufzte sie.

Ferry.png


Der Hut des Fährmanns wippte rhythmisch mit dem Eintauchen der Ruder, während er ihr dabei zusah, wie sie sie über die Flussmündung zog. Nach einer Ewigkeit des Planschens in spiegelglattem Wasser und des ungewissen Fortschrittes durch eine undurchsichtige weiße Wolke fühlte sie …

… sie wusste nicht, was sie fühlte, aber es war hinter ihr. Der Hut des Fährmanns rutschte zurück und sie spürte, dass er ihr wieder zuwinken würde, wenn er es könnte. Sie schaute über ihre Schulter und sah die Stadt …

… sie stand in der Stadt. Der Fluss, das Boot, der Fährmann, alle waren verschwunden. Steinmauern türmten sich um sie herum auf und unter ihren Füßen waren harte Pflastersteine. Die Straße führte einen steilen Hang hinauf und ein düsteres, antikes Dorf dominierte den Horizont.

Ich war mir nicht sicher, ob du mich hören würdest.

Ibanez verkniff sich eine Antwort; die Stimme war dünn, schwach und bemitleidenswert. Sie fing an zu laufen und ihr Schatten brach sich im schwachen Licht. Eine Myriade von schemenhaften Figuren liefen im Gleichschritt mit ihr.

Ich bringe dir Hoffnung in der letzten Stunde.

"Wer bist du?" Sie hielt an. "Und gib mir nicht irgendwelchen kryptischen Traum-Schwachsinn."

Unsere Zeit ist fast vorbei.

… sie bestieg die breiten Kreidestufen einer Kirche, die von schattenartigen Figuren umgeben war, welche nacheinander verschwanden, sobald sie an ihnen vorbei ging. Die Treppe endete an einer glatten Steinplattform, auf der eine schneeweiße Robe in einer weiteren Phantombrise flatterte.

Komm zu mir und beginne.

Die Brise verwandelte sich in einen Sturm und sie fiel auf ihre Knie. Während sie beide Hände über ihre Ohren hielt und wütend schrie, flog die Robe weg und enthüllte—

Asterisk.png

Standort-87

Sloth's Pit, Wisconsin, Vereinigte Staaten von Amerika


"Es war eine Vision", gähnte Okorie. Sie fummelte am kalten Hühnersandwich auf ihrem Teller herum.

"Es war ein Geschichtensamen", jauchzte Placeholder. Er verschlang die Hälfte seines Sandwiches mit einem Biss.

"Es war ein Traum", grummelte Ibanez. "Nicht verdauter Käse."

"Dickens'scher Mythos", winkte Placeholder ab, wobei er ein klebriges Stück Geflügel auf den Stiefel eines vorbeigehenden Agenten schleuderte. "Käse verursacht keine schlechten Träume. Protagonistische Veranlagung ist jedoch ein todsicherer Weg—"

"Visionen zu bekommen", beendete Okorie den Satz. Sie sah nur ein wenig besser als die Nacht davor aus. "Wissen Sie, was sonst noch Visionen gewährt? SCP-5923."

Ibanez blinzelte. "Was ist das?"

"Eine einsame Stadt in der Türkei. Sie hat früher Leuten Träume gesendet und sie angefleht, zu ihr "nach Hause" zu kommen, bis wir in den Neunzigern Touristen dorthin geschickt haben. Haben seitdem keinen Pieps mehr von ihr gehört." Die Magierin verschränkte ihre Finger. "Gab es einen Fluss? Ein Boot? Einen Bootsmann?"

Ibanez nickte.

"Nebel? Eine Kirche? Eine weiß gekleidete Figur?"

Ibanez nickte zögerlich. "Mehr oder weniger."

Okorie lehnte sich zurück. "5923. Es möchte etwas von dir."

"Wahrscheinlich sterben", sagte Placeholder. "Wie alle anomalen Objekte. Vielleicht denkt es, Sie könnten ihm helfen."

"Vielleicht denkt es, es könnte uns helfen", grübelte Ibanez.

"Was?", fragten die beiden anderen im Einklang.

"Es sagte mir …" Sie zuckte zusammen. "Es sagte mir, ich könnte das Gleichgewicht wiederherstellen und es zeigte mir ein Schwert. Es sagte mir, das Schwert sei der Schlüssel." Sie fühlte sich lächerlich.

Die Doktoren tauschten einen bedeutungsvollen Blick aus. "Alles klar", sagte Placeholder. "Lassen Sie uns nach den Regeln spielen; O5 sagt, alles, was wir unternehmen, um 6500 zu bekämpfen, muss ritualistisch sein, etwas, um die Macht des Anomalen zu stärken." Er zeigte auf Ibanez. "Sagen Sie, dass Sie nicht in die Türkei wollen."

"Ich möchte nicht in die Türkei." Sie meinte es auch so.

"Gut. Sie haben den Ruf abgelehnt, also können wir fortfahren." Er zeigte auf Okorie. "Regeln für die Visionssuche?"

Okorie zuckte mit den Schultern. "Es ist keine Visionssuche, wenn die Vision zuerst kommt. Es ist einfach nur eine reine Suche."

Turkey.png

Das Dorf Kayaköy

Republik Türkei



"Also", merkte Ibanez an. "Hier ist es schrecklich."

Sie standen in der Momentaufnahme eines belebten Dorfes, jede Straße voller stocksteifer Menschen mit glasigen Augen. Eine schwache Brise pfiff durch das verwinkelte, ansteigende Stadtbild, und ein Mann mittleren Alters mit einer Gürteltasche stürzte in einen Aprikosenstand. Dessen Inhalt rollte den Hügel hinunter.

"Haltet sie auf", befahl sie. Ihre zehnköpfige Mobile Task Force schwärmte aus und brachte die rollenden Objekte behutsam zum Stehen. Okorie kniete sich bereits hin; sie fummelte an Sinclairs Packung herum und bereitete ihre dritte Injektion an diesem Tag vor.

"Was ist mit ihnen passiert?" Placeholder beförderte den versehentlichen Obstbefreier auf seinen Rücken.

"Es ist dieser Ort", gähnte Okorie. Sie gähnte jeden zweiten Satz. "Lebt von der Vitalität seiner Bewohner."

"Also ein Vampirdorf." Ibanez griff an ihren Holster.

"Nein." Okorie atmete tief ein. "Er saugt kein Leben aus, er … spiegelt es. Er sorgt sich um die Menschen, die ihn besuchen. Wenn er sich jetzt von ihnen ernährt, muss es einen Grund dafür geben."

"Sicher", sagte Placeholder. "Er verhungert und sie sind die einzige Mahlzeit in seiner Reichweite."

"Ich bin mir da nicht so s—", sagte Okorie. Sie wurde von einem tiefen Grollen unterbrochen, das die Steine so sehr schüttelte, dass sie sich aus dem Boden lösten. Ibanez hatte Mühe, sich auf den Füßen zu halten, und Placeholder fiel auf den Aprikosenstand, als sich die Straße sich über ihnen wellte. Sie zerbrach mit einem Absturz von Steinen und pulverisierter Paste, die Gebäude fielen alle und sie purzelten über eine komplett schwarze Fläche …

Die Landschaft veränderte sich. Sie standen, hockten und saßen nun im Becken eines trockenen Springbrunnens. Die Kirche aus Ibanez' Träumen türmte sich vor ihnen auf. Die MTF war verschwunden.

Beeil dich. Jedes Wort war ein atemloser, dringender Appell. Finde mich. Beeil dich.

"Es spricht zu mir." Ibanez stieg aus dem Springbrunnen heraus. "Es befiehlt mir, das Schwert zu finden."

"Da", krächzte Okorie, während sie auf einen Steinportikus am Ende der Kirche zeigte. "Die Bibliothek. Hier ist nicht viel Magie übrig geblieben, aber ich kann …" Sie schüttelte ihren Kopf. "Es ist in der Bibliothek."

"Wie passend." Placeholder reichte ihr die Hand, während Ibanez sich über Funk bei ihrer Gruppe meldete.

Turkey.png


Die Bibliothek war schlicht. Kayaköy war nur ein Dorf und eigentlich viel eher eine –

"Touristenfalle", sagte Ibanez. "Dafür möchte ich Anerkennung haben."

Es gab nur einen Besucher, der über einen Tisch gebeugt und dessen Kopf wortwörtlich in einem Buch versunken war. Die Bibliothekarin hinter dem Informationsschalter schaute unaufmerksam auf ihren Computerbildschirm. Die dritte Person im Raum zog deswegen ihre vollständige Aufmerksamkeit auf sich.

Nimm es, flehte die Figur in einer weißen Robe mit Kapuze. Sie stand im Zentrum des abgenutzten Mosaikbodens, ihre Alabasterhände hielten ein verdächtig schimmerndes Schwert.

Ibanez öffnete ihren Holster. "Machen Sie nichts Dummes."

