Die Zehnte


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DAMALS

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In der Stille des winzigen Apartments saß Vincent Arians und nippte an seinem Drink. Eine halb geleerte Flasche und eine geladene Pistole waren auf der Arbeitsplatte in der Nähe. Dünne Streifen der Dämmerung schauten durch die Schlitze der Jalousien und erleuchteten die auf dem Bauch liegende Gestalt von Aaron Siegel vor ihm auf dem Boden.

Arians stellte das Glas beiseite und nahm einen langen Zug an einer Zigarette, seine Augen blinzelten gegen das Leuchten. Einen Moment später rührte sich Aaron. Er stemmte sich auf die Ellbogen und wischte sich mit einer Hand den Schlaf und Speichel aus dem Bart. Sein Gesicht, geschwollen und rot, wandte sich zu ihm.

"Was ist passiert?", krächzte er. "Wo sind wir?" Er sah hinunter auf seine Hände. Sie zitterten immer noch. "Hat es funktioniert?"

Arians nahm noch einen Zug von der Zigarette. Langsam strömte Rauch aus seinen Nasenlöchern und fing das Licht vor sich auf. Er war kaum sichtbar hinter dem Dunst. "Er ist tot." Arians' Augen richteten sich auf einen Punkt in der Ferne. "Es hat funktioniert."

Für einen langen Moment bewegte sich Aaron nicht. Dann – plötzlich – schlug er mit seiner Faust auf den Boden.

"Ja", zischte er durch seinen zusammengepressten Kiefer. "Ja."

Arians Gesichtsausdruck war distanziert. "Weißt du, wir sind fast gestorben." Er kleckerte Asche auf den Teppich neben sich. "Manche von uns haben es nicht geschafft."

Aaron stand wankend auf und fiel dann mit seinem Rücken gegen die Wand. Er streckte seine Hand aus; Arians gab ihm eine Zigarette.

"Wie viele?", fragte Aaron.

"Du und ich. Felix. Conrad. Ingrid." Arians zählte mit seinen Fingern. "Fünf insgesamt. Felix hat schon bei Forschern an anderen Standorten nachgefragt. Manche von ihnen fragen bei uns nach. Jeder von uns hat eine Scheißangst." Er nahm noch einen Schluck. "Dachte, du wärst tot."

Aaron rieb sich die Schläfen. "Ich erinnere mich nicht an viel." Er schaute hinüber zu Arians. "Du siehst jünger aus."

"Ja. Das tun wir alle. Das Wasser sorgt dafür." Er trank sein Glas aus. "Wir haben noch viel Arbeit vor uns, Aaron. Doch bevor wir anfangen, musst du mir sagen, warum du das getan hast."

Aaron schüttelte den Kopf. "Es ist jetzt nicht mehr wichtig. Es ist getan."

"Fick dich. Es ist wichtig." Etwas hatte sich verändert; es gab eine Distanz zwischen ihnen. "Wir taten Dinge – ich tat Dinge –, die mich heimsuchen werden, bis ich sterbe. Aber wir taten sie trotzdem, weil wir die Welt retteten. Du hattest die Chance, Abaddon zu zerstören. Und das hast du nicht."

Seine Stimme wurde hart und kalt. "Du hast mir gesagt, ich soll rennen, sobald du sie aktiviert hast, die Kinder. Du hast mir gesagt, nicht zu fragen warum. Das habe ich getan. Ich habe dir vertraut, denn du hast mir nie einen Grund gegeben, das nicht zu tun. Aber jetzt? Jetzt habe ich mehrere. Du musst mir sagen, warum du Frederick Williams getötet hast."

Sie schwiegen eine lange Zeit. Aaron war dabei, seine Zigarette fertigzurauchen; Arians schenkte sich noch einen Drink ein. Als er sich zurück gegen die Wand lehnte, konnte Aaron eine leichte pinke Schwellung um Arians Augen sehen.

"Es gab kein Abaddon", sagte Aaron endlich. "Das gab es nie. Es war ein Köder."

Arians holte tief Luft. "Woher weißt du das?"

"Weil er es mir gesagt hat, Vince."

"Was?"

"Und als ich ihm nicht glaubte", fuhr Aaron fort, "hat er es mir gezeigt." Er ließ die Stille für ihn sprechen; als er es satt hatte, ihr zuzuhören, machte er weiter. "Es war vor dem Kongo-Standort. Ich war dort, mit ihm." Aaron atmete aus. Rauchschwaden wirbelten aus seinen Nasenlöchern zur Decke hoch.

Arians sagte nichts. Aaron untersuchte die Zigarette. "Ich weiß nicht, was zur Hölle er ist. Er war wahrscheinlich einmal menschlich. Vielleicht. Aber jetzt nicht mehr. Er kann Dinge tun, unmögliche Dinge. Als der Standort fiel …" Er schloss die Augen. "Ich habe gesehen, wie er eine ganze Anlage dem Erdboden gleichgemacht hat, Vincent. Ein Mann. Das war alles. Das war alles, was Abaddon war."

"Warum sollte er …"

Aarons Augen öffneten sich. "Ich glaube, er hat in mir einen Verwandten im Geiste gesehen." Dann, weicher: "Ich sah, wie er sich durch Beton und Stahl drückte, als wären sie weiche, feuchte Paste. Ich sah, wie ein Mann sein eigenes Skelett als dicken, gelben Nebel ausatmete. Ich sah, wie sich das Blut einer Frau zu Kristall verfestigte – so scharf wie Diamant und so spröde wie Kreide. Er ließ mich zusehen, weil er wusste, dass mir keiner glauben würde. Er ließ mich zusehen, weil … ich glaube, er wollte sehen, was ich tun würde."

Arians bemühte sich zu sprechen; seine Stimme verfing sich in seiner Kehle. "Also hast du ihn zerstört."

Aaron war sehr still. "Ja. Ich wusste, dass ich nicht die nötige Kraft hatte, um ihn zu töten und …" Er hörte auf und stellte sich hin, um nach noch einer Flasche zu suchen. Als er eine fand, schaute er nicht auf das Etikett. Er goss sich noch einen Drink ein.

