Der Zwölfte


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ANDERSWO

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In einem Raum ohne Licht oder Geräusche saß ein Mann an seinem Schreibtisch und las. Es gab eine Zeit, in der Dunkelheit ihn behindert hätte – aber diese Zeit war vorbei. Nun fand er sie beruhigend. Farben lenkten ihn von seiner Arbeit ab.

Er blätterte zur nächsten Seite des Berichts – obwohl er die Worte nicht 'sehen' musste, um sie zu lesen. Alte Angewohnheiten, nahm er an. Mit jedem weiteren Satz machte seine Ruhe Platz für kalten, berechnenden Vorsatz.

Die Tür ging auf. Eine Klinge aus Licht durchschnitt den Raum und erleuchtete den Mann und seinen Schreibtisch. Sie schnitt über seinen Unterarm und hob eine alte Brandwunde hervor. Er bewegte instinktiv seine Hand, um sie zu bedecken.

Er schaute hoch. Eine Frau stand in der Tür, zögernd. Erst dann bemerkte er, dass sein Gesicht vor Wut verzerrt war.

Er zwang sich zu entspannen, bestätigte sie mit einem Nicken und winkte sie herein.

Sie ging zwei Schritte nach vorn und sprach: "Hast du's gehört?"

"Ja." Er schloss den Bericht. "Wissen wir schon wer?"

"Noch nicht." Sie wollte sich nähern, blieb jedoch stehen – als ob Wind sie zurückdrängte. "Wer auch immer den Gipfel gefunden hat, konnte das nur mithilfe von Mnesika, und es gibt nur einen begrenzten Vorrat. Wir suchen."

"Und der Vertrag?"

Die Frau antwortete nicht.

Er seufzte. "Felix?"

"Wir haben ihn nicht gefunden. Wenn er fiel oder gestoßen wurde, könnte er noch immer noch fallen. Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen."

Der Mann stand auf und fixierte seinen Blick auf seine Fingerknöchel. "Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. Ich verstehe nicht, wer so etwas tun würde. Wer so etwas tun könnte. Wussten sie überhaupt, was sie getan haben?" Er schaute zu ihr hoch. "Das ist schlimm."

Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. "Der Rest des Rats wurde alarmiert. Ich bin nur gekommen, um sicherzugehen, dass du es weißt." Sie ging einen weiteren Schritt vorwärts; ihre Hand fiel auf seinen Schreibtisch. "Vielleicht … vielleicht, wenn wir nur …"

"Was auch immer du sagen wolltest, tus nicht." Seine Stimme war flach, etwas zitterte unter der Oberfläche. "Wer auch immer sie sind, sie haben Glück."

Sie runzelte die Stirn. Er konnte die Müdigkeit in ihrem Gesicht sehen. Da war etwas, was sie ihm erzählen wollte; da war etwas, was sie ihm sagen wollte. Stattdessen schloss sie nur ihre Augen und nickte.

Er griff nach ihrer Hand auf dem Schreibtisch und nahm sie in seine eigene. Seine Handfläche war wie ausgetragenes, rissiges Leder. Ihre war wie Eis. "Ich weiß, dass du müde bist. Ich weiß. Gott, ich weiß. Ich bin …"

Er zwang sich selbst aufzuhören. Er nahm einen Atemzug, drehte ihre Hand und fuhr entlang der Narben auf ihrem Handgelenk und Unterarm. Sie sah jetzt so zerbrechlich aus. "Wir können jetzt nicht aufhören. Wir können jetzt nicht aufgeben."

Ihre Augen waren immer noch geschlossen. "Ich weiß."

"Geh jetzt. Geh zurück in den Garten. Du kennst den Weg hinein. Du wirst dort sicher sein. Ich werde die Task Forces rufen und wir werden herausfinden, was das ist. Ich rufe dich an, wenn es klar ist."

Sie drückte seine Hand. Endlich öffneten sich ihre Augen. "Was ist mit dir?"

Er lächelte. "Ich muss mir nur über ein paar Dinge klar werden und dann werde ich dich holen."

Er ging um den Schreibtisch herum und drückte sie; sie drückte ihn zurück. Nach einem kurzen Moment der Stille drehte sie ihren Kopf zu seinem. "Ich …"

Das Telefon klingelte.