Das Ende des Unbekannten ist das Ende aller Geschichten. Die Stimme war kaum ein Kitzeln in ihrem Innenohr, während sie sich wachsam näherte. Das Ende aller Geschichten ist das Ende aller Veränderungen.

Die Robe fiel plötzlich ab und enthüllte eine glänzend weiße Marmorstatue von … der gleichen Figur mit Robe. Ibanez hatte Mühe, die letzten Worte zu verstehen:

Das Ende aller Veränderungen ist das Ende von allem.

Ibanez zog einen Stuhl von der Seite des schlummernden Gelehrten und ließ ihn gegen den Sockel der Statue fallen. Placeholder kniete sich hin, um die heruntergefallene Robe aufzuheben.

"Seien Sie vorsichtig", krächzte Okorie. Sie lehnte am Informationsschalter.

Ibanez stieg auf den Stuhl und griff mit ihren Händen zwischen die Hände der Statue und dem Schwert. Das kühle Metall ließ sich leicht heben und sie umschloss den Zylinder aus kaltem Holz mit ihren Händen. Sie hielt ihren Atem …

… und zog die Waffe heraus.

Sie atmete wieder aus und untersuchte das Ding genauer. Es war ein Kurzschwert, weniger als drei Fuß lang, mit einer kreisförmigen Parierstange und einem polierten Eichenknauf. Auf der Kante der Parierstange war etwas geschrieben, aber sie konnte es nicht lesen. Die unbekannte Schrift schmerzte ihre Augen.

"Was nun?" Sie stieg hinunter, wobei sie wegen der schweren Waffe in ihrer Hand fast das Gleichgewicht verlor. "Steck ich das irgendwo rein, oder was?"

Placeholder sah nachdenklich aus. "Ein Drache wäre offensichtlich."

Okories Kopf war zur Seite geneigt. "Hört ihr auch Stimmen?", rief Ibanez herüber.

Als Antwort kollabierte die Thaumaturgin auf den Boden. Sie lehnte ihren Rücken schwer atmend an das getäfelte Holz. Ihre Gefährten eilten herbei, und Ibanez richtete das Schwert vorsichtig hinter sich, während sie rannte.

Okorie schmunzelte, während sie sich über sie beugten. "Hier gibt es einen Weg."

"Ein Weg wohin?" Placeholder durchwühlte Sinclairs Tasche auf der Suche nach noch einer EVE-Spritze und stopfte dabei die Robe rein.

"Ein Weg", wiederholte Okorie. "Ein Portal. Ich kann es fühlen." Sie blinzelte schnell. "Aber jeder Weg hat ein Klopfen und ich weiß dieses hier nicht." Sie schaute auf das Schwert. "Irgendwelche weiteren Nachrichten vom Jenseits?"

Ibanez schüttelte ihren Kopf. "Ich denke, wir sind jetzt allein." Sie zeigte Okorie die Parierstange. "Hat das irgendeine Bedeutung für dich?"

Die Magierin kniff die Augen zusammen und schaute dann schnell weg. "Ich kann das nicht lesen. Aber ich weiß, wer es könnte." Sie legte ihren Hinterkopf auf den Schreibtisch. "Die Serpent's Hand."

Placeholder runzelte seine Stirn, während er ihr mit der Injektion half. "Stimmt, unsere besten Freunde. Gut gedacht."

"Die Hand möchte genau so wenig wie wir, dass die Magie stirbt", erinnerte ihn Okorie. "Die Umstände haben sich geändert."

"Wo genau ist dieser Weg?", unterbrach sie Ibanez.

Okorie griff über ihre Schulter und klopfte mit den Fingerknöcheln auf das Holz. "Genau —"

Es kam ein leises klick aus dem Inneren des Schreibtisches. Okories Kinnlade fiel herunter.

"Du hast mir nicht gesagt, dass das Klopfen wortwörtlich gemeint war." Ibanez nahm das Schwert und stand auf.

"Ist es nicht." Okorie wand sich auf dem Boden; Placeholder griff ihr unter die Schultern und beförderte sie auf ihre Füße. Dieses Mal ließ sie ihn nicht los. "Muss ein Symptom des allgemeinen Zusammenbruches sein."

"Oder das war Ihre Rolle im Narrativ", schlug der Pataphysiker vor. Okorie schmunzelte wieder, widersprach aber nicht.

Ibanez umrundete den Schreibtisch und rollte den schlafenden Bibliothekar aus dem Weg. Dahinter war …

"Verdammter Mistkerl."

Es gab eine Schranktür auf Kniehöhe im Schreibtisch. Sie war geöffnet. Als sie sah, was dahinter lag, ließ sie schon fast wieder das Schwert fallen.



Sie krochen durch die Tür im Schreibtisch und der kühle Steinboden von Kayaköy wechselte zu einer weichen, warmen Wiese aus pfeifendem, blauen Gras. Darunter war Holz, nicht verfault, aber fest und … poliert? Ibanez begriff es nicht so ganz, bis sie aufstand und gar nichts mehr begriff.

Sie stand auf einer Buschwaldlichtung, welche gleichzeitig ein verziertes Athenäum war. Die größte Bibliothek, die sie je gesehen hat, eine Baumreihe mit randvollen Regalen, die bis zur mit Wolken bedeckten Decke reichten. Eine warme Brise brachte den Geruch von altem Papier und das Geräusch von entfernten Kämpfen zu ihr, während sie sich zu ihren Gefährten wandte.

Okorie war noch auf dem Gras. Sie blickte entschuldigend hoch. "Ich denke nicht …"

Ibanez übergab Placeholder das Schwert und bückte sich, um ihre Freundin zu tragen. "Hoffe, der Großteil deines Gewichts war Magie."

Sie gingen in den Wald von Regalen, die sich in alle Richtungen erstreckten. Sie wanderten durch eine Reihe kolossaler Bogengänge und hielten an jeder Kreuzung an, um nach übernatürlichem Verkehr Ausschau zu halten. Im Laufe von fünfzehn Minuten trafen sie auf: ein lebendiges Skelett, das seine Fingerknochen in einen zwei Meter großen Klumpen presste, der vollständig aus Augen bestand, und wieder und wieder "PRAXIS!" rief; eine stämmige, vieräugige, grüne Kreatur, die eine Armee von Kakerlaken aus Pappmaché mit einem großen Wälzer aus Leder zerquetschte; eine Art riesige Schlangen-Dinosaurier-Kreatur, von der sie zu schnell davonliefen, um zu sehen, was sie vorhatte; und nicht weniger als drei verschiedene wildfremde Männer in Umhängen, die versuchten, sich aus dem Griff von körperlosen Armen zu befreien, welche von der Decke herunterhingen, um sie zu erwürgen.

Okorie zog ihre Arme hinter sich her und streichelte leicht die Buchrücken aller Bücher in Reichweite. Sie atmete tief, ihre Augen waren tränenüberströmt.

"Was ist das?", fragte Placeholder, und Ibanez änderte ihre Haltung, um die Magierin einhändig zu tragen. Ihre andere Hand flog zu ihrer Hüfte mit geübter Leichtigkeit, es gab einen Luftzug und ein einziger Schuss hallte durch die hölzerne Schlucht. Das Geschoss traf ein geschwollenes Nervenbündel mitten im Sprung, und beide lösten sich in einem spektakulären Schwall aus Blut und Metall auf.

"Ja", sagte Ibanez, während sie ihre Dienstwaffe senkte. "Was war das?"

"Haben Sie überhaupt gezielt?!" Placeholder kniete sich hin, um die Überbleibsel des Spinnendings zu untersuchen, und legte dabei das Schwert auf den Boden unter ihnen. "Sie sind beängstigend."

"Und laut", stöhnte Okorie. "Lass mich runter, bevor du wieder so etwas machst."

Ibanez stellte sie sanft wieder auf den Boden. Die Magierin erschauderte. "Ich fühle mich … Ich weiß nicht, ob es besser ist, aber —"

Ibanez drehte sich um, fand mit ihrer linken Hand den Knauf des Schwertes und hob es in einer fließenden Bewegung hoch. Ein weiteres Fleischknäuel fiel von der Decke und sie schlug es mit der flachen Seite der Klinge weg. "Achtung!", rief sie und gab einen zweiten Schuss ab. Diesmal krachte die Kreatur in eines der Regale und hinterließ eine blutige Spur entlang einer Reihe von Lexikons.

"Oh", sagte Placeholder. "Scheiße."