"Vielleicht wollte er sehen, ob ich könnte – ob ich würde. Vielleicht wollte er einfach selbst diese Kraft sehen. In einigen seiner früheren Korrespondenzen beschrieb er Anomalien als 'glorreich'. Er sprach über sie, wie du über einen Sonnenaufgang sprechen würdest. Ich glaube … ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass es ihm jemals gereicht hat. Ich glaube nicht, dass irgendwas ihm je gereicht hat." Aaron leerte sein Glas in einem einzigen Zug.

"Er ist das Krebsgeschwür, Vince. Es war nicht Abaddon. Es war der Administrator. Er musste zerstört werden. Das Ganze musste zerstört werden. Es war bis ins Mark verfault." Er hob die Flasche, um sich noch einen Drink einzuschenken.

Arians atmete schwer und zitterte. Er brauchte einen Moment, um wieder zu sprechen – und als er es tat, zitterte er mit einem kaum unterdrückten Schluchzen.

"Wenn du wüsstest … die ganze Zeit – wir hätten aufhören können, Aaron. Wir hätten – wir hätten sie verschonen können, wir hätten …"

Aaron stellte die Flasche fest hin. "Nein, Vince. Wir brauchten die Kinder. Hätten wir sie nicht gehabt, wäre ich nicht fähig gewesen …"

Arians Stimme schwoll vor Wut an. "Wir schnitten sie auf und schnitten in ihre verdammten Hirne!"

Aaron verzog das Gesicht. Arians griff nach der Theke und stützte sich. "Ich – ich fesselte Kinder an verdammte OP-Tische, Aaron. Ich habe sie gefesselt und dir dabei geholfen, jeden Zentimeter von dem herauszuschnitzen, was sie waren. Sie schrien und schrien und wir schnitzten weiter. Und dann wurden die Schreie leiser und leiser, bis sie nur noch winzige, gebrochene Geräusche waren, kleine, feuchte Schluchzer, die kaum zu hören waren und dann, eines Tages, machten sie gar keine Geräusche mehr und …"

Arians Stimme wurde zu zitternden, keuchenden Atemzügen. Er schloss die Augen und zählte bis zehn.

"Du sagtest, Dr. Williams wollte nur sehen, ob es möglich ist. Doch was ist mit dir?" Er öffnete die Augen. "Warum hast du es nicht verhindert?"

"Das sagte ich dir schon. Wir brauchten es, um …"

"Ich glaube dir nicht."

Keiner sprach.

Arians stieß sich von der Theke ab. "Wenn die Foundation einmal zusammenbricht, werden wir viel zu tun haben." Seine Stimme war verräterisch ruhig; wie eine rasiermesserdünne Lage aus Eis, die sich auf der Oberfläche dunklen Wassers ausbreitet.

"Felix versammelt die Forscher und sucht nach einem Ort, um von dort aus zu operieren. Sie alle glauben, der Administrator habe sich Abaddon angeschlossen. Sie denken, du bist eine Art Held. Sie erwarten, dass du sie anführst. Und das ist genau das, was du tun wirst."

"Vince." Aaron drehte sich zu ihm um, seine Augen waren glasig und weit – als ob er etwas von der Ferne aus ansehen würde. "Du hast es auch gesehen, nicht wahr? Den Moment, als es passierte – als es ihn zerstörte. In diesem Moment hast du es gesehen. Nicht wahr?"

"Ja. Ich sah es."

"War es nicht …" Aaron suchte nach dem richtigen Wort. "War es nicht …"

"Es war gar nichts", antwortete Arians. "Bloß eine weitere Leiche unter der Foundation1."


JETZT

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Adam spuckte und wischte sich Spinnweben aus dem Gesicht. "Du weißt, dass ich Ungeziefer hasse, oder?"

Calvin lachte. "Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie von dir begeistert sind."

Der dicke Morgennebel sickerte zwischen den Bäumen hervor. Er gab dem Wald einen stumpfen, bernsteinfarbenen Glanz. Beide waren von einem zirpenden Insektenchor umgeben, als wollte er sie für ihr Eindringen beschimpfen. Unter ihnen knisterte bei jedem Schritt durch den Wald totes Laub.

Adam wischte sich weiter an seinem Mund herum. "Und Magie. Wenn ich eine Liste mit Dingen schreiben würde, die ich hasse, wäre das die Liste. 'Ungeziefer und Magie'. Also bringst du mich auf eine Mission mit, die beides hat." Er machte eine Pause, um noch mehr Spinnweben auszuspucken. "Warum ich? Warum nicht Anthony oder Olivia? Das scheint wohl eher ihr Ding zu sein."

"Olivia ist mit der Lügnerin beschäftigt." Calvin nahm das Tagebuch aus seiner Tasche. Er öffnete es und blätterte durch mehrere Seiten. "Und Anthony spioniert die Außenseiterin aus."

"Okay, gut. Aber diese Dame – sie ist im Grunde eine Art Zauberin, richtig? Wie gehen wir damit um? Du hast einen Plan, ja?"

"Ich habe mehrere." Calvin blätterte um und las, während sie gingen.

"Also, welche denn?"

"Die meisten bestehen darin, ihr ins Gesicht zu schießen."

"Das …", Adam runzelte die Stirn. "Das ist kein Plan."

"Bis jetzt hat es ganz gut funktioniert." Calvin sah vom Tagebuch auf und warf einen Blick zurück auf Adam. "Und wenn es heiß hergeht, habe ich … etwas. Eine Waffe."

"Welche denn?”

"Kann ich dir nicht sagen.”

"Ernsthaft? Komm schon, das ist …”

"Nein”, unterbrach ihn Calvin. "Ich meine, ich kann es dir wortwörtlich nicht sagen." Er schloss das Tagebuch und blieb stehen. "Wir sind da."

Adams Stirnrunzeln wurde stärker. Er sah sich auf der Lichtung um. "Ich sehe nichts. Woher weißt du das überhaupt?"

"Hör zu."

Adam blieb stehen. Er hörte zu.

Stille.

"Du weißt, dass die Foundation ziemlich heftige Anomalien eindämmt, oder? Dinge, die, wenn sie nicht überprüft werden, die Welt beenden könnten?"

"Ja." Adam lehnte sich an einen Baum und suchte die Lichtung ab. Die Stille – das Gefühl von Stille – war überwältigend. Sie zu brechen, fühlte sich fast vulgär an. "Richtig."

"Und du weißt, dass es die Foundation schon seit, oh, ich weiß nicht – seit vielleicht rund einem Jahrhundert oder zwei gibt?" Calvin drückte das Tagebuch in seine Tasche.

