Die Neunte


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DAMALS

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Aaron Siegel saß im Hinterzimmer eines geschäftigen somalischen Lagerhauses. Durch die Ritzen in den Jalousien konnte er Leute sehen, die sich hin- und herbewegten; die ersten schwachen Atemzüge der neuen Insurgency. Er fand den Namen lächerlich – das taten die meisten – aber lächerlich war ein Teil der Gleichung. Lass sie glauben, ihr seid inkompetent. Lass sie glauben, dass es kein Theater ist. Ihr Fußabdruck war klein, wuchs jedoch stetig. Sie hatten bereits drei Foundation-Lagerhäuser in Afrika überfallen und ein anderes Team bereitete sich auf einen dritten Überfall vor. Lass sie glauben, dass es kein Theater ist.

Doch Aaron Siegel saß unbequem. Eine Woche vorher wurde ihnen zugesichert, dass die Arbeiten an einem neuen Standort in Italien begonnen hatten. Es gab kein Schild an der Tür, das ihn als Foundation-Standort auswies, doch all die Zeichen waren da. Zur selben Zeit wurden drei nicht gekennzeichnete Schiffe gesichtet, die die Gewässer nahe ihrer somalischen Hauptquartiere patrouillierten. Berichte von Task Forces, die in die Vereinigten Staaten entsandt worden waren. Dunkle Flugzeuge über der Antarktis.

Er saß unbequem, weil dies noch nicht die erstickten letzten Atemzüge einer sterbenden Organisation waren. Frederick Williams war tot, ausgelöscht vom Finger Gottes selbst. Der Großteil des O5-Forschungsteams, die oberste Führungsebene der jungen Foundation, war entweder im darauffolgenden Chaos ums Leben gekommen oder zusammen mit Aaron und Arians übergelaufen. Viele andere hatten aus verschiedenen ideologischen Gründen ihre Posten verlassen, um sich ihnen anzuschließen. Der Chaos Insurgency. Doch auch mitten in ihrer größten Niederlage machte die Foundation weiter. Ihre Operationen schienen unberührt.

Und Aaron Siegel saß unbequem.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte sein durchdringendes Geräusch und Aaron bewegte sich, um heranzugehen. Er zögerte; das Telefon schien ihm immer nur schlechte Nachrichten bringen zu wollen. Eine weite Lieferung ist verloren. Foundation-Standorte erhöhen die Sicherheit. Mehr Standorte im Aufbau. Die Angst des Versagens, vor der Abrechnung seiner Sünden, konnte er für einen Moment lang aufhalten.

Aber Aaron Siegel ging an das Telefon.

"Kannst du hören, wie der schwarze Wolf den Mond anheult?", sagte Arians, sein rauer Tenor war kaum über die schlechte Verbindung hörbar.

"Vincent", Aaron seufzte vor Erleichterung. Die Stimme seines Freundes war ein willkommener Aufschub, trotz ihres Tons. "Geht es dir gut?"

"Ich habe dir tausendmal gesagt", knurrte Arians durch den Hörer, "beende den Satz. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme. Wir dürfen nicht gefährdet werden, besonders jetzt nicht."

Aarons Herz rutschte leicht herunter. "Neuigkeiten?"

Arians hielt inne. "Sie bewegen sich nach Südamerika. Die Broken-God-Fanatiker sind an einigen Aktivitäten dort beteiligt. Die Foundation verfrachtet massenweise."

"Wie viele?", fühlte sich Aaron fragen.

"Zweihundert, vielleicht dreihundert Mann", sagte Arians, "und darin sind noch nicht einige andere Mitarbeiter enthalten, die sie von anderen Standorten in der Region abziehen. Es eskaliert vollständig, Aaron."

Aaron sank in seinen Stuhl. Der Hörer des Telefons fühlte sich schwer in seiner Hand an und er hörte das entfernte Gackern, das in Wellen über ihn fegte. Wie konnte das passieren? Sie sollten in Trümmern liegen.