Er verzog das Gesicht. Sein Griff um sie lockerte sich. "Es tut mir leid. Ich …"

Sein Ausdruck verhärtete sich. Sie ließ ihn los und nickte. "Ich weiß." Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ließ ihn allein.

Er griff nach dem Telefon.


JETZT

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"Der Buchhalter." Anthony fand den Titel amüsant. "Haben sie nur einen?" Olivia lachte. "Das ist viel Mathe. Er muss eine Art Über-Nerd sein." "Ein schrecklicher Nerd", sagte Adam, ohne dass sich seine Augen vom Laptop lösten. Dieser Kommentar zog leere Blicke von Olivia, Anthony und Calvin auf sich.

"Ihr wisst, wie ein schrecklicher Wolf? Von D&D? Oder Game of Thrones? Oder …?" Adam schaute hoch. Er machte sofort ein finsteres Gesicht und ging dann gleich wieder zum Tippen über. "Fuck, ihr seid alt."

Anthony nahm einen Zug von seiner Zigarette und musterte Calvin von der anderen Seite des Raums aus. "In Ordnung. Also, wie willst du all diese Arschlöcher finden? Ich bezweifle, dass sie einfach in der örtlichen Kneipe rumhängen. Sie verstecken sich wahrscheinlich an einem Ort mit genug anomalem Schutz, um Mordor wie das Auenland aussehen zu lassen." Er warf Adam einen Blick zu, der ohne den Kopf zu heben anerkennend zwei Finger hob.

Calvin nickte. "Ja. Da wird es knifflig. Unser mysteriöser Agent schrieb viel über die Aufseher und nur wenig darüber, wo sie leben oder wo sie sich verstecken könnten, aber vieles davon ist situationsbedingt oder möglicherweise nicht hilfreich. Deshalb suchen wir zuerst den Buchhalter. Er ist der, der die Miete zahlt. Tötet ihn zuerst und die Liste der Verstecke wird umso kleiner."

Olivia lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. "Perfekt. Wir müssen also nur diesen einen finden. Der erste dieser Götter auf Erden, der weiß, dass wir hinter ihm her sind. Hast du überhaupt einen Plan?"

Calvin zeigte nach rechts. "Ich hab Adam."

Adam lehnte sich von seinem Computer weg. "Oh ja, richtig. Ja, ich kann ihn finden."

Anthony schnaufte. "Das wird gut."

Adam ignorierte ihn: "Der Buchhalter ist soweit wir wissen ein mathematisches Wunderkind, das sich auf statistische Analysen spezialisiert hat. Er ist ein Datenschwamm – er saugt Information auf, analysiert sie und findet versteckte Zusammenhänge, die sonst niemand sehen kann. Alles, was er tut, tut er basierend auf diesen unsichtbaren Beziehungen. Sein gesamter Kurs – was er trägt, was er trinkt, seine täglichen Aktivitäten – das alles basiert auf Vorhersagen, die er aus diesen Zusammenhängen ableitet."

Er drehte seinen Bildschirm um, um ihn den anderen zu zeigen. Mehrere Tabs waren in seinem Browser geöffnet; der aktuelle war eine Grafik der derzeitigen Aktienkurse. "Jetzt muss ich euch wohl nicht mehr sagen, was eine Person wie diese in den Aktienmärkten tun könnte. Er analysiert Daten schneller als Computer; er kann den Anstieg und Fall der Fortune-500-Liste mit einem beschissenen Zugfahrplan vorhersagen. Und obwohl seine Fähigkeit, diese Zusammenhänge zu sehen, anomal ist, sind es die Zusammenhänge selbst nicht – sie sind für jeden anderen einfach unmöglich zu verstehen oder zu entschlüsseln."

"In Ordnung", sagte Anthony. "Aber das sagt uns nicht, wie-"

"Zugfahrpläne", Olivia fiel ihm ins Wort. Sie konzentrierte sich auf einen ungeöffneten Tab auf dem Bildschirm. "In Tokio?"

Adam grinste und nickte. Er öffnete den Tab und enthüllte einen übersetzten Zugfahrplan. "Das wurde im Tagebuch erwähnt. Ich lasse Alexander schon seit Wochen Zahlen knacken."

"Alexander?" Anthony kniff die Augen zusammen.

"Das ist der Name, den er seinem Laptop gegeben hat", antwortete Calvin. "Was hast du gefunden?"