Er starrte den Gang runter auf eine Armee blutroter Spinnen, die sich zusammenknoteten, um ihnen den Weg zu versperren. Bevor Ibanez jedoch wieder auf die Füße gelangen konnte, wurde der Fleischvorhang gewaltsam zur Seite geworfen und auf die Regale verteilt. Ein riesiger Tausendfüßler mit einem roten Rücken, größer als ein Konvoi aus hintereinander stehenden Bussen, bäumte sich auf und schleuderte die bibbernden Dinger hoch in die Luft. Er saugte sie in einen knirschenden Spalt in der Mitte seines gigantischen runden Kopfes und riss dann die Nachzügler mit einem unheimlichen Quietschen vom Boden auf. Als der letzte rote Happen in seinem Schlund verschwand, glühte sein tiefbrauner Bauch scharlachrot und das Geräusch von kochendem Fleisch erfüllte die Luft.

Er stieß eine dünne Flammenfahne über seine eigenen runden Schultern aus und stürzte dann zurück, um sich über die drei zu erheben.

Ibanez schaute zu Placeholder, der sich neben Okories liegende Gestalt kauerte.

"Meinen Sie, das zählt als ein Drache?"


"Kerkermeister!", schrie der gigantische Horror. "In meiner Bibliothek! Ihr dürft nicht—"

Seine spindeldürren Beine spreizten sich plötzlich und sein segmentierter Rumpf krachte auf die überwachsenen Dielenbretter hinunter. "Oh", schnaufte es. "Mist."

Ibanez stand auf und hob das Schwert zwischen sich und dem Tausendfüßler. "Ich bin nicht hier, um irgendetwas einzusperren." Ihre Stimme klang überraschend ruhig, fand sie, dafür, dass sie mit einem Saprophagen mit der Größe eines Busses redete. "Ich bin hier für eine einzige Information und glaube mir, du willst wirklich, dass ich sie bekomme."

"Ich bin kein Dozent, du hohlköpfiger Depp." Es krabbelte zurück auf seine Füße (?) und lehnte sich dabei zur Unterstützung gegen die Regale. "Ich sollte dich in Fetzen reißen, weil du so etwas angedeutet hast." Es hielt inne. "Fetzen? Oder sind es Stücke? Auf jeden Fall traue ich deinesgleichen nicht. Ich stehe Diebe und Buchverbrenner nicht aus!"

"Würdest du lieber Spinnen ausstehen?" Ibanez trat das nächste gemulchte Ungetüm; der Tausendfüßler schlug es mit dem Schnipsen eines stacheligen Vorderbeins aus der Luft. "Bist du ein Spinnenbekämpfer?"

Die Kreatur bäumte sich wieder auf und für einen Augenblick dachte Ibanez, sie würde gleich den Spinnen in ihrem Magen Gesellschaft leisten. Dann füllte ein überraschend sanftes, schnatterndes Geräusch die Luft und sie kam zu der fieberhaften Erkenntnis, dass der Tausendfüßler lachte. "Spinnenbekämpfer! Du bist nicht so schlimm", zischte sie. "Ich bin der Achte Archivar. Meine Freunde nennen mich die Rounderpede." Seine Schlitzaugenlieder zogen sich zusammen. "Ihr dürft mich den Achten Archivaren nennen."

"Wunderbar." Ibanez senkte das Schwert. "Willst du mir erzählen, warum die Bibliothek brennt, metaphorisch gesehen?"

"Von wegen Metapher." Der Archivar huschte zur Seite, um den Blick auf den größten Innenraum freizugeben, den Okorie je gesehen hatte: Reihe über Reihe von Schreibtischen, Regalen, Tischen und Stühlen, Liegestühle und Sofas, Laternen, Feuerschalen, Zeitschriftenständern und Podien. Er wuchs und schrumpfte wie ein lebendes, atmendes Wesen, und als sie unter den Regalen hervortrat, sah sie auf einmal, warum.

In den überhängenden Galerien mit den Ausmaßen eines Wolkenkratzers wimmelte es von einem endlosen Netz fleischiger roter Spinnen, die ihre bebenden Nervenapparate zu einem Netz aus Blut und Knorpeln verwoben.

"Die Große Halle", staunte Okorie.

Funken gingen von Spinne zu Spinne über und erinnerten Ibanez an …

Leck mich.

"Ich werde mich anders ausdrücken. Willst du mir erzählen, warum sich da ein … Spinnengehirn in deiner Lobby bildet?"

Die Rounderpede schnaufte, und blähte sich auf und zog sich wieder zusammen wie ein Blasebalg. "Die alte Magie ist dabei zu sterben. Die Wege sind offen und wir können sie nicht schließen. Dinge kommen durch; Dinge, die wir nicht wollen. Dinge, die gewartet haben."

"Welche Art von Dingen?" Placeholder ist zu Ibanez in das Atrium getreten.

"Ehemalige Besucher, die für Diebstahl, die Zerstörung von Bibliothekseigentum, den Verzehr von Bibliothekseigentum, den Verzehr anderer Besucher aus der Bibliothek verbannt worden sind." Der gigantische, kugelförmige Kopf schwenkte hoch, als eine neue Schar von blutigen Spinnen weit oben auftauchte. "Und unheimliche Monstrositäten, natürlich. Dinge, die nur für den Übergang von draußen nach drinnen existieren. Das ist eine von ihnen." Seine leuchtenden grünen Kugelaugen verengten sich. "Die Große Halle breitet sich aus, um sich ihrem Inhalt anzupassen. Das ist normalerweise sehr nützlich. Jetzt gerade nicht so sehr."

Okorie stand wackelig auf. "Bist du vertraut mit diesem Monster?"

"Es ist der Schwachkopf von Ueberroth", spuckte die Rounderpede. Die Spucke war eine Masse von sich windendem Schwarz; es zischte auf den grünen Brettern neben ihnen mit einem Geruch von verrostetem Metall. "Ein Gräuel für das Wissen. Ueberroth, der Leere, Ueberroth, das Sinnlose Netz, Ueberroth, der Schlund der Spurlosen Nächte."

"Das ist ein Jungenname", sagte Ibanez.

Der Archivar knirschte seine grausigen Zahnreihen zusammen. "Was?"

"Ueberroth." Ibanez starrte gebannt auf die sich multiplizierenden Fleischneuronen. "Sport-Typ aus den Achtzigern. Mein Vater hat früher oft Baseball geschaut."

Die Spitze der Halle war nun hinter einer falschen Decke von kräuselndem Rot versteckt, außer sich vor blinder, schwachsinniger Heiterkeit.

"Peter Ueberroth", sagte sie. Die Spinnen haben in den Regalen gefruchtet; eine Schar von Dozenten hat sie eifrig mit Besen abgebürstet. "Ich bin mir zu fast neunzig Prozent sicher."

"Ja", sagte Placeholder. "Ich denke nicht, dass er das ist."

Ibanez ging in die Hocke und zog ihre Stiefel fest an. "Bist du ein Kletterer, Kumpel?"

Die Windungen der Rounderpede spannten sich an. "Immer nach oben."

Sie begab sich auf eine Startposition. "Und wie stark ist dein Chitin?"

Der Archivar zitterte vor Vorfreude. "Stark genug für das, was du vorhast."

"Was hast du vor—", sagte Okorie in dem Moment, als Ibanez vom Boden auf den riesigen Rücken des Tausendfüßlers hochsprang. Er huschte auf die nächste Tragsäule und sie sprangen in den kavernösen Raum unter dem erstarrenden Gehirn.

Ibanez hielt sich mit einer Hand an einem gewölbten Rückgrat fest und wirbelte ihr Schwert mit der anderen. Es strahlte ein mattes weißes Licht aus. "Ich würde mich an eurer Stelle verstecken", rief sie zu ihren Begleitern hinunter, während die Rounderpede zur offenen Wand aus organischem Filigran kletterte.


Ibanez kletterte auf dem ansteigenden Rumpf des riesigen Gliederfüßlers hoch, hüpfte von Abschnitt zu Abschnitt, während er über goldene Zwischengeschosse kroch, und schwang sich von Wirbelsäule zu Wirbelsäule, während er endlose Marmorstützen erklomm. Der Himmel regnete Spinnen und Bücher, die er mit seinen Zähnen in Stücke riss oder verschlang, und die er mit seiner schlangenartigen Zunge aus der Luft zupfte und mit erstaunlicher Zärtlichkeit an seinen Bauch drückte. Einmal schnappte er sich ein Grimoire aus dem freien Fall und verschlang es ganz.

"Isst du Bibliothekseigentum?", rief Ibanez über das Blut in ihren Ohren hinweg.

"Ich habe separate Trakte für … Abhandlungen", schnaufte die Rounderpede. "Einige meiner Flüssigkeiten eignen sich ausgezeichnet für die Konservierung."

Ihre Erwiderung wurde durch ein plötzliches Reißen an ihren Haaren unterbrochen; sie zog eine zappelnde Spinne heraus und schlug sie gegen die Flanke des Archivars. "Okay", brüllte sie. "Operation "Scheiß auf Spinnen" ist ein VOLLER Erfolg." Sie schlängelten sich durch eine Galerie mit Balustraden und ein weiteres hirnloses, bösartiges Ding stürzte sich auf sie. Sie schlug kräftig zu, und die Spinne glitt an der flachen Seite der Klinge entlang. Zwei Schlitze öffneten sich in ihrer eiternden Brust, und sie schleuderte sie mit voller Wucht in eine verzierte goldene Stütze. Sie explodierte.