"Aaron?” Arians Stimme schockierte ihn und brachte ihn sofort wieder zurück in die Realität.

"Ja, ja, tut mir leid, ich habe nur … Vince, wie kann das passieren? Was haben wir falsch gemacht?"

Arians war für einen Moment still. "Vielleicht war Sophia einfallsreicher, als wir erwartet hatten. Schau, Aaron", er nahm einen tiefen Atemzug, "alles, was ich weiß, ist das, was uns gesagt wird und was uns gesagt wird ist, dass die Foundation sich nach Mexiko in Bewegung setzt. Wir müssen unsere Stiefel auf den Boden stellen, um ihre Versorgungsleitungen zu unterbrechen."

Aaron nickte langsam zu niemandem außer sich selbst. "Ja … ja, du hast recht. Natürlich. Wir werden so bald wie möglich Transporte für unsere Agenten in der Region arrangieren. Vince", begann er zögernd zu sagen.

"Ja?"

"Ich … ich denke, ich möchte mit dir zusammen diese Sache angehen. Ich will nach San Marco."

"Du … warum?"

Aarons Augen senkten sich zu seinem Schreibtisch. In dessen Mitte lag eine kleine Papierrolle, die mit einem kleinen Faden zusammengebunden war. "Ich will sie sehen. Ich muss sie nur wiedersehen."

"Sie sind nicht dort. Unsere Agenten in der Region haben uns bestätigt, dass …"

"Ich will einfach … halt mich bei Laune, Vince. Ich überlasse Felix das Kommando. Er kann sich um die Dinge hier kümmern, während wir weg sind. Ich werde nicht mehr als zwei Wochen weg sein."

Aaron konnte Arians Unzufriedenheit über den Kontinent hinweg hören. "Na gut. Aber du bleibst bei mir und meiner Einheit und kommst dem, was in La Paz passiert, nicht zu nahe."

Aaron stimmte zu und legte dann auf.

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In dieser Nacht träumte Aaron Siegel viele Träume.

Er steht neben Frederick Williams, nachdem sie die Türen zu einem Gebäude geöffnet haben, an dem "Standort-17" steht. Er kann Arians neben sich sehen, strahlend.

Er erhält einen Bericht über und kategorisiert eine seltsame Statue, die in einer uralten südamerikanischen Ruine entdeckt wurde. Er ist dort, als der Lastwagen, der sie eindämmt, durch das Tor rollt. Er kann schwach rote und grüne Farbe sehen.

Er spricht mit Sophia Light, die sich selbst Sophia Nazarener nennt, bei einem Seminar von Williams. Sie strahlt Zuversicht aus und als sie ihn am Arm berührt, spürt er, wie sich seine Haare aufstellen. In dieser Nacht ficken sie wie die Tiere. Er fragt nach den Narben an ihren Handgelenken und an ihrer Seite. Sie antwortet nicht.

Er steht bei Frederick Williams und dem Rest des Omega-5-Forschungsteams. Sie reichen ein Glas Wasser herum, von dem jeder einen Schluck nimmt. Arians lacht. Aaron sagt ich wette du könntest ewig leben, wenn du das Zeug jeden Tag trinkst. Er bemerkt, dass Sophia eine Phiole mit dem Wasser in eine Tasche steckt. Am nächsten Morgen wacht er zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder ohne Schmerzen auf.

Er steht in einem dunklen Raum. Zwanzig Schritte entfernt kann er das steife, befestigte Gesicht von Frederick Williams sehen, dass durch eine dünne, glühend violette Linie vor ihm erleuchtet wird. Jedes Mal, wenn er die Linie berührt, verschwindet der Mond am Himmel draußen vor dem Fenster in einem Wimpernschlag. Aaron Siegel ruft nach ihm, doch er schaut nicht weg. Seine Augen sind schwarz.