Adam nickte. "Richtig."

"Dann ist hier ein Geschichts-Quiz: Wenn die Foundation so viele Weltuntergangs-Anomalien eindämmt und es die Foundation erst seit einem Jahrhundert gibt, wer hat dann diese Anomalien vor ihr eingedämmt?"

Adam versuchte nicht mit den Augen zu rollen. "Niemand. Anomalien gab es vor der Foundation nicht. Die Aufseher haben sie erschaffen, um Unsterblichkeit zu erlangen. Komm schon, ernsthaft? Das ist Kinderkram."

"Aber das stimmt nicht ganz. Denn es gibt Anomalien, die vor der Foundation existierten. Und außerdem, wie 'erschaffst' du Anomalien, wenn es sie eigentlich gar nicht gegeben hat?"

Adam verschränkte die Arme vor seiner Brust und runzelte nachdenklich die Stirn.

"Was wirklich passiert ist", fuhr Calvin fort und ging auf den Rand der Lichtung zu, "ist, dass die Zahl der Anomalien erheblich angestiegen ist. Die Foundation hat das Problem nicht erschaffen – sie machten das Problem nur viel, viel schlimmer."

"Wie?"

Calvin erreichte sein Ziel. Zwei junge Schösslinge standen nebeneinander. Er schloss die Augen, atmete tief ein und streckte seinen Arm zwischen ihnen aus.

Seine Hand verschwand bis zum Handgelenk.

Adams Augen wurden so groß wie Unterteller. Calvin zog seinen Arm zurück; seine Hand erschien wieder, unbeschadet. Er drehte sich um, hielt sie Adam hin und wackelte mit den Fingern. "Sie zogen an Fäden, an denen nicht gezogen werden sollte. Sie versuchten sie zu nutzen, sie sogar zu spannen."

"Was zur Hölle ist …"

"Ein Weg. Ein Tunnel zwischen zwei Welten; ein Stück ausgefranster, entwirrter Faden. "Calvin blickte zu den Schösslingen und streckte seinen Arm erneut aus. "Um hier hindurchzugehen, brauchst du nur das richtige Klopfzeichen."

Adam ging auf Calvin zu und schaute auf die Stelle, an der Calvins Hand endete. "Ein – was?"

"Etwas, das den Weg öffnet. Manchmal ist es nur die Tageszeit oder etwas, das du dabei hast; manchmal ist es ein Ritual oder ein Wort oder ein Gedanke. In diesem Fall ist es ein Stück Wissen. Etwas, das dir wichtig ist." Calvin schaute zurück zu Adam. "Du wirst vergessen, was es ist, wenn du durchgehst."

"Oh …"

"Denk an eine Information, die du gern weißt, aber nicht wissen musst. Dann tritt zwischen die Schösslinge. Aber um dich vorzuwarnen – es ist eine ziemlich heftige Reise." Calvin drehte sich um und ging vorwärts. Er verschwand.

Adam starrte lange Zeit auf die Stelle, wo Calvin war. Dann atmete er aus, schloss die Augen und ging vorwärts. Musste er wirklich wissen, wofür THAC0 stand?

Es traf ihn alles auf einmal: Raum und Materie wurden so dehnbar wie Toffee. Der Wald zog sich zurück; Luft strömte, um ihn zu begrüßen. Es war, als würde er mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch einen Tunnel beschleunigen – einen Tunnel aus Licht und Schall, der sich unendlich ausdehnte.

Die Welt röhrte um ihn herum. Er versuchte zu sprechen, versuchte zu rufen, versuchte zu schreien – doch jedes Geräusch, das er machte, wurde von seinen Lippen gerissen und wirbelnd in die Dunkelheit hinter ihm zurückgeschickt. Kalte, entfernte Sterne schauten von oben und unten zu.

Und dann, als wäre das Universum ein Gummiband, das losgelassen wird – schnalzte alles wieder an seinen Platz.

Adam sprang nach vorn und landete auf seinen Händen und seiner Brust.

"Alles klar? Ich habe dir gesagt, es wird ziemlich heftig." Calvin streckte die Hand aus, um Adam auf die Füße zu helfen.

Sie waren jetzt drin. Die Luft war ungewöhnlich kühl; der Boden war weich, flach und orange. Als Adam aufstand, durchsuchte er den Raum um sie herum.

"Das ist …", Adam bemühte sich, die richtigen Worte zu finden.

Sie waren in einem riesigen Büroraum, der von Dutzenden langer, schmaler Leuchtstofflampen erhellt wurde. Dutzende kühlschrankgroße Großrechner standen leise summend entlang der Wände des Raums. Adam erkannte die Modelle nicht, aber wenn er wetten müsste, würde er sie als etwas aus der Mitte der 80er-Jahre einstufen. Die Art, die schallplattengroße Magnetscheiben als Festplatten benutzt.

Mehrere Schreibtische mit großen, sperrigen Monochrom-Monitoren standen um sie herum. Adam sah sogar etwas, das wie ein altes Microfiche-Gerät aussah – das letzte Mal, dass er sowas sah, war er auf dem Dachboden seines Vaters.

"… nicht, was ich erwatet habe."

Flure erstreckten sich aus allen vier Seiten des Raums und führten in weitere Räume – auf den ersten Blick wirkten sie ähnlich ausgestattet. Die Flure gingen weiter, erstreckten sich, soweit sie sehen konnten – oder bis ein Gerät ihre Sicht verdeckte.

"Hallo?", Calvin starrte in einen der Flure, verließ aber nicht den Raum. "Jemand zuhause?" Keine Antwort – nur das Summen zahlloser Großrechner. "Hier müsste jemand sein."

"Dieser Ort ist, äh … was ist das für ein Ort?" Adam näherte sich einem der Großrechner und inspizierte ihn. Jede Maschine hatte ein elegantes Logo – das Bild einer Schlange mit leuchtend smaragdgrünen Augen und einer silbernen Krone. "Diese Maschinen sehen älter aus als ich."

"Das sind sie wahrscheinlich auch." Calvin runzelte die Stirn und schaute Adam an. "Das ist ein Teil der Bibliothek. Die Foundation nutzt sie, um die Werke aller Welten, die vorher kamen, zu archivieren. Kunst, Literatur, Musik – geschriebene Werke, gedruckte Werke – jede Art von Information."