Die kolossale Visage der Rounderpede drehte sich um, um sie anzustarren. "Schwerter sind keine Knüppel!"

"Baseball für's Gehirn." Sie passte ihre Haltung an, als sie sich durch die Regale schlängelten.

"Ich weiß nicht einmal, was das ist."

Sie spaltete die nächsten drei springenden Schrecken sauber in zwei Hälften, wobei der scharlachrote Sprühnebel in der Haut des Archivars verschwand, und zog sich dann auf ihren Kopf, als sie zwischen den Regalen hindurchsausten. Sie kniete nieder, um zwischen den leuchtenden kristallinen Augen das Gleichgewicht zu halten, streckte das Schwert hinter sich aus und begann zu summen, während von allen Seiten bebende Gestalten auf sie zuhüpften.

LibraryFightSmall.jpg

Die nächsten Minuten waren ein rotes Chaos, als Ibanez ihre Angreifer zerhackte, aufschlitzte und sonst wie ausweidete. Sie explodierten zurück in die Große Halle in einem Nebel aus Eingeweiden der Chelizeren und sie tanzte auf dem Rücken des Archivars wie ein betrunkener Errol Flynn. Sie drehte einen glücklosen Fleischklumpen auf der Spitze ihres Schwertes; er versuchte, auf der Klinge hinunterzulaufen und sie schnitt alle acht Beine ab, bevor sie ihn wegschleuderte. Es traf die Fliesen neben den bodenständigen Doktoren wie ein Stück von einem feuchten Hamburger. Sie holte weit aus und erwischte fünf der Kreaturen auf einmal. Sie beförderte sie in die Speiseröhre der Rounderpede und lachte dabei wie verrückt.

Ein Dutzend Stockwerke weiter oben erreichten sie endlich den Raum, wo die Decke einmal gewesen ist. Der Archivar stieß sich von der Wand ab und überquerte kopfüber die Gewölberippen; Ibanez kletterte auf seinen Bauch und hielt das Schwert hoch, um den Arachnoidenhimmel zu zerreißen und in einem schimmernden Kaminrot zu baden. Sie lachte so sehr, dass sie fast ihre Balance verlor; ein merkwürdiges, chthonisches Kichern, welches von der Rounderpede gekommen sein könnte, hallte durch den grässlichen Abgrund.

Ein Stück des Gemäuers brach durch das organische Gewebe und traf den Rücken des Archivars. Mit einem lauten HARRUMPH stieß er eine gewaltige Flamme aus, nur Zentimeter von Ibanez entfernt. Sie wich zurück und schwang das Schwert, eine vollkommen sinnlose, instinktive Geste …

… und eine Kraftwelle breitete sich von der Schwertspitze aus, fing das Feuer und nahm es auf. Das Schwert strahlte nun mit einem blendend weißen Licht und Ibanez schwenkte es in einem großen Bogen. Ein Feuersturm wütete durch die Halle und das Dach geäderter Arachnoiden ging als eine sich windende, sterbende Entität in Flammen auf.

Die Rounderpede beendete ihre Reise zur anderen Wand, stieß ihre Vorderteile in die leere Luft und wippte nach vorne und hinten, um die fallenden, brennenden Spinnen zu fangen. Ibanez krabbelte wieder auf ihren Kopf, um die verbliebenen Kreaturen zu zerstückeln, während sie hinunterfielen, gackernd und brüllend und den Kontrapost posierend.

Placeholder und Okorie zogen sich zu den Regalen zurück, als ein Wasserfall von gekochter grauer Masse und kochendem Weinrot den Boden bedeckte. Die Rounderpede glitt das letzte Stockwerk zum Blutbad auf dem Boden hinunter und Ibanez rutschte wie ein Affe an einer Liane an einem ihrer Beine hinunter. Sie landete mit ihren schweren Stiefeln auf einer der letzten noch lebenden Spinnen, die in scheinbarer Furcht auf dem Hauptschalter kauerte. Es platzte wie ein roter Erdbeer-Donut.

Die Doktoren starrten sie an. Sie war von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt. Ihr zinnrotes Gesicht verzog sich zu einem schillernd weißen Lächeln und sie brüllte "ICH LIEBE GESCHICHTEN!", bevor sie sich vor so heftigem Lachen krümmte, dass es offensichtlich wehtat.

Funken tanzten und verpufften auf dem glatten Chitin der Rounderpede, und sie schnappte sich mit ihrer schwarzen, gewundenen Zunge ein paar weitere aus der dampfenden Luft. Sie pfiff leise und tief und hielt immer noch Dutzende von unbezahlbaren Manuskripten und Monografien mit der Zärtlichkeit eines liebevollen Elternteils in der Hand.


Der Archivar wich vor der Klinge zurück. "Ich würde diese Sprache nicht sprechen, wenn ich es könnte, was nicht der Fall ist", grummelte er. "Niemand hier kann dir helfen; du musst hinunter zur Quelle gehen."

Ibanez nickte. "Das ergibt Sinn. Was ist die Quelle?"

Er sagte es ihr.

"Oh", sagte Placeholder. "Lassen Sie uns nicht dorthin gehen."

"Wir müssen es." Okorie durchforstete das nächste Regal und schien dabei Kraft aus dem Inhalt zu ziehen. "Dort endet diese Geschichte." Sie bemerkte, wie er sie anstarrte, und errötete. "Mission, Geschichte, derselbe Unterschied."

Ibanez knirschte mit ihren Zähnen. "Wenn wir das übersetzen und alles, was es sagt, ist 'Friede auf Erden', werde ich etwas zerstören. Vielleicht alles."

"Vielleicht macht das Schwert genau das", grübelte Placeholder. "Treibt Sie so in den Wahnsinn, dass Sie die ultimative Kriegerin werden."

Sie ignorierte ihn und wandte sich stattdessen an den Archivar. "Ich nehme an, es gibt einen Weg, den wir nutzen können?"

"Kein Weg. Eine Wunde", zischelte er. "Eine infizierte Narbe, das einzige Souvenir von einer vor langer Zeit zerbrochenen, törichten Allianz. Sie liegt hinter dem Siebenfachen Portal, welches sich hinter euch schließen wird, wenn ihr durchgeht. Die Library ist mit allen Orten des Wissens verbunden, aber …" Er zögerte. "Diese Verbindung wurde nicht freiwillig aufgebaut und wir würden sie trennen, wenn wir es könnten."

"Das wollte ich schon immer mal fragen", sagte Placeholder. "Die Library ist mit allen möglichen Realitäten verbunden, oder? Sie ist eine multiverselle Konstante. Wie fällt sie zusammen, nur weil die Magie unserer Realität stirbt?"

Der riesige Kopf legte sich auf eine Seite, als würde die Rounderpede nachdenken. "Die Ursache muss auch eine multiverselle Konstante sein, oder nahe genug. Ich persönlich mache euch dafür verantwortlich."

Placeholder zuckte zusammen. "Also schätze ich, dass es außer Frage steht, uns ernsthafte Hilfe zu schicken."

"Ja." Der Tausendfüßler kratzte an den Dielenbrettern. "Das könnte bald die letzte Bastion der Magie in der gesamten Schöpfung sein. Ich werde sie nicht für euren Irrweg riskieren."

Ibanez blickte finster. "Wir versuchen hier, die Welt zu retten. Du kannst uns wenigstens ein bisschen helfen."

"Ich habe euch mehr geholfen als ich es an jedem anderen Tag getan hätte." Der Archivar stemmte sich gegen die Decke, als wolle er ihnen ihre winzige Verhandlungsmacht vor Augen führen.

Ibanez ließ die zinnoberrot gefärbte Kayaköy-Robe fallen und betrachtete ihr immer noch streifiges Spiegelbild in der hellen Klinge. "Na schön", sagte sie. "Zeig uns, wo das Portal ist."

Die Rounderpede schüttelte ihren Kopf und warf dabei einige restliche scharlachrote Spinnen ab. "Ich muss euch nur verfluchen, damit ihr es selbst finden könnt." Sie holte tief Luft und sie starrten auf das bernsteinfarbene Leuchten im Zentrum ihrer gerippten Kehle, während sie sang:

Zu unfreundlichen Hallen ich nun euch geleit'
Wo ihr werdet finden, zu eurem Leid,
In schwarzen Grimoires auf Regalen aus Ebenholz
Die stygischen Graben in euch selbst.