"Grundsätzlich besteht eine Art merkwürdiger Zusammenhang zwischen internationalen Immobilienmärkten und Zugfahrplänen, die in Tokio am fünften Tag jedes dritten Monats gedruckt werden", sagte Adam, "und so wohlüberlegt, wie dieser Kerl ist, würde ich Geld darauf wetten, dass er selbst nach Tokio reist, um diese Pläne an dem Tag zu prüfen, an dem sie gedruckt werden."

"Warte mal." Olivia lehnte sich vor, um den Bildschirm näher zu betrachten. "Du sagtest, dass dieser Kerl fähig ist, Vorhersagen anhand von Zusammenhängen zu machen, die sonst keiner sieht, richtig? Würde das nicht dazu führen, dass er merkt, dass er nicht da sein sollte, wo wir ihn erwarten?"

Adam legte den Kopf schief. "Fragst du mich, ob er in die Zukunft sehen kann?"

"Nun, ja. Ist das nicht im Grunde das, was es ist?" Olivia wandte sich vom Bildschirm weg und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Adam. "Wenn er auf magische Weise Zusammenhänge erkennen kann, die sonst niemand sieht, ist es dann nicht möglich, dass ihm eine Information, auf die er gestoßen ist, sagt, dass wir kommen? Oder sogar wer wir sind?"

"Das glaube ich nicht", sagte Calvin. "Ich meine, die Zahlen können falsch sein."

Adam schüttelte den Kopf. "Nein, sie sind – naja, meistens richtig. Die Zahlen können nicht falsch sein. Sie sind nur Daten. Er kann aber trotzdem nichts Genaues wissen. Er macht nur Vorhersagen und diese Vorhersagen haben einen unterschiedlichen Grad an Gewissheit. Das ist das Problem hier: Er kann wissen, dass es heute eine 75-prozentige Chance gibt, dass ihn jemand angreift. Er kann wissen, dass es eine 30-prozentige Chance gibt, dass es fünf Leute sein werden, eine 25-prozentige Chance, dass es vier Leute sind, eine 20-prozentige Chance, dass es drei Leute sind … und so weiter."

Anthony massierte seine Stirn. "Schau, müssen wir wirklich einen Wahrscheinlichkeitskurs absolvieren, um den Typen zu töten? Ich verstehe, dass er schlau ist, aber soweit ich weiß, halten Zugfahrpläne keine Kugeln auf."

"Aber Kugeln werden niemanden aufhalten, der nicht einmal da ist", antwortete Olivia. Sie wandte sich wieder zu Adam. "Er kann also im Grunde genommen äußerst komplexe Systeme vorhersagen, die auf scheinbar zufälligen Datenstücken basieren. Richtig?"

Adam nickte. "Richtig."

Olivia grinste alle sehr schief an. "In diesem Fall denke ich, weiß ich genau, wie man ihn schlagen kann."

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Das schwarze Auto hielt an der Seite einer Straße des Finanzviertels von Tokio an. Der Mann, der ausstieg, war so außergewöhnlich unauffällig, dass unter normalen Umständen selbst sein Mangel an Auffälligkeit keinen Kommentar hervorbrachte.

Sein hochwertiger, maßgeschneiderter Anzug und die dunkle Brille passten gut zu den Wohlhabenden in der Region; seine Haut hatte einen bernsteinfarbenen Goldton. Obwohl er sich der Zeit bewusst war, schaute er auf seine Armbanduhr, schloss die Autotür und ging drei Schritte den Bürgersteig hinunter. Das Fahrzeug fuhr davon.

Der Buchhalter war ein Mann von Präzision. Er schlief exakt sieben Stunden; wenn er aufwachte, war es zur vollen Stunde. Jeder Schritt war kalkuliert – jeder Tritt war vorgegeben. Er machte keine Fehler, ging kein Risiko ein und berücksichtigte jede bedeutende Möglichkeit.

Deshalb reagierte er sofort, als er das erste Mal bemerkte, dass der junge Mann von der anderen Straßenseite auf ihn zukam. Der Mann war in den Zwanzigern; kurzes Haar, offener Mantel — slawisch, wenn er wetten müsste. Aufgrund der Farbe der Schuhe des Mannes stellte der Buchhalter fest, dass er gekommen war, um ihn zu töten. Aufgrund des derzeitigen Marktpreises von Pfirsichen stellte der Buchhalter fest, dass er nicht allein war.