"Auf Mikrofilm." Adam klang nicht beeindruckt. "Warte, 'vorher kamen'?"

"Ja. Wir müssen einen Bibliothekar finden. Dieser Ort ist praktisch unendlich; verlauf dich hier und du verhungerst, bevor du eine andere Seele findest."

"Einen Bibliothekar? Adam untersuchte einen der Computer nun etwas näher. Hey, der hier läuft nicht."

"Ja, einen Bibliothekar. Er ist teil der Bibliothek, er weiß, wo alles …" Calvin hörte auf und wandte sein Gesicht zu Adam. "Warte, was?"

"Dieser Computer. Er läuft nicht." Adam hatte schon ein aufklappbares Werkzeug hervorgeholt und war dabei, die Frontplatte abzuschrauben. "Er ist eingesteckt, Schalter ist an, aber er macht keine Geräusche."

Calvin kam näher. "Pfusch nicht dran rum."

"Warum nicht? Verdammt, warum ihn nicht einfach kaputt machen?", antwortete Adam. Als Calvin ihn erreichte, hatte er schon die vierte Schraube herausgedreht und hob die Platte ab.

"Das wäre sehr schlimm, Adam. Sie nutzen sie nicht nur, um Welten zu archivieren – sie nutzen sie als Backup für Informationen über Anomalien, die sie eindämmen. Würden sie diese Großrechner verlieren, ginge ihnen wichtige Information zur Eindämmung …"

Die Platte glitt ab. Das Innere war fast leer; die Drähte waren herausgenommen worden und es blieb nur noch die Magnetscheibe der Festplatte zurück. Eine dichte, gewundene Siegelschrift war auf die Oberfläche geritzt. Sie sahen, dass die Platte langsam rotierte – obwohl es keine erkennbare Stromquelle gab.

"Was zur Hölle ist das?", fragte Adam.

Calvin griff Adam an der Schulter und zog ihn zurück. "Nicht anfassen", zischte er.

"Was ist es?"

"Es ist daevitischen Ursprungs." Die Stimme kam von hinten. Sie wirbelten herum – Calvins Hand griff nach der Pistole an seiner Hüfte, während Adam seinen Schraubenzieher wie ein Messer packte.

Die Kreatur stand über ihnen beiden; schmal und schlank, sie trug eine Robe aus schimmerndem Silber. Ihre Kapuze war über ihr Gesicht gezogen und verhüllte ihre Gesichtszüge. Trotzdem konnte Adam ein wenig von ihrer Haut erkennen – blass mit einer leicht smaragdgrünen Tönung. Sie hatte eine raue, schuppige Textur.

Calvin hielt die Pistole nur für einen Moment auf ihre Brust gerichtet, dann senkte er sie langsam. "Eine Bibliothekarin."

Adam senkte den Schraubenzieher. "Wir suchen die Archivarin."

"Sie ist nicht mehr hier.", informierte sie die Bibliothekarin.

"Wo ist sie?" Calvin runzelte die Stirn. "Und was zur Hölle macht daevitische Technologie in einem Foundation-Server?"

"Und, was zur Hölle ist ein Daevit?", fügte Adam hinzu.

"Sie hat ihren Pakt mit der Schlange gebrochen und an verbotenem Wissen teilgehabt. Sie hat sich selbst in eine Geschichte geschrieben, in die sie nicht gehört. Und wo sie jetzt ist … wenn ihr sie sucht", sagte ihnen die Bibliothekarin, "werde ich euch zu ihr bringen – nach unten."


Dann gingen sie hinab. Lange Treppen führten zu langen Ebenen mit endlosen Buchreihen, zu Kunstgalerien voller seltsamer und schrecklicher Werke und zu engen Gängen, in denen klimpernde Musik zu hören war. Jede Tür, an der sie vorbeikamen, war ein anderes Universum, das es wert war, gekannt zu werden; und noch weiter stiegen sie hinab. Adam wusste, dass die Zeit hier seltsam verging; er konnte nicht sagen, wie lange sie unterwegs oder wie lange sie an diesem Ort waren. Als er nach oben schauen wollte, stellte er fest, dass er die Oberseite der Bibliothek nicht mehr sehen konnte; und noch weiter stiegen sie hinab.

Nach einer Ewigkeit endete die Treppe. Ihre Füße trafen wieder auf Stein und die Stufen hinter ihnen verschwanden im Schatten. Die Dunkelheit war intensiv hier; sogar die Fackel der Bibliothekarin schien schwächer zu sein und weniger Licht zu werfen. Sie gingen für eine Weile durch diesen dunklen Ort, durch eine riesige Höhle, die von titanischen Steinsäulen gesäumt war, die sich in das Schwarz über ihnen erstreckten.

"Dies ist das Fundament der Bibliothek", hörten sie die Bibliothekarin sagen, die ersten Worte, die sie seit Jahrzehnten hörten. "Diese Säulen wurden in der Ewigkeit vor der Zeit von der Schlange selbst geformt. Alles Wissen ruht auf ihnen."

Adam hustete. "Eine Schlange hat das gebaut?"

Die Bibliothekarin sah in seltsam an. "Die Schlange wird in eurer Welt Schlange genannt, da sie sich außerhalb dieser Hallen so manifestiert. Hier drinnen und in der Dunklen Endlosigkeit hierunter nimmt die Schlange viele Formen an."

"Dunkle Endlosigkeit? Was ist das?"

"Du nennst die Schlange, wie du sie nennst, weil du sie so wahrnimmst, doch so ist sie nicht. Die Schlange ist die Offenbarung einer der universellen Aspekte der Realität: Information. Die Idee, dass Ideen überhaupt existieren oder dass alle Dinge innewohnende Wahrheiten haben." Sie machte eine Pause. "Hierunter ist die Leere außerhalb von Tod und Leben, das Nichts. Der stille Bruder der Schlange ist der Herr dieser leisen Vergessenheit. Alles, was sich dort hinwagt, hört auf zu existieren. "

Die Bibliothekarin blieb stehen und drehte sich zu ihnen um. "Dieses Fundament ist eine Barriere zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist. Jenseits dieser Türen", sie streckte eine Hand aus und vor ihnen konnten sie zwei riesige Bronzetüren durch die Dunkelheit erkennen, "ist die Quelle allen Wissens, das Zentrum des Fundaments, auf dem die Schlange die Bibliothek erbaut hat. In dieser Kammer sind drei Folianten, die nicht gestört werden dürfen. Sie sind grundlegend für das Universum und in der Tat für alle Universen. Ihr werdet sie erkennen, wenn ihr sie seht."