"Es tut mir leid", fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

Okorie und Placeholder liefen sofort weg. Ibanez wehrte sich wie eine Schwimmerin im Strom gegen die plötzliche Kraft, die sie dazu zwang, ihnen zu folgen. Sie fragte: "Was ist, wenn das alles ist, was noch da ist?"

Die Augenlider des Archivars verengten sich kaum merklich.

"Selbst wenn du richtig liegst, wenn wir versagen, wird es keinen Zentimeter vom Anomalen außerhalb dieses Ortes mehr geben." Ibanez zeigte mit großer Anstrengungskraft auf die Große Halle, inmitten einer ausufernden Expansion, als sich die überlebenden Wanderer am Schauplatz des Blutbads versammelten. "Was ist, wenn alles außer der Library stirbt?"

"Dann wird die Library genügen", sagte die Rounderpede barsch. Sie schwenkte herum, um im Gedränge zu verschwinden, während Ibanez endlich dem Drang nachgab, zu gehen.


Sie gingen durch gut begangene Korridore, gepflegte Gärten und geräumige Gemeinschaftsräume in einer luziden Trance, während sich die Besucher um sie scharten wie Wellen am Ufer. Sie drangen immer tiefer in das Herz der Library ein, gedankenlos, und schritten sicher und präzise und völlig unbewusst an altersschwachen Galerien, dekretierten Archiven und verlassenen Arbeitszimmern vorbei. Als sie schlussendlich die tiefschwarze Tresortür erreichten, waren sie allein. Okorie drückte eine Hand an das Eisen und der Umriss einer größeren Hand aus Goldbrokat tauchte auf.

Die Tür öffnete sich. Die Luft änderte sich. Die Tür öffnete sich. Ihre Herzen rasten. Die Tür öffnete sich. Die Tür öffnete sich. Alle Momente in der Zeit wurden zu einem. Die Tür öffnete sich. Die Zeit stand still.

Die Tür öffnete sich und sie gingen hindurch. Fast wie ein nachträglicher Einfall öffnete sich die Tür, um sie einzulassen.

"Ich hasse Magie", sagte Ibanez. Okorie klopfte ihr auf die Schulter.

Der Raum dahinter war ein verkleinertes Abbild der Großen Halle, geschwärzt und von Alter, Feuer und Fäulnis gezeichnet. Ein Strahl aus purem dunklen Licht schien von einer Öffnung in der Decke auf den zertrümmerten Kachelboden. Eine dickflüssige, schwarze Flüssigkeit rann in dünnen Strömen von den Regalen hinunter und floss in die zentrale Leere; sie sah wie Tinte aus. Blätter aus Papier regneten von oben herab und verschwanden im scheinbar bodenlosen Loch.

"Die Sache bei bodenlosen Löchern", sagte Placeholder, "ist die, dass sie es nicht sind. Niemals."

Ibanez lief vorsichtig zur Kante. "Das ist eine Metapher, oder? Der Absturz in den Wahnsinn?"

Ihre Begleiter traten zu ihr. "Es ist eine Metapher für Fortschritt", sagte Placeholder. "Für einen Übergang. Für den Erwerb von vertieftem Wissen."

"Es ist ein Loch", sagte Okorie. Sie trat vor sie, lächelte breit und trat dann in das Nichts zurück.

Sie beobachteten sie beim Fallen, reichten sich dann die Hand und gingen nach ihr hinein.

Die Tür schloss sich.


Alagadda.png

Alagadda.png

Ibanez fiel zum zweiten Mal an diesem Tag durch Dunkelheit.

Sie schloss nicht bewusst ihre Augen, als sie sich vom Licht entfernte, aber sie musste sie bewusst öffnen, als ihre Füße wieder festen Boden berührten. Sie konnte immer noch nichts sehen und als sie ihren Mund öffnete, um diese Tatsache zu erwähnen, realisierte sie, dass sie eine Mase trug. Sie brachte ihre Finger unter die Kante und schälte sie wie einen Sonnenbrand ab; sie war ein festes, glattes Stück aus weißem Porzellan, wie ein abgenutztes Stück Seife.

Ihre Begleiter standen neben ihr. Sie hielten ihre eigenen Masken und blinzelten gegen die plötzliche Helligkeit …

Sie ließ ihre Maske fallen und hielt das schimmernde Schwert nach oben. Okorie lehnte sich zu ihr, um es zu untersuchen, und fuhr mit ihren Fingern sehnsüchtig an der Parierstange entlang. "Dieses Ding ist einfach nur blutende Magie", flüsterte sie ehrfürchtig. "Es sollte nicht mächtiger werden! Nichts wird derzeit mächtiger. Die Hälfte der Artefakte in unserem Besitz haben einfach versagt. 2264 öffnet sich nicht. 005 und 963 sind tot. Aber nicht dieses Ding?"

"Vielleicht wollte die magische Stadt deshalb, dass wir es haben", schlug Placeholder vor. "Vielleicht ist es wirklich ein Teil der Lösung."

"Den Genius in den Genius loci bringen", stimmte Okorie zu. "Hoffe ich."

"Na gut", sagte Ibanez. "Es ist ein ziemlich blödes Schwert, minus dem Teil mit dem Whoosh." Sie pustete zur Betonung und hielt dann das Ding vor sich, um ihre Umgebung zu beleuchten.

"Schätze, wir sind heute auf einem Bibliotheksrundgang", murmelte sie. Ein Korridor aus dicht beieinander stehenden schwarzen Bücherregalen erstreckte sich vor ihnen ins Unendliche; sie konnte fast die Krümmung der Erde sehen. Sehr nahe beieinander stehende Bücherregale. Sehr, sehr

Sie erzitterten alle auf einmal. Ibanez hatte das greifbare Gefühl, dass die Bücher falsch sind. Die Regale sind falsch. Sie riss sich los, als sie sich plötzlich vorstellte, wie die Holzkohlenstapel unter ihrer wachsenden Last aufbrachen und in einem Hagel von—

"Wir müssen los", sagte sie. Sie schüttelte ihren Kopf. "Wir müssen los, bevor wir anfangen—"

STIMMEN ZU HÖREN?

Sie machte sofort einen Schritt nach vorne. "Kommt schon." Sie schaute nicht nach hinten, um zu sehen, ob sie ihr folgten.

BIST DU GEKOMMEN, UM UNSERE GEHEIMNISSE ZU STEHLEN? Die Stimme war nicht schwach, wie es die Stimme von Kayaköy gewesen ist. Diese Stimme war stark, selbstbewusst, wie der Klang gebrochener Glocken in leeren Brunnen. RATTEN ZUM GIFT.

Sie lief schneller. Die Regale verlängerten sich zum Himmel wie tote Fingernägel. Die Bücher schauten zu. Sie waren nicht begeistert.

MÖCHTEST DU UNS KENNEN? MÖCHTEST DU DICH KENNEN? ODER SUCHST DU NOCH SCHLIMMERE OBSZÖNITÄTEN? Die Stimme war höhnisch, spöttisch; sie war auch lautes Gelächter, klangvoll und erschütternd. Ibanez war nackt in der Dunkelheit.

"Delfina?" Okorie, von weit hinten. "Delfina, geht es dir gut?"

DU BIST ZU UNSERER WOHNSTÄTTE GEKOMMEN. Die Regale rückten näher zusammen. Es gab keine Regale. DU BIST ZUR ENDSTATION VON ALLEM GEKOMMEN, WAS SCHÖN UND ZERSTÖRT IST. Ihre Schritte waren geräuschlos. DU BIST IN DAS SCHWARZE ALAGADDA GEKOMMEN UND DU BIST HIER WILLKOMMEN.

Sie hörte auf zu laufen. Sie schloss ihre Augen.

KOMM ZU MIR, sang die Stimme. KOMM ZU MIR UND ENDE.

"Das hier endet nicht." Ihre eigene Stimme ließ sie aufwachen und sie öffnete ihre Augen.


Alagadda.png

Sie stand – alle vier von ihnen standen – in EINEM SEE AUS TRÜBEN TRÄNEN. Da waren Bücher im Wasser, ERTRUNKENE KATASTROPHISCHE ENTHÜLLUNGEN, die Wörter trieben von den durchweichten Seiten und schwammen unter der Oberflächenspannung. Ibanez kniete sich in der Finsternis nieder und bewegte ihre Finger durch EINE MEMBRAN ZWISCHEN DEM GIFT UND DEM–

"GENUG!" Ihre Begleiter wichen zurück, als Ibanez' Schrei über den großen unterirdischen See hallte, und schauten sie vorwurfsvoll an.

HIER IST DEIN WISSEN. schimpfte einer von ihnen. ERTRINKE DARIN.