Er blutet. Er taumelt gegen die Wand, seine Hand umklammert seine Seite. Er schaut hinter sich und sieht einen Mann tot auf dem Boden liegen, seine Hand umklammert ein blutiges, zerschmettertes, goldenes Schwert. In der Ferne klingelt ein Telefon. Er fährt mit einem Aufzug nach unten. Es fühlt sich an, als würde es eine Ewigkeit dauern. Ein Telefon klingelt.


JETZT

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Ein leichter Nieselregen erzeugte Stimmung durch sein Klopfen auf das Dach des Anwesens. Die langen leeren Flure hallten den Schall wie anhaltenden leisen Donner wider. Ein Flügel des Herrenhauses, schon lange niedergebrannt und der Unordnung verfallen, war den Elementen ausgesetzt und seine Einrichtung war durch Plünderer oder Verwitterung ruiniert. In der Tür stand eine Frau mit leicht gebräunter Haut und schwarzem Haar, das an ihr hinunterfiel. Sie starrte unbeweglich über die Trümmer.

Ihre Hand verweilte für einen Moment über einem Bilderrahmen, der auf einem langen, verbrannten Beistelltisch zerbrochen war. Das Glas hatte Blasen geworfen und war gesprungen und der Rahmen war von Ruß geschwärzt, doch die lächelnden Gesichter der Bildmotive schienen noch hindurch. Sie wischte die Asche weg, entfernte die Glasscherben und zog das Foto heraus. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen, der ihre Haut durchnässte.

"Ich weiß, dass ihr da seid", sagte sie leise und zu niemand bestimmtem. "Ihr könnt jetzt rauskommen."

Calvin tauchte langsam aus den Schatten hinter ihr auf und Anthony aus einer anderen Ecke. Sie drehte sich nicht um, um sie zu sehen.

"Ich bin wahrscheinlich nicht die, nach der ihr sucht, hm?", sagte sie und wischte sich die Wange mit der Rückseite ihres Ärmels.

"Nein, bist du nicht", sagte Calvin.

Sie nickte. "Wer auch immer meine …", sie deutete auf sich selbst, "… Position vor mir hatte, verstieß gegen den Konsens." Sie drehte sich zu ihm um, das Bild in ihrer Hand an ihre Brust gepresst. "Also wurde ich zur Neunten Aufseherin."

"Wer bist du?” fragte Anthony.

Sie lächelte. "Irgendwann hieß ich Donna Taylor. Ich war eine …", schniefte sie, "… tut mir leid, ich war eine Geologin. Ich übernahm für, äh … nun, ich weiß nicht für wen, um ehrlich zu sein. Selbstverständlich bot mir die Foundation etwas an, das ich damals dringend brauchte und ich wusste es nicht besser." Sie sah auf das Bild hinab. "Ein ziemlicher Zufall, denkt ihr nicht?"

Sie antworteten nicht.

Sie fuhr fort. "Ich schien es nicht bemerkt zu haben. Ich war froh, angestellt zu sein und die Dinge, die sie mir erzählten, gingen über meine wildesten Träume hinaus. Ich erkannte nicht … es spielt keine Rolle. Es tut mir leid, ich habe die vergangenen Wochen viel darüber nachgedacht. Ich wusste, dass mein bald Tag kommen wird."

"Du weißt, warum ich hier bin", sagte Calvin. Es war keine Frage.

Sie nickte wieder und wischte sich mehr Tränen aus den Augen. "Ja, das … das tue ich, glaube ich. Ich bin nicht deiner Meinung, weißt du, aber ich denke, ich würde es aus deiner Sicht anders sehen." Sie wandte ihre Augen hinter ihn. "Ich dachte, es gäbe mehr von euch."

"Sie folgen einer Spur", sagte Anthony, der langsam seine Waffe zog. "Suchen den Achten."

Sie zuckte leicht zusammen. "Sie werden keine großen Probleme haben."

Er nickte.