Er ging einen Schritt nach links. Eine Menge an Geschäftsleuten war gerade aus einem nahegelegenen Restaurant aufgetaucht; das stellte mindestens fünfzehn Leute zwischen ihn und den möglichen Attentäter. Einer der Fünfzehn war Japaner – Mitte 50. Er ging mit einem leichten Hinken und bekam eine Glatze. Dass bedeutete, dass sich der zweite Attentäter im dritten Stock des kleinen Weinladens auf der anderen Straßenseite befand.

Der Buchhalter richtete seine Uhr aus, um Sonnenlicht von ihrer Oberfläche in das Fenster zu reflektieren. Der Scharfschütze war kurz geblendet. Nun, da ihn keiner der beiden Attentäter sehen konnte, ging er in ein nahe gelegenes Bürogebäude.

"Fuck. Geblendet", knurrte Anthony in sein Mikrofon. "Siehst du ihn?"

Adam kämpfte sich den Weg durch die Menge und schüttelte den Kopf. "Nein. Hab' ihn verloren. Er erwartet alles, was wir tun. Ich denke, er wird in dem Gebäude mit dem blauen Glas sein. Bin auf dem Weg."

Olivia schaute um die Ecke und berührte ihren Ohrhörer. "Calvin, soll ich mit ihm reingehen?" Es gab eine kurze Pause, bevor Calvin antwortete: "Ja."

Olivia lief auf das Finanzbüro zu. Adam drängelte sich durch mehrere Leute, um ihr zu folgen.

Das Innere war eine weitläufige dreistöckige Lobby, die von Marmor umrahmt war. Eine große Treppe führte zu jeder Ebene und Glasaufzüge boten einen alternativen Weg. Adams Augen huschten zwischen den verschiedenen Stockwerken hin und her.

"Welches Stockwerk?", fragte Adam.

Sie riss Adam am Arm und zog daran. "Keins. Hier lang."

Die beiden machten sich zum anderen Ende des Gebäudes auf. Ein Notausgang führte zu einer Gasse dahinter. Olivia stieß die Tür auf und ging durch; Adam folgte ihr. Sobald sie nach draußen traten, wurden sie mit gedämpftem Gewehrfeuer begrüßt.

"Scheiße!" Olivia drückte Adam zwischen zwei Müllcontainer; sie folgte ihm bald und ging in die Hocke. Sie klappte ihren Schminkspiegel auf und hielt ihn hoch, wobei sie das Spiegelbild nutzte, um die Gasse vor sich zu durchsuchen.

Zwei Männer in Anzügen standen dort, wo die Gasse in die Straße mündete. Zwischen ihnen war der Buchhalter, der auf seine Uhr schaute.

"Hm. Das wird funktionieren", kündigte er an. "Wir haben ungefähr eine Minute, bevor ich gehe, um meinen Zug zu erreichen. Also, was kann ich für Sie tun?"

Olivia betrachtete die Reflexion in ihrem Spiegelbild. Adam blinzelte und runzelte die Stirn. "Er steht einfach im Freien", flüsterte er. "Wir könnten einfach …"

Sie griff wieder nach ihrem Ohrhörer. "Calvin. Machen wir das?"

Calvins Antwort kam fast sofort: "Nein."

Olivia schaute zu Adam. "Lass ihn weiterreden."

Adam nickte. Er drehte sich zur Seite des Müllcontainers und brüllte: "Sie sind der Buchhalter, nicht wahr?"

"Wissen Sie, ich habe eine Berufsbezeichnung. Und einen Namen, wenn Sie lieber …"

"Wir wissen, wer Sie sind", rief Adam zurück. "Wir sind hier, um Sie zu töten."

"Ja, das ist mir bewusst. Nun, hier bin ich. Machen Sie schon. Versuchen Sie es."

Olivia deutete Adam an weiterzumachen.

"Hm. Aber wissen Sie, warum wir Sie töten wollen?"

"Neunundzwanzig Sekunden. Sie sind höchstwahrscheinlich diejenigen, über die ich erst heute Morgen erfahren habe. Sie sind verantwortlich für die Kündigung unseres Vertrags mit dem Tod. Ich vermute, Sie möchten mich wegen irgendeiner ideologischen Haarspalterei umbringen."