Sie blinzelte. "Wissen." Sie schaute in den See, griff dann hinein und holte eines der Bücher heraus. Sein zerfetztes Inneres ergoss sich über ihren Overall, als sie den Deckel schloss. Sie konnte die Wörter nicht lesen, aber die Beschriftung war das, WAS BLEIBT, WENN NAMEN STERBEN. Sie kniff die Augen zusammen. Die Beschriftung war EIN ABRUCK DES WAHNSINNS IN UNS ALLEN. Sie atmete tief durch, kniff ihre Augen eng zusammen und versuchte es ein letztes Mal.

Der Titel war einfach: Enteignung. Sie ließ es fallen und das stille Wasser schluckte es ohne einen einzigen Protest. Sie nahm ein anderes heraus. Wrack und Rosen. Noch eins. Die Auspizien der Ausschweifung. Englische Worte tauchten in der stummen Sprache von Alagadda auf wie ein Wal, der den Ozean durchbricht.

"Natürlich", sagte Okorie, die sich hinkniete, um über Ibanez' Schulter zu schauen. "Schriften aus Alagadda übersetzen sich selbst in der Stadt."

Sie standen zusammen und alle vier von ihnen bildeten einen Kreis im Zentrum des Sees. "Das hat der Archivar gemeint", sagte Ibanez. Sie hielt das Schwert hoch und rotierte es langsam. "Wir mussten zur Quelle hinuntergehen."

Die Klinge war reines, weißes Licht, also konnten sie die Gravur deutlich lesen. Ibanez sprach sie laut aus:

"Ich werde nicht schwinden."

DAS WERDEN WIR SEHEN, fauchte ihr dritter Begleiter und in diesem Augenblick fiel ihr ein, dass sie gar keinen dritten Begleiter hatte.


Alagadda.png

DER BOTSCHAFTER VON ALAGADDA grub seine scharfen Fingernägel in ihre rechte Hand und sie fiel rückwärts in den See. Durch die trübe Dunkelheit sah sie das Fehlen eines Gesichts, zerschredderte Hüllen, die wie abgezogene Haut abstrahlen.

ICH KENNE DICH, kicherte es. DU BIST KEIN HELD.

Ihr Rücken durchbrach die Oberfläche – obwohl sie immer noch die panischen Gesichter von Okorie und Placeholder sehen konnte, die auf sie hinabsahen – und sie landete auf dem polierten Kachelboden des Hauptkorridors für den Zugang zum Aufzug von Standort-43. Hundert bandagierte Gespenster pirschten sich an sie heran und sie bemerkte, dass das Schwert in ihrer Hand nun ein elegantes und glänzendes Hightech-Gewehr war.

MÖRDERIN, spuckte die nächstgelegene Gestalt und sie feuerte auf sie. Beim Auftreffen verwandelte sie sich in eine verängstigte Frau in einer Sicherheitsuniform; sie drehte sich weg, beide Arme waren an den Schultern abgeschnitten und Blut bedeckte die weißen Wände.

FEIGLING, schrie die nächste Gestalt, während sie ihre Arme im Trotz zurückwarf; die Frau, zu der sie wurde, verschwand in einem roten Nebel, als Ibanez den Abzug drückte.

KERKERMEISTER war das letzte Wort vom vorrückenden Gedränge, als Ibanez sich gegen die Wand drückte und sie alle ohne Unterbrechung beschoss. Sie fielen auf sie, auseinander gesprengt, und Blut breitete sich auf den Kacheln aus, bis eine Krallenhand nach ihr griff und ihren Kopf in das sich ausbreitende Blutbad drückte. DU BIST KEINE RETTERIN.

Sie tauchte als ein hustendes, schluchzendes Wrack aus einem stagnierten See aus Moorwasser auf. Der Himmel brannte und Flugzeuge rauschten über ihr, die ein Lagunendorf mit schwerer Artillerie bewarfen, während sich Männer und Frauen in MTF-Uniformen darum bemühten, ein Fliegerabwehrgeschütz aufzubauen.

Die Fackel in ihrer Hand ist in zwei Teile zerbrochen, aber das Glühen über ihr erhellte die sich ausbreitende rote Wolke im Wasser vor ihr. Ein kleines Mädchen lag mit dem Gesicht nach unten im Dreck, eine einzige, saubere Schusswunde in ihrem Hinterkopf. Ibanez bückte sich – den fast überwältigenden Drang bekämpfend, die Fackel fallen zu lassen – und drehte die eiskalte Leiche ihrer Schwester um.

"Das ist NICHT REAL. Ihre Stimme verschwand im kehligen Gekicher des gesichtslosen, bandagierten Biest, welches nach oben griff und seine Krallen um ihre Kehle schloss. DU BIST NICHTS.

Dises Mal wehrte sie sich und hämmerte mit der zerbrochenen Fackel auf den Botschafter ein. Er wirkte größer, schlanker, selbstbewusster, als jeder Schlag ihn traf. "Das ist nicht real!", schrie sie. "Das ist ein Traum!"

TRÄUME SIND REALER ALS JEDE MAGIE IN ALAGADDA HEUTZUTAGE. Die Bandagen fielen ab und eine schlanke Gestalt aus purer Nacht umschloss sie. Sie fühlte, wie sich ihre Finger von DER FACKEL DEM GEWEHR dem Schwert lösten und als der Botschafter sie ein weiteres Mal ins Wasser stieß, verstand sie, was gerade geschah.

Sie nahm einen tiefen, rasselnden Atemzug, als er sie unter die lauwarme Oberfläche drückte, klärte ihren Geist und fokussierte sich auf die einzige Sache, die ihr am Ende von allem wichtig war: ihr Versagen am Brunnen, wo zehn gute Männer und Frauen tot lagen.

DU BIST KEINE ANFÜHRERIN. Rasiermesserscharfe Finger gruben sich in ihre Kopfhaut und ihre Augen füllten sich mit Blut, als sie in der von Mondlicht beleuchteten, regennassen Landschaft von Kayaköy auftauchte. Sie schoss aus dem Becken des Springbrunnens, spuckte Regenwasser aus und würgte wegen der brühend heißen Luft. Das Biest stand auf den Kirchenstufen und betrachtete sie mit einer beiläufigen, unpersönlichen Bosheit. ICH KÖNNTE DICH MIT EINEM FLÜSTERN AUSEINANDERNEHMEN, gab es an. ABER ES IST VIEL AMÜSANTER, ES DICH SELBST MACHEN ZU LA–

"Feuer", krächzte sie und fühlte einen Anflug von Befriedigung, als der Botschafter vor Verwirrung innehielt, kurz bevor Holzspitzmunition aus zehn Gewehren ihn zerfetzten. Ihre Agenten leerten ihre Magazine; das durchlöcherte Monster trat einen Schritt vor und stürzte dann mit dem Gesicht zuerst die Treppen runter. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf einen weißen Umhang, das in dem heftigen Sturm hinter ihm wie verrückt wehte, bevor sich die gesamte Szene plötzlich in Nichtexistenz auflöste.

Sie war auf allen Vieren im endlosen See des Wissens. Ihr Feind lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser, vollständig, aber bewegungslos. Sie löste ihren Griff vom Schwert und hielt es hinter sich hoch; sie sah nicht, wer von ihren Freunden es nahm, so fokussiert war sie auf den ungemein befriedigenden Akt, das Genick der hasserfüllten Kreatur zu brechen. Ein Geräusch, das wie das Zerbersten eines einzelnen Kettenglieds klang, hallte durch die Höhle, und sie schleppte sich aus dem düsteren Sumpf.

Okorie gab ihr wortlos das Schwert zurück. Es leuchtete wie ein Leuchtfeuer im Dunkeln.


Alagadda.png

"Was zur Hölle war das Ding?!", tobte Placeholder, während sie den Steinflur entlanggingen.

"Der Botschafter von Alagadda." Okorie war ruhig. ""Einer der mächtigsten Zauberer, der jemals gelebt hat."

"Ist es tot?"

"Es war schon immer tot." Die Magierin sah reumütig aus. "Unter normalen Umständen hätte es uns auf dem atomaren Level zerteilen können, ohne mit der Wimper zu zucken."

"Ja", nickte Ibanez. Ihre Stimme war düster, aber irgendwie stärker. "Das sagte es. Darum hat es verloren." Sie versuchte, das Blut, das sie ihr Gesicht hinunterlaufen fühlte, abzuwischen; ihre Hand ist sauber geblieben. "Bösewichte wissen nie, wie man den Raum liest."

"War das der Bösewicht?", unterbrach sie Placeholder. "Okorie, Sie haben es einen Botschafter genannt. Dient es dem gehängten König?"

"Sprechen Sie den Namen nicht laut aus." Okorie schauderte. "Die Antwort ist 'ja' und 'nein'. Es ist kompliziert."

Placeholder griff in seine Laborkitteltasche. "Weiß eine von Ihnen etwas über Charakter-Archetypen?"

Sie zuckten beide mit den Schultern, als er sein Gerät zur Messung von narrativen Fluktuationen hervorholte.

"Wissen Sie vor allem, wie der Stellvertreter des Bösewichts genannt wird?"