Calvin nickte. "Bevor wir hineingehen, möchte ich etwas zurücknehmen."

Die Bibliothekarin nickte langsam und zog ihre Robe zurück. Daraus nahm sie eine kurze Metallröhre, die auf ihrer gesamten Oberfläche mit Runen beschriftet war. "Als ihr uns dies vor all den Jahren brachtet, waren wir uns nicht sicher, ob ihr jemals zurückkehrt, um es einzufordern. Doch ihr seid nun sehr viel anders als damals, glaube ich." Die Bibliothekarin schaute den Zylinder sorgfältig an. "Es existieren ein paar Dinge, von denen unsere Bibliothek keine Kenntnis hat. Der Inhalt dieses Behälters ist solch eine Anomalie. Ich hoffe, er bringt euch Glück."

Adam nahm die Röhre und hielt sie in seinen Händen. Als er aufschaute, um zu sprechen, war die Bibliothekarin verschwunden. Die Fackel hing immer noch dort in der Luft, wo sie gewesen war. Die Türen standen vor ihnen.

"Nun", sagte Calvin, zog seine Pistole aus dem Seitenhalfter und überprüfte das Magazin, "los gehts."

Sie stießen die Türen auf und gingen hinein. Als sie über die Schwelle traten, fühlte Adam das gleiche Übelkeitsgefühl wie damals, als sie den Weg betreten hatten. Nachdem ein Moment vergangen war, öffnete er die Augen.

Sie standen auf einem Hügel, der mit grünem Gras bedeckt war. Über ihnen war ein blauer Himmel mit weißen Wolken. Unter ihnen war ein Tal und in der Mitte des Tals standen zwei Bäume. Unter einem von ihnen saß eine Frau in einem einfachen, weißen Kleid im Schneidersitz. Zu ihren Füßen lagen zwei Bücher. Ein drittes war in ihrer Hand und sie las, während sie leise auf einem roten Stück Obst kaute.

Die Frau bemerkte sie nicht, als sie eintraten. Sie hatte braunes Haar und trug eine Brille. Adam vermutete, dass sie in den Dreißigern war. Als sie näherkamen, konnte er graue Flecken an ihrem Haaransatz sehen. Das Buch in ihrer Hand hatte einen goldenen Rand, war in Leder gebunden und sah uralt aus. Auf der Vorderseite stand etwas in goldener Schmuckschrift, doch weder Adam noch Calvin konnten es erkennen. Als sie sich näherten, sprach Calvin zu ihr.

"Du bist die Archivarin?", fragte er.

Die Frau nickte.

Calvin nickte als Antwort. Er zog seine Waffe, richtete sie geradewegs auf ihre Stirn und feuerte drei Schüsse ab. Die Archivarin zuckte nicht einmal zusammen. Nachdem das Geräusch um sie herum verstummt war, hob sie langsam ihre Augen, um ihn anzusehen. Ihr Gesicht war frei von Einschusslöchern.

"Liest du, Calvin?", fragte sie.

Calvin nahm das Magazin aus der Waffe, steckte es in seine Tasche und zog ein weiteres aus dem Clip an seinem Gürtel. "Nein", antwortete er, "ich kann nicht sagen, dass ich in letzter Zeit viel Gelegenheit zum Lesen hatte." Er entsicherte die Waffe und richtete sie wieder auf sie. "Also, was ist das, irgendeine außerkörperliche Sache? Brauche ich heilige Kugeln dafür, vielleicht was aus Silber?" Er gab drei weitere Schüsse ab. Die Archivarin schaute nicht von ihm weg.

"Ich lese", sagte sie, schloss das Buch in ihrer Hand und legte es auf den Boden neben ein halb aufgegessenes Stück Obst, "tatsächlich sehr oft. Ich bin eine Schriftstellerin und der einzige Weg für eine Schriftstellerin, ihr Handwerk zu perfektionieren, ist das Schreiben und Lesen."

Sie lehnte ihren Kopf zurück gegen den Baum und sah ihm jetzt direkt ins Gesicht. "Weißt du, wieviel man durch das Lesen lernen kann? Ich weiß es. Es ist eine Menge. Tatsächlich kann man so viel durch das Lesen lernen, dass es fast keinen Grund gibt, noch irgendetwas anderes zu tun. Du kannst eine Milliarde Leben in Büchern leben. Du kannst alles in Büchern lernen, was es zu lernen gibt. Wusstest du zum Beispiel, dass es in dieser Bibliothek ein Buch gibt, das geschrieben wurde, um dem Leser beizubringen, wie er Kugeln durch seinen Körper dringen lassen kann, als ob sie gar nicht da wären? Ich weiß es. Ich las dieses Buch. Ich las alle Bücher."

Sie schloss die Augen und tippte mit dem Finger auf das dicke Buch neben ihr. "Als ich hörte, dass du den armen Felix getötet hast, hatte ich zugegebenermaßen Angst. Das Konzept des Todes ist für uns nun fremd und es ist so lange her, dass ich mich darum sorgen musste. Meine Aufgabe wird deutlich schwerer, wenn ich mich der Aussicht auf Sterblichkeit stellen müsste. Weißt du, ich bin eine Schriftstellerin und ich muss alles dokumentieren, was in der Foundation und auf der Erde passiert. Ich kann keines dieser Dinge tun, wenn ich tot bin."

"Ich kam hier herunter, weil ich dachte, ich könnte über das Geheimnis der Unsterblichkeit in einem dieser Bücher lesen. Und wie sich herausstellte, brauchte ich die Bücher nicht, nicht zuerst. Hast du gefühlt, dass die Zeit hier anders ist? Es ist ein Geschenk von der Schlange; du hast alle Zeit, um zu lernen, was du lernen musst, während du in der Bibliothek bist."

Sie lächelte. "Ich bin hier schon seit einer Weile."

Calvin seufzte. "Also liest du weiter, bis du herausgefunden hast, wie du unsterblich wirst?"

Ihre Augen öffneten sich. "Oh nein, bestimmt nicht. Ich habe es schon herausgefunden. Tatsächlich habe ich es schon getan."