"Eine ideologische Haarspalterei?" Adams Stimme war fast eine Oktave höher. Olivia griff nach seiner Schulter. "Sie wissen, auf wie vielen Leichen Ihre Organisation aufgebaut ist? Wie viele Leute jeden Tag sterben, nur damit ihr Arschlöcher den Laden schmeißen könnt?"

"Ich habe noch nie jemanden getötet. Ich bin mir natürlich sicher, dass Sie ein paar getötet haben. Wie viele? Ein Dutzend? Hundert? Haben Sie sich überhaupt die Mühe gemacht, einen ihrer Namen in Erfahrung zu bringen?", fragte der Buchhalter. Er schaute wieder auf seine Uhr. "Waren darunter Kinder? Bin nur neugierig."

Adam wehrte sich gegen Olivias Griff. Sie drückte ihn fest. "Tus nicht", flüsterte sie. "Er versucht, dich wütend zu machen."

"Scheiß auf ihn", grummelte Adam. Er umgriff seine Pistole fest genug, um das Blut aus seinen Knöcheln zu pressen. "Als ob er noch niemanden getötet …"

"Nun, wenn Sie nicht versuchen, mich zu töten, muss ich wohl nur früher gehen", sagte der Buchhalter. Wieder sah er auf seine Uhr. "Sieben Sekunden."

"Wir werden unsere Chance verpassen", zischte Adam. "Ich werde …"

"Nein, Calvin sagte …"

Adam sprang bereits auf seine Füße – und Olivia sprang auf, um ihn aufzuhalten. Ihre Arme schlugen gegen seine Beine und ließen ihn einknicken. Im nächsten Moment erklang ein ohrenbetäubender Knall, der die Gasse füllte. Ein faustgroßer Krater erschien im Müllcontainer hinter ihnen – genau dort, wo Adams Kopf gewesen war.

Rauchschwaden kamen aus dem Loch. Adam und Olivia starrten es beide an, ihre Rücken waren gegen den anderen Müllcontainer gedrückt.

"Scheiße", flüsterte Adam.

"Scharfschütze", antwortete Olivia.

"Einer", verkündete der Buchalter. "Alle runter."

Mehrere weitere Knalle hallten durch die Straße – begleitet von entfernten Schreien. Olivia und Adam hörten das Geräusch von zersplitterndem Glas; auf die knallenden Geräusche folgten zusätzliche Schüsse.

Anthonys Stimme dröhnte über den Ohrhörer. "Ich gebe dir Deckung. Geh."

Olivia und Adam rannten zur Tür. In der Ferne konnten sie Sirenen hören – zusammen mit den quietschenden Reifen des Autos des Buchhalters, als es davonfuhr.

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Manchmal fragte sich der Buchhalter wie es war, in Ungewissheit zu leben; in einer Welt zu existieren, in der man nicht das Meiste anhand der Daten, die vor einem liegen, vorhersehen könnte. Er stellte sich vor, dass es ein furchtbarer, unerträglicher Zustand war – wie in einem Albtraum gefangen zu sein, in dem nichts Sinn ergibt. Der Gedanke löste bei ihm oft enormes Mitleid aus.

In diesem Moment fühlte er kein Mitleid.

Als er sich dem Bahnsteig näherte, schaute er auf seine Uhr und ging in Gedanken noch einmal durch die Gasse. Er hatte die Ereignisse, die sich dort abspielten, dreiundzwanzig Mal wiederholt; jedes Mal ergab nichts davon einen Sinn. Nichts davon passte zum Modell.

Er sagte die Ankunft der beiden Attentäter richtig voraus; er sagte auch die Ankunft ihres Kameraden richtig voraus. Doch seine Modelle hatten gezeigt, dass es überwältigend wahrscheinlich war, dass, wenn er im Freien stand und sie ansprach, mindestens einer auftauchen und sofort von seinem platzierten Scharfschützen niedergeschossen würde.

Nichts war wirklich sicher, das wusste er. Jede Regel hatte ihre Ausnahme; jedes Absolute verbarg einen Anflug von Zweifel. Alles, was er verstand, war nur eine Annäherung an etwas, was er nicht verstand.

Aber die Wahrscheinlichkeit, dass beide Attentäter unversehrt aus diesem Konflikt hervorgingen, war nach seinen Berechnungen mit einem Tornado vergleichbar, der ein Kartenspiel zu einem Kartenhaus arrangieren würde – und dann wieder in ein geordnetes Kartenspiel. Es war jenseits von 'unwahrscheinlich'; es war nicht weniger als wundersam.