Sie zuckten wieder mit den Schultern, als er die Drehköpfe auf dem Gerät einstellte.

"Er wird als ein Drache bezeichnet."

Ibanez hörte auf zu laufen. "Sagen Sie gerade …"

"Ich sage, Sie haben ein Schwert aus einer Statue gezogen, einen souveränen Staat gerettet, einen Drachen bekämpft und vielleicht soger besiegt und …" Er starrte auf den Detektor. "… ja. Das hier ist das Zünglein an der Waage."

Ibanez verlagerte ungeduldig ihr Gewicht. "Und das heißt? Praktisch gesehen?"

"Es bedeutet, dass wir anfangen müssen, die Sache herunterzufahren, sonst ziehen wir die Autoren auf unser Niveau herunter und sind in einer ewig eskalierenden Erzählung gefangen. So viel Spaß es auch machen würde, Sie zu einer heroischen Apotheose aufsteigen zu sehen, es gibt immer noch die kleine Sache, dass eine Welt gerettet werden muss."

Okories Augen funkelten im Licht des Schwertes. "Da wir gerade davon sprechen …" Sie streckte die Hand aus, um das Schwert zu berühren, und zog sie dann zurück, um an ihrem Finger zu saugen. "Ups. Ahem." Sie sammelte ihre Gedanken. "Sind wir uns darüber im Klaren, warum dieser tote Metallklumpen sich allmählich der kritischen Masse nähert?"

"Es verdoppelt sein protagonistisches Potenzial", sagte der Platzhalter.

Ibanez starrte ihn an. "Was?"

"Es zieht Kraft aus deinem Heldentum", erklärte Okorie. "Nein, streich das. Es passt sich der Stärke deines Heldentums an, so wie Kayaköy die Zufriedenheit der Touristen spiegelt. Die Stadt rief nach einem Helden und du bist gekommen. Wegen dem, wer du bist." Sie klapste auf Ibenez' Schulter. "Wir sind nach Alagadda aus der Türkei gekommen, Delfina, über die gottverdammte Wanderer's Library. Wir haben das nicht gemacht, um eine Inschrift zu lesen, die uns nichts Nützliches gesagt hat! Wir haben es gemacht, um es zu machen."

"Das Schwert hat die Aufgabe ausgelöst und die Aufgabe das Schwert", stimmte Placeholder zu. "Durch Ihre absurde Sequenz von Kraftakten."

"Weißt du, wie lange es her ist, dass jemand die Machtbalance in Alagadda verändert hat?", fragte Okorie. "Wie lange es her ist, dass Kerkermeister frei in den Hallen der Hand umherliefen? Wie viele Jahrzehnte es gewesen sind, seit Kayaköy gesprochen hat?" Sie lachte. "Oder wie lange es her ist, dass meine Venen sich anfühlten, als stünden sie unter Feuer?" Ihr Gesicht leuchtete so stark, dass es das Schwert übertraf. "Das macht dieses Ding. Es reflektiert, was in dir ist, rührt die Geschichten an, erweckt tote und sterbende Orte zum Leben. Es könnte genauso gut genug reine Änderungen gesammelt haben, dass es die Sackgasse komplett rückgängig machen kann!"

Ibanez dachte darüber nach, als sie das Ende des Flurs erreichten, wo ein dicker Steinbogen in reine Dunkelheit führte.

"Nun", sagte sie. "Heilige Scheiße?"


Alagadda.png

Als sie über die Schwelle traten, überkam sie ein leeres Grauen. Sie standen am Rande einer kolossalen Rotunde, einem Korallenriff aus verbogenen Säulen, zerrissenen Bannern und abgrundtiefen Säulengängen. Gänge wie der, den sie gerade verlassen hatten, verzweigten sich in alle Richtungen, Legenden in düsteren Siegeln, die über Ebenholzstürzen geschnitzt waren. Das Herzstück der Halle des gehängten Königs war eine kreisförmige Treppe, die zu einem erhöhten Podium führte, das von einem düsteren Thron beherrscht wurde, der mit Szenen und Figuren geschmückt war, die ihnen wie die Erinnerung an Würmer im Grab unter die Augen krabbelten. Er war mit hässlich aussehenden Stacheln, abgebrochenen Gliedern aus schwarzem Metall und ausgefransten schwarzen Seilen übersät. Eine einzelne Kette hing von der unsichtbaren Decke herab und schwang in einem Luftzug, der den Staub, der jede Oberfläche bedeckte, nicht störte.

Der Thron war leer.

Okorie zog sie in den Flur zurück, ihre düsteren Gesichtszüge waren erschreckend blass. "Wir haben ein Problem." Sie verschluckte sich fast an den Wörtern. "Der einzige Weg, Alagadda zu verlassen, ist durch diese Tür. Eine richtige Tür." Sie hielt ihren Daumen über ihre Schulter. "Es könnte da drinnen eine sein, aber es gibt definitiv Türen in der Stadt."

"Also gehen wir nach oben und dann nach draußen?" Ibanez spürte, wie ihr Puls schneller wurde.

Okorie schüttelte ihren Kopf. "Der König ist frei. Ich denke, du … Ich denke, wir haben ihn befreit."

Ibanez hob die Klinge zwischen sie und Okorie schüttelte ihren Kopf noch stärker. "Du hast gesehen, was es mit dem Botschafter gemacht hat. Wenn der gehängte König es in die Finger kriegt, ohne dass ihn irgendetwas zurückhält, müssen wir nicht mehr versuchen, die Welt zu retten. Sie wird schon zum Scheitern verurteilt sein."

Placeholder war am Hyperventilieren. "Also durchsuchen wir die Durchgänge und hoffen, dass wir eine Tür finden."

"Und wenn wir es nicht schaffen?" Ibanez beobachtete genau das Gesicht ihrer Freundin.

Okorie wandte sich von ihr ab. "Wähle einen Flur, irgendeinen, und renn."


Alagadda.png

Das Licht in der Halle war merkwürdig. Sie konnten die Inschriften über den einzelnen Gängen lesen, aber der Raum auf der anderen Seite des Podiums, wo die Wendeltreppe nach Alagadda selbst lag, war stockdunkel. Als sie von Tür zu Tür gingen und in endlose Tunnel aus lichtlosem Gestein starrten, stellten sie fest, dass sich die Schatten mit der Bewegung ihrer behelfsmäßigen Fackeln weder verlängerten noch verkürzten.

Sie fanden insgesamt eine Tür aus pechschwarzem Holz mit einem sternförmigen Schlossmuster. Auf der Legende auf dem Türsturz stand "ADYTUM" und Okorie lehnte es wortlos ab, sie zu öffnen. Mit zusammengebissenen Zähnen und hageren Gesichtern drängten sie sich um das Thronpodest herum in Richtung der sich nicht zurückziehenden Finsternis, wo …

Die Finsternis sich bewegte.

"Oh", sagte Okorie. Sie griff in ihre Tasche, zog einen Lederbeutel heraus und schüttete den Inhalt in ihre linke Hand. Sie klatschte beide Hände zusammen und eine Zinnoberwolke breitete sich um sie herum aus. "Auf Wiedersehen."

"Was?" Ibanez packte die Magierin an der Schulter; Okories Muskeln waren angespannt, und sie steckte ihre Füße fest in den Dreck.

Placeholder suchte die Tunnel hektisch ab, während Ibanez versuchte, ihre Freundin zu zwingen, sich ihr zuzuwenden. Okorie rieb ihre Hände aneinander, bis sie beide die Farbe von altem Rost hatten, und begann dann, Linien in den verbleibenden Staub zu ziehen.

"Udo!" Ibanez machte einen Schritt vor Okorie, doch die größere Frau drehte sich um und stieß sie grob zurück. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. "Du musst gehen." Sie kniete nieder und zeichnete mit ihren Fingern Linien in den Boden, die ein kompliziertes Muster um sie herum bildeten, während der schwarze Dunst hinter ihr aufstieg. Ein Antimateriegeflecht, ein sich auflösender Wandteppich aus absolutem Nichts, eine Vielzahl von Tentakeln, die sich ihnen entgegenwinden …

Ibanez hob das Schwert, und Okorie schenkte ihr ein gequältes Lächeln, bevor sie zwischen Daumen und Zeigefinger ein Feuer entfachte und es auf die Figuren am Boden presste.

Unter ihren Füßen entstand eine Flammenwand, die den Thronsaal in zwei Hälften teilte und Ibanez und Placeholder von dem vorrückenden ekliptischen Gewirr trennte, das der Schatten des gehängten Königs war. Ibanez drückte ihre Hände an das Feuer; es fühlte sich kühl an, war aber fest wie massiver Stein.

Okorie erwiderte die Geste ihrer Freundin, schürzte dann die Lippen und stieß zu. Ibanez wurde zurückgeschleudert und rutschte über die schmutzigen Platten. Placeholder zog sie auf die Füße, während sie schrie: "UDO!"