Sie deutete auf die Bäume hinter ihr. "Diese Bäume sind besonders. Dieser hier ist der Baum des Wissens von Gut und Böse. Dieser dort, das ist der Baum des Lebens. Der Baum des Wissens gewährt Wissen und der Baum des Lebens gewährt Leben. Doch die Schlange ist schlau. Die Schlange machte diese Bäume und verfluchte sie. Du kannst nur von einem essen, wenn du vorher vom anderen gegessen hast. Das führt dann zu einem Paradoxon, nicht wahr? Wie isst du von dem einen, wenn du nicht davon essen kannst, bis du von dem anderen gegessen hast, was erfordert, dass du von dem ersten gegessen hast?"

Sie erhob sich aus dem Schneidersitz. "Ich bin schon seit einer sehr langen Zeit hier unten. Ich wusste, dass es hier irgendwo eine Antwort gibt, ein Geheimnis, das ich verpasst habe. Als ich merkte, dass es kein Geheimnis gab, hatte ich schon jedes Buch in dieser Bibliothek gelesen. Jedes Wissen, das hier enthalten ist, ist in mir enthalten."

Sie deutete träge auf den Baum des Wissens. "Ich habe mich einmal gefragt, warum dieser Baum keine Früchte trägt. Es ist, weil die Bibliothek die Frucht ist. Ich hatte sie bereits verzehrt.

Sie knackte mit ihrem Nacken und rollte die Schultern. "Ich wusste, dass die Schlange hier irgendwann herunterkommen wird. Die Schlange wusste, dass die einzigen Stücke der Frucht, die ich noch nicht verzehrt hatte, diese drei waren: Das Buch von Leben und Tod, Das Buch der Dinge, die gewesen sind, und Das Buch der Dinge, die sein werden. Ich stelle mir vor, es hätte ihr gefallen, dass ich sie nicht lese." Ihr Rücken krümmte sich und sie konnten etwas an ihrer Wirbelsäule knacken hören. "Es ist jetzt egal. Die Schlange ist die Hüterin der Bibliothek. Die Schlange weiß von allen Dingen in der Bibliothek. Ich weiß von allen Dingen in der Bibliothek. Ich bin die Schlange."

Sie sahen entsetzt zu, wie sich die Haut der Archivarin zu spalten begann; es fing von der Basis ihrer Wirbelsäule an und kroch ihren Rücken hoch. Ihre Augen traten aus den Höhlen und Blut rann aus ihr wie Wasser aus einem Schwamm. Ihr Mund öffnete sich wie bei einem Schrei, doch stattdessen erschien eine lange, gespaltene Zunge und dann der Anfang eines Mauls mit Fangzähnen. Mit einem feuchten, dicken Riss öffnete sich ihr ganzer Körper in der Mitte und eine riesige, sich windende Schlange erschien aus dem Inneren. Ihre Augen waren schwarze Schlitze und auf dem Kamm ihres smaragdgrünen Rückens schimmerten Edelsteine im ätherischen Licht der Wiese. Über ihrem Kopf schwebte eine spitze Silberkrone geschmückt mit einem dunklen Ouroboros.

Die Schlange drehte sich zu ihnen um, ihre Mundwinkel öffneten sich und wurden zu einem entsetzlichen Grinsen. Sie blinzelte und als sie es tat, konnten sie die Jadeaugen der Archivarin für einen Moment lang sehen.

"Es gibt eine Sache, die mich ärgert", sagte sie und erhob sich zu ihrer vollen, riesigen Höhe, "Es ist der Inhalt dieser Röhre, die du hältst, Adam Ivanov. Was für eine seltsame Sache, Dem, Das Dem Wissen Das Leben Schenkte, unbekannt zu sein. Ich muss es selbst herausfinden."

Das Maul der Schlange öffnete sich weit, ihre Fangzähne glänzten und sie stürzte sich auf Adam. Der junge Mann hatte nur einen Moment Zeit, um sich aus dem Weg zu ducken, als sich die Schlange umdrehte und ihm wieder folgte, wobei sie seine Füße knapp verfehlte, während er aus dem Weg rollte. Adam hörte das vertraute Knallen von Schüssen und sah Calvin auf den Hinterkopf der Schlange feuern. Die Schlange drehte sich um, ihre Augen waren wieder schwarz und sie senkte ihren Schwanz, wodurch Calvin fast zermalmt wurde.

"Ich denke, die Zeit ist abgelaufen, um ihr ins Gesicht zu schießen!" Adam rief, während Calvin nachlud. Adam kletterte auf seinen Füßen zurück, zog seine eigene Waffe und feuerte dabei mehrere erfolglose Patronen in die Seite des Monsters. Währenddessen bemerkte er, dass das beschauliche Tal um sie herum anfing auseinanderzufallen. Große Risse bildeten sich auf dem Boden, die das Land teilten und an manchen Stellen den Boden herabfallen ließen. In den freigelegten Löchern konnte Adam nur noch Dunkelheit sehen, die sich unter ihnen unendlich ausbreitete. Über ihnen verlor der Himmel sein Blau und wurde zu einem pathetischen Grauton. Die einzige Farbe auf der Welt waren die Edelsteine auf dem Rücken der Schlange und ihre schillernde Silberkrone.

Calvin feuerte wieder und wieder. Die Schlange stürzte sich auf ihn, als er geschickt aus dem Weg trat. Er erwischte den Rand der Krone, die wie eine Glocke läutete und die Luft um sie vibrieren ließ. Als er aufhörte, um sich zu stabilisieren, krachte der Schwanz der Schlange gegen ihn und ließ ihn über das graue Gras gleiten. Adam feuerte und die Kugeln prallten vom Rücken der Bestie ab.

Die Schlange drehte sich zu ihm um, ihre Zunge schoss zwischen den Fangzähnen hervor, die so groß wie er waren. Adam blieb stocksteif stehen, sein Körper erstarrt, und ließ seine Waffe fallen. Die Schlange rollte sich vor ihm zusammen, als wolle sie zuschlagen und er spürte den animalischen Drang seines Körpers, der ihn anflehte zu rennen, zu fliehen und alles zu tun, um sich zu schützen. Doch er tat nichts.

Dann hörte er Calvin von rechts schreien.

"Adam! Das Rohr! Öffne das Rohr!"

Seine Schockstarre war augenblicklich gebrochen. Mit einem schnellen Ruck und kräftigem Ziehen befreite Adam den Deckel von der Dose und öffnete sie in Richtung Boden. Er spürte ein plötzliches Gewicht auf der Röhre, als etwas Langes, Dickes und Schweres herausglitt.