Sie schaute auf die Waffe in seiner Hand. "Du musst das nicht tun. Ich möchte nicht … ich möchte nicht, dass es so passiert." Sie griff in ihre Tasche und ließ mit ihrem Handgelenk ein Springmesser daraus hervorschnellen. Sie hielt es vor sich, ihre Augen waren auf den Rand der Klinge fixiert.

"Weißt du, irgendwann dachte ich, dass es dich unsterblich machen würde, einer höheren Sache zu dienen", sagte sie. "Ich dachte, dass … dass ein Leben, das etwas Größerem als dir selbst dient, deinen Tod vielleicht bedeutungsvoller macht." Sie lachte, Tränen rannen ihr Gesicht hinunter. "Es spielt wirklich keine Rolle, wo du endest. Jeder Tod kann bedeutungslos sein. Jedes Leben kann vergeudet werden."

Plötzlich sah sie Calvin an und er spürte eine Intensität durch seinen Körper wogen; so etwas hatte er noch nie zuvor gespürt. Die Waffe in seiner Hand zitterte und die Haare auf seinem Arm stellten sich auf. In seinen Gedanken sah er, wie sich das Herrenhaus um ihn herum wiederherstellte und sich seine Hallen mit Pracht und seine Räume mit Lachen füllten. Er sah einen Vater und seine Töchter, wie sie am See hinter dem Haus angelten und zwei Jungen, die um ein Spielzeug in der Nähe rangen. Er sah Weihnachten und fröhliche Gesichter und lange Nächte, in denen in riesigen Lehrbüchern gelernt wurde. Er sah Donna Taylor und ihre liebenden Eltern, die nach ihrer Promotion einen Fotografen anstrahlten. Dann sah er Feuer, hörte Schreie und dann sah er sie wieder vor sich stehen.

Sie war jetzt älter, bemerkte er. Ihre Haltung war schief und ihr Haar dünner. Mit jedem Atemzug, den sie nahm, konnte er die Jahre sehen, die an ihr nagten. Doch ihre Augen versengten mit ihrer Intensität die Luft um sie herum und er konnte den letzten verzweifelten Weckruf eines ungelebten Lebens sehen. Er fühlte, wie sich Wut und Hass in ihm aufbauten; so sehr, dass er daran ersticken könnte – er wurde vollkommen von ungezügelten Emotionen überwältigt. Er keuchte und stolperte, als sein Blick immer verschwommener wurde, als der Schmerz in seiner Brust seine Haut spalten und seine Venen kollabieren ließ. Sein Herz stöhnte gegen die Belastung, bis es auch Feuer fing und zerplatzte und er war in Flammen gehüllt.

Und dann stand sie wieder vor ihm, ihre Augen dunkel. Calvin schaute an sich herunter und zitterte vor Erleichterung, dass er unversehrt war. Anthony verzog am anderen Ende des Raums das Gesicht. Als Calvin aufblickte, sah er, dass die Aufseherin in einem verbrannten Stuhl zusammengebrochen war und lange Ströme aus Rot über ihre Handgelenke flossen. Sie lächelte schwach, ihr Atem war unregelmäßig und dünn.

Er steckte seine Waffe in das Holster und ging langsam auf sie zu, vorsichtig, um das blutbefleckte Messer auf dem Boden zu meiden. Als er näherkam, hob sie einen blassen Arm zu ihm und gab ihm das Foto aus ihrer Hand. Er nahm es und sie entspannte sich.

"Warum?", fragte Calvin.

Sie zuckte mit den Schultern. "Es spielt keine Rolle mehr." Sie hustete und Blut pulsierte aus ihren Adern. Ihre Augen, die nun verschwommen waren und Mühe hatten, sich zu konzentrieren, trafen seine. "Hast du Angst vor dem Tod?"

Er hielt inne. "Nein."

Sie grinste ihn an, ihre Augen schließend, als ihr Bewusstsein zu schwinden begann. Sie legte eine Hand auf sein Gesicht, Tröpfchen aus Blut verschmierten seine Wange.

"Du lügst", sagte sie. Und dann starb sie.




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