Der Raum hinter der Brandmauer war jetzt eine sternen- und mondlose Nacht. Okorie hob beide Hände über ihren Kopf, das Haar wehte, die Muskeln spannten sich an, die Wirbelsäule war gerade. Die leere Masse des Königs zwang sie, Stück für Stück zurückzutreten und sich unter einer Tür hindurchzuzwängen, die mit dem einfachen Zeichen dreier Mondsicheln versehen war.

Sie war immer noch ein Bild vollkommener Entschlossenheit, als Ibanez sie aus den Augen verlor und in einen lichtlosen Gang geschleudert wurde, der von dem verzweifelten, aber hartnäckigen Pataphysiker mit UNBEABSICHTIGTE gekennzeichnet war.


Alagadda.png

Candles.png

Sie haben keine fünfzehn Meter geschafft, bevor Ibanez ein gewaltiges Verlangen verspürte, zum Thronraum zurück zu rennen, stärker als der Fluch des Archivars in der Library, stärker als der Sog einer Motte zu einer flackernden Flamme. "Wir müssen zurück."

Placeholder versuchte nicht, sie zurückzuhalten; er kannte offensichtlich seine eigene Stärke. "Das können wir nicht. Das ist der einzige Weg nach vorne." Er fuhr beide Hände durch sein dunkles, lockiges Haar. "Wir müssen Sie hier rausbekommen. Wir müssen das Schwert hier rausbekommen. Sie sind die Protagonistin. Okorie und ich …"

"Nein", fuhr Ibanez ihn an.

"Okorie und ich sind nur Nebencharakter." Er hob abwehrend seine Hände. "Es stimmt!"

Ibanez widerstand nur beinahe dem Drang, ihn zu ohrfeigen. Sie zeigte zurück auf den Durchgang. "Kommen Sie mir jetzt nicht mit Pataphysik! Meine Freundin, meine Freundin, wird sterben, wenn ich ihr nicht helfe."

Er schüttelte traurig seinen Kopf. "Nein. Sie wird sterben, egal ob Sie ihr helfen oder nicht. Die Frage ist, ob alle anderen es auch werden."

Ibanez ballte ihre Hände zu Fäusten. "Sie wissen nicht, wo das hinführt. Sie könnten uns genauso gut in eine Sackgasse führen, während Udo …" Sie blinzelte wütende Tränen zurück. "Umsonst."

Placeholder blickte finster drein, während er den Narrativdetektor mit einem Finger antippte. "Ich weiß schon, wo das hinführt. Alagadda grenzt an das Unbeabsichtigte, einer interdimensionalen Leere. Ein Zwischenraum. Mit dem Zusammenfall der Magie, wenn meine Theorien stimmen, ist es ein Reich purer Pataphysik. Das Gebiet der Autoren."

Ibanez blinzelte. "Wenn Ihre Theorien stimmen."

Er nickte. "Ich habe mit Okorie darüber gesprochen, bevor wir Sloth's Pit verlassen haben. Es gab immer die Möglichkeit, dass wir hier draußen in einer Schleife gefangen werden, weil die Welt mit so viel narrativer Macht gefüllt ist." Er seufzte. "Wenn das geschehen wäre, waren wir uns einig, die Dinge über den Haufen zu werfen."

Sie spürte, wie ihre Kinnlade herunterfiel. "Die Dinge über den Haufen zu werden."

Er wirkte getroffen. "Ein weiteres narratives Kästchen anzukreuzen. Die Autoren einzuspannen. Einen letzten Ton auf der Klischeeskala anzuschlagen." Ihr vernichtender Blick forderte ihn heraus, es zu sagen, also schluckte er hart und gehorchte: "Eine große Geste. Ein Opfer."

Für einen Moment fürchtete sie, sie könnte das leuchtende Schwert in sein Herz stoßen. Für einen Moment dachte sie, sie könnte ihn gegen das glänzend schwarze Mauerwerk drücken. Für einen Moment dachte sie, sie könnte ihren Verstand verlieren und dann stieg ihr das Herz in die Kehle und ein blendendes Licht strahlte aus der Kante der Klinge.

"Es ist kein verdammtes Opfer." Sie hielt die Klingenspitze direkt unter seine Nase. "Es ist ein Cliffhanger."


Candles.png

Zunächst schien es ein Licht am Ende des Tunnels zu geben. Dann stellte sich heraus, dass es sich in Wirklichkeit um eine Abwesenheit von Licht und Dunkelheit handelte, um einen schleichenden Grauschleier, der alle Klarheit und Farbe beiseite fegte. Sie liefen durch den sich verdunkelnden Nebel, Ibanez warf ihnen kurze Blicke hinterher; für ein paar kostbare Augenblicke war da noch die Leere, das stille Mahnmal für das ungewisse Schicksal von Udo Okorie, aber bald blieb nicht einmal mehr die Abwesenheit von irgendetwas.

Ihre Füße fielen auf den dicken Teppichboden und warfen Staubwolken durch die mit leuchtendem Ahorn getäfelte Galerie. "Das ist nicht real", sagte Placeholder, den Blick fest nach vorne gerichtet. Hinter den bleiverglasten Fenstern brannte ein Feuer, und ein plötzliches Wehklagen zerriss die Nacht mit voller Wucht.

Sie rannten durch ein Labyrinth aus Brennnesseln und starrten in einen hohlen Himmel. Eine Schlinge hing vom Himmel herab, und am Ende des Seils strampelte eine gestaltlose Gestalt. "Wir brechen durch die Schichten", schnappte der Pataphysiker. "Weitergehen."

Sie stürmten eine dunstige, von Zäunen gesäumte Straße hinunter, Reihen von Leichen mit toten Augen drehten sich um, um sie vorbeiziehen zu sehen. Trompeten donnerten von oben; etwas Gewaltiges bewegte sich im Nebel. "Wir sind fast da", keuchte Placeholder, sichtlich aus der Puste.

Sie fielen wieder durch eine leere Weite, und sie wusste plötzlich, dass sie von hinter dem Schleier beobachtet wurde.

"Ich habe Ihnen nie erzählt, wie ich zu meinem Namen gekommen bin", bemerkte Placeholder. Seine Augen waren groß und wild, als er auf die Leere vor sich deutete. "Ich habe die Aufmerksamkeit von etwas erregt und das hat mich VERFLUCHT."

Sie waren gegen einen schwarzen Samtvorhang gepresst, wie Schmetterlinge auf einem Musterbrett, eine metaphysische Masse, die sich über ihnen abzeichnete und nach ihnen griff –

"Wir haben inzwischen selbst ein oder zwei Dinge über Flüche gelernt."

Ein statisches Heulen, ein siebenfaches Zerspringen von Ketten, ein unmenschliches Fratzengesicht, das sich hinter ihnen erhebt, und ein Schrei von jenseits der vierten Wand, und –


Turkey.png

Das Dorf Kayaköy

Republik Türkei


Sie saßen nebeneinander auf einer unbequemen Kirchenbank und schauten hoch auf die Figur in einem weißen Gewand, die über der Kanzel schwebte. Ihre Kleidung bauschte sich in einer unsichtbaren Brise auf.

DAS ENDE DES ENDES IST NAH.

"Was war dieses Ding?" Ihre eigene Stimme hörte sich flach, leer, fremd für sie an. "Als der Autor uns jagte?"

"Es war eine Schutzmaßnahme", murmelte Placeholder, während er auf die bewegungslose Nadel auf seinem Detektor für narrative Fluktuationen starrte. "Ein letztes Mittel gegen die Schreiber, wenn es hart auf hart kommt. Ein Ausweichplan, von dem wir niemals gedacht haben, dass wir ihn hätten verwenden müssen." Er röchelte. "Ich habe es in die Noosphäre gelassen, bevor wir es 87 verlassen haben."

Ibanez schaute ihn an, fast zu erschöpft, um zu fragen: "Warum haben Sie es niemandem gesagt?"

Er antwortete zaghaft, weil er das Feuer in ihren Augen erkannte. "Weil es uns dann nicht gefunden hätte, weil es kein Deus ex machina gewesen wäre. Wir müssen den Regeln folgen, wissen Sie."

Sie schaute auf die Klinge herunter – Ich werde nicht schwinden – die wie polierte Bronze leuchtete, und schüttelte ihren Kopf. "Scheiß auf diesen Lärm." Sie stand auf und lief zu den offenen Doppeltüren, gezielt den herumlungernden genius loci ignorierend. "Die Regeln folgen ab jetzt mir."



<ENDE DES PROTOKOLLS>
Kehre zum Hauptdokument zurück, um zugehöriges Material einzusehen.


Sofern nicht anders angegeben, steht der Inhalt dieser Seite unter Lizenz Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 License