Es war ein dunkler, glatter Holzschaft, in den Markierungen und Runen eingebrannt waren. In der Nähe seines Endes war ein dickes Metallband und vorn eine grimmige und bedrohliche Speerspitze. Adam schaute kurz darauf und erkannte die Worte "… ist der Ungläubige, gegen den die Göttlichkeit keine Macht …", bevor er sich wieder ducken musste, als die Schlange auf ihn zukam. Er drückte den Speer hinter sich und rief Calvin panisch zu.

"Hey, ich weiß nicht, was das ist, aber ich glaube nicht, dass es helfen wird!", sagte er. "Ich kann's nicht mal … fuck! Ich kann's nicht mal heben!"

Sofort begann sich die Dose, die er auf den Boden gestellt hatte, zu drehen und zu schütteln. Mehrere ineinandergreifende Abschnitte entfalteten sich und noch mehr Dosen schienen sich aus dem Nichts zu materialisieren. Als Adam sich von der kämpfenden Schlange entfernte, formte und faltete sich die Dose hinter ihm in ein mechanisches Gestell. Calvin bemerkte es zuerst und rief, um Adams Aufmerksamkeit zu erregen.

"Da, schau!" Er deutete auf das Gestell, während er seine Pistole nachlud. "Es ist eine Harpune! Leg ihn auf die Harpune!"

Adams Ungläubigkeit kostete ihn fast das Leben, als die Schlange von der Seite auf ihn zukam und ihn auf den Boden warf. Die Schlange schlug auf ihn ein, ihre Fangzähne fanden aber nur Erde, als Adam den Speer durch das Gras zog. Er hörte immer wieder das Krachen von Calvins Waffe, hielt aber seinen Kopf unten während er sich bemühte, um den zusammenbrechenden Boden unter sich zu manövrieren. Als er die Harpune erreicht hatte, die ein Chaos aus Zahnrädern, Riemenscheiben und Stahl war, hob er den Speer auf das Gestell und zog ihn nach hinten. Mit dem Speer an seinem Platz und der geladenen Harpune drehte er sich zur Schlange und erstarrte in Panik.

Die Schlange hatte Calvin fest mit ihrem Schwanz umwickelt und der ältere Mann baumelte unsicher über dem zerrissenen Boden unter ihnen. Die Schlange zischte, lächelte Adam wieder an und schüttelte Calvin leicht.

"Na, na", sagte die Schlange, "lass uns nicht so voreilig sein. Du hast nicht gedacht, dass ich erkenne, wie dies ausgehen würde, oder? Ich habe alles gelernt, was es zu lernen gibt, Adam. Ich habe Dinge gesehen, die dein Herz zu Eis werden ließen. Hörte Geschichten von so furchtbaren Schrecken, dass dich nur der Gedanke daran sofort töten würde." Ihre Augen fokussierten sich leicht. "Ich gebe zu, welche Magie auch immer ihr in dieser Waffe habt, sie war kompliziert. Ich war nicht in der Lage, sie vorher zu sehen, doch jetzt, wo ich es tue … nun, du weißt, dass es keine Rolle spielt, richtig?"

"Ich kann dich jetzt töten", knurrte Adam und zielte mit dem Speer auf das Gesicht der Schlange, "es würde nicht einmal eine Sekunde dauern."

"Selbst, wenn du könntest", sagte die Schlange, ihre Stimme klang wie Samt und Staub, "und du kannst es nicht, warum würdest du es wollen? Weißt du überhaupt, was du da tust? Weißt du überhaupt, was du versuchst zu erreichen?"

"Die Dreizehn Foundation-Aufseher töten", sagte Adam durch zusammengepresste Zähne und mit zittrigem Finger am Abzug.

"Warum?"

"Du hast das Universum verdorben, um es deinen feigen Wünschen anzupassen", spuckte Adam. "Du hast die natürliche Ordnung verspottet. Dein Einfluss ist ein Krebsgeschwür."

Die Schlange schien zu seufzen. "Fanatismus. Sogar mit all dem Wissen der Welt werde ich euch nie verstehen." Mit einem schnellen Ruck zermalmte sie Calvin und ließ ihn in die Leere fallen.

Adam stand regungslos da, seine Hand verkrampfte sich um den Griff der Waffe. Die Schlange begann sich auf ihn zuzubewegen.

"Du denkst, du bist die erste Person, die davon träumt, die niederträchtige und schreckliche SCP Foundation zu zerstören? Sei realistisch, Adam. Ich habe tausend Leben gelebt und noch tausend mehr geträumt. Ich habe gesehen, wie sich diese Welt immer wieder drehte und habe alles pflichtbewusst aufgezeichnet. Denkst du, dass du irgendetwas tun kannst, das ich nicht vorhersehe? Denkst du, es gibt irgendetwas auf der Welt, das zwischen mir und meiner Verpflichtung steht?" Sie schnippte mit dem Schwanz in Richtung Harpune. "Nimm das dumme Ding weg. Ich habe die Frucht vom Baum des Lebens gegessen. Ich kann nicht sterben, nicht jetzt, da ich …"

– Klick –

Mit einem Rauschen brauste der Speer durch die Luft auf die Schlange zu, die nah genug gekommen war, um sich nicht mehr rechtzeitig aus dem Weg winden zu können. Der Speer grub sich mit einem abscheulichen Knirschen in den Schädel der Schlange und das Monster schreckte zurück und schrie. Rauch ergoss sich aus der klaffenden Wunde auf ihrem Kopf, als sie aufschlug und Adam musste sich auf den Boden werfen, um nicht vom Schwanz der Schlange zerquetscht zu werden, der herumschwang und die Harpune plattmachte.

Die Welt um ihn herum begann zu vibrieren, zuerst langsam und dann intensiver, bis die Luft zu beben schien. Der Himmel wurde schwarz, dicke Bänder aus Licht ergossen sich aus den Rissen darin und der Boden unter ihm wogte und wirbelte und fiel schließlich hinunter. Das Letzte, was Adam sah, bevor er in die Dunkelheit getaucht wurde, war die Schlange, die sich gegen den fallenden Himmel abzeichnete und aus deren Gesicht ein glänzender silberner Pfeil siegreich hervorragte wie ein Schlangen-Einhorn.