War es das, was er gesehen hatte? Ein Wunder der Wahrscheinlichkeit? Ein Ereignis, das so selten und nahezu unmöglich ist, wie das Auftauchen des Lebens?

Er stieg in den Zug und zeigte seine Fahrkarte vor. Er ging in eins der Privatabteile, schob die Tür beiseite und nahm seinen Platz ein. Als die Stadt anfing vorbeizuziehen, durchlief er das Modell zum vierundzwanzigsten Mal und entschied dann, dass er es einfach loslassen musste.

Die Schiebetür klapperte auf. Ein Mann nicht ganz mittleren Alters mit dunklem, schwach grauem Haar trat ein und nahm den Platz gegenüber ein. Er griff beiläufig in seine Manteltasche und zog einen Revolver heraus, der genau auf das Herz des Buchhalters zielte.

Der Buchhalter starrte ihn verständnislos an. Das war nicht möglich. Das konnte nicht möglich sein.

Zwei Wunder? An einem Tag?

"Wie?", krächzte er.

Calvin griff mit seiner anderen Hand in die Tasche und zog eine kleine, unscheinbare Münze heraus. Er setzte sie auf seinen Daumen und schnippte sie hoch, bevor er sie aus der Luft schnappte. Dann zeigte er sie dem Buchhalter.

Zahl.

Die Zahnräder in seinem Kopf begannen sich zu bewegen. "Sie …"

"Sie sind gut darin, komplizierte Systeme vorauszusagen", sagte Calvin, "jedoch nur, wenn sie sich so verhalten, wie sie es sollen. Sie können sie nicht voraussehen, wenn alle ihre Entscheidungen von Natur aus unvorhersehbar sind."

"Aber woher wussten Sie, dass …"

"Wir haben Sie sagen hören, dass Sie einen Zug erwischen müssen. Es gab zwei Bahnhöfe in der Nähe. Also habe ich eine Münze geworfen." Der Buchhalter schloss seine Augen und lächelte. "Vollkommen unzivilisiert. Sie hatten Glück." "Ja. Aber es hat funktioniert, nicht wahr?"

"Das hat es." Seine Augen öffneten sich; er konzentrierte seinen Blick auf Calvin. "Nun. Nun haben Sie mich. Was wollen Sie?" Calvin legte ein Stück Papier vor ihn hin und zog einen Stift heraus. Er schob sie über den Tisch zum Buchhalter. "Namen", sagte er. "Aufenthaltsorte. Von allen anderen."

Der Buchhalter seufzte. "Sie möchten, dass ich die Namen und Aufenthaltsorte der anderen Aufseher preisgebe? Wollen Sie auch ihre PIN-Nummern?"

Calvin klopfte mit dem Revolver auf den Tisch. "Das ist wohl nicht der richtige Zeitpunkt, mir dumm zu kommen."

Der Buchhalter lehnte sich in seinen Sitz zurück und lockerte seine Krawatte. "Das werde ich nicht. Sie haben einen komischen Trick benutzt, um mich in eine gefährliche Lage zu bringen und das ist schlau. Aber nun, wo wir hier sind, weiß ich genau, wie das hier ausgehen wird. Warum sollte ich meine Kollegen in Gefahr bringen, wenn Sie mich sowieso umbringen?"

Calvin zuckte mit den Schultern. "Es gibt einen Unterschied, ob man erschossen oder hinter diesen Zug geschleift wird."

Der andere Mann schluckte. "Das ist barbarisch – und so oder so, es ist nicht besonders wahrscheinlich. Wir sind nicht weit von unserem Ziel entfernt und es werden zu viele Menschen in der Nähe sein. Die Art, wie ich sterbe, ist am Ende dieser Waffe."

"Das beunruhigt Sie nicht?"

Der Buchhalter fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. "Natürlich tut es das. Ich habe schon lange nicht mehr über das Sterben nachgedacht und jetzt hier zu sitzen und darauf zu schauen ist geradezu schrecklich. Aber ich werde einen Terroristen nicht um Gnade anflehen." Er lehnte sich nach vorn. "Verstehen Sie wirklich, was Sie tun?"

Calvin antwortete nicht. Der Aufsehe seufzte.

"Fahren Sie fort. Wir wissen beide, was Sie als nächstes tun werden."

Calvin drückte den Abzug.




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