Als Adam zu sich kam, fühlte er kühles Gras unter seinem Kopf. Sein Nacken schmerzte und seine Glieder wetterten missbilligend, als er sie bewegte, um sich aufzusetzen. Er rieb seine Schläfen und versuchte sich zu konzentrieren – wie lange war er gefallen? – aber öffnete erschrocken die Augen, als er in der Nähe heiseres Husten hörte. Ein paar Schritte von ihm entfernt lag Calvin, schweiß- und blutüberströmt, er sah zutiefst erschüttert aber nicht lädiert aus. Als sich ihm Adam näherte, drehte sich Calvin zu dem jungen Mann um und lächelte.

"Hey", sagte er und lachte durch blutige Zähne, "wir sind nicht gestorben."

Adam lachte. Er nahm sich einen Moment Zeit, um seine Umgebung zu überblicken und fand sich auf demselben grasbewachsenen Hügel wie zuvor wieder, aber der Himmel war wieder blau und das Gras grün. Seine Augen verfolgten einen blutigen Pfad bis zu einem der beiden Bäume auf dem Hügel, wo eine Frau in einem einfachen Kleid mit einem riesigen Speer durch ihren Schädel an einem von ihnen aufgespießt war. Ihr Gesicht war unkenntlich und ihr weißes Kleid war nun von ihrem eigenen Lebenselixier durchtränkt.

Da war eine Gestalt, die über ihr stand. Sie war groß und schlank, wie die Bibliothekarin, aber irgendwie simpler. Sie trug auch eine Robe, die ihr Gesicht bedeckte und die Gesichtszüge verhüllte, doch ihre Robe hatte ein viel leuchtenderes Grün. Die Gestalt war leicht gebeugt und von dort, wo er stand konnte Adam sehen, dass sie nicht die auf dem Speer aufgespießte Frau ansah, sondern den Speer selbst.

Adam half Calvin auf die Füße und zusammen gingen beide langsam und vorsichtig den Hügel hinauf und auf die Gestalt zu. Als sie sich näherten, bemerkten sie eine andere Gestalt, die sie nicht genau erkennen konnten und die hinter der mit der grünen Robe stand. Was auch immer diese Gestalt war, es tat ihnen weh, sie anzusehen und so vermieden sie es, auch nur einen kurzen Blick auf sie zu werfen. Als sie die Spitze des Hügels erreichten, drehte sich die Gestalt um und sah sie an. Sie konnten ihr Gesicht nicht sehen, doch etwas daran kam ihnen seltsam vertraut vor.

"Ah, ihr seid wach", sagte die Gestalt mit weicher und zarter Stimme. "Ich habe das Schlimmste befürchtet. Die Bibliothek enthält sehr viele Wahrheiten, aber wenig wird darüber gesagt, die Ebene zwischen Dem, Was Ist, und Dem, Was Nicht Ist, zu überqueren. Wenn ich mich nicht irre, ist dies das erste Mal, dass eine Person diese Grenze überquert hat und zurückkehrte. Das ist überhaupt keine leichte Aufgabe."

Die Gestalt in Grün deutete auf die dunkle Gestalt hinter ihr. "Zum Glück für euch scheinen diese Mächte entschieden zu haben, dass noch nicht die Zeit für euch ist, über diese Bande zu gleiten. Jedenfalls noch nicht." Sie tippte einen langen, behandschuhten Finger gegen ihren Kopf. "Ja, sehr selten."

Calvin hustete und fand seine Stimme wieder. "Wer bist du?"

Die Gestalt in Grün schien ihn nicht zu hören. "Dieses Ding, was ihr dort habt, ist ein wundersames Ding." Sie griff nach unten und legte eine Hand auf den Speer, der in einen der beiden Bäume eingebettet war. "Es ist etwas seltsam daran. Die Bibliothek hat beschlossen, es für euch aufzubewahren, doch wusste die Bibliothek nicht, was es war. Das ist in der Tat sehr selten."

Die Gestalt hielt für einen Moment inne. "Wisst ihr, was es ist?"

Sie schüttelten die Köpfe. Die Gestalt nickte. "Dies wird der Speer des Ungläubigen genannt. Es ist eine uralte Waffe, vielleicht sogar älter als diese Bibliothek. Legenden besagen, dass er geschmiedet wurde, als man beschloss, dass die ersten Gedanken die Allmacht leugnen sollen. Um allein gegen die unüberwindliche Macht zu bestehen. Es ist in der Tat sehr, sehr seltsam." Die Gestalt machte ein Geräusch, das ein Lachen gewesen sein könnte. "Tatsächlich kann sogar ich es nicht sehen. Wie seltsam."

Die Gestalt schaute zu Calvin. "Wie hast du es bekommen – jemand gab es dir, nicht?"

Calvin nickte.

Die Gestalt stellte sich wieder auf. "Nun, das ist merkwürdig."

Mit einer geschickten Geste streckte die Gestalt die Hand aus, zog den Schaft aus dem Baum und schob mit der anderen den gebrochenen Leichnam des Aufsehers vom Ende. Sie hielt den Speerkopf hoch zu ihrem Gesicht und untersuchte ihn genau. "Sehr, sehr seltsam. Ich fühle, dass dieser Gegenstand sich überhaupt nicht für mich interessiert."

Die Gestalt griff nach unten und zog die dünne Metalldose vom Boden und schob schnell den gesamten Speer hinein, der trotz der Längenunterschiede der beiden komplett in ihr verschwand. Die Gestalt drehte sich um und gab die Dose Adam, der die Hand ausstreckte und sie an sich nahm.

"Ihr wisst", sagte die Gestalt und wandte sich um, um die Frau anzuschauen, die zu ihren Füßen in einem Teich aus Blut lag, "ich kannte sie eine zeitlang. Als sie zuerst diese Hallen betrat, war sie nicht anders als einer von euch. Ihre Absichten jedoch – so rein sie auch gewesen sein mögen – führten sie zu diesem Punkt. Eure Überzeugungen machen euch zu bemerkenswerten Wesen, der endlosen Wunder und Schrecken fähig."

Sie schaute sie noch einmal an und Calvin wurde sich bewusst, dass sie beobachtet wurden. "Ich frage mich, wohin euch eure Überzeugungen führen."

Es gab einen blendenden Blitz aus Licht und eine Explosion aus Hitze und einen Moment später standen sie wieder im Wald